"Du bist einer meiner großen Schätze."
Hans Henny Jahnn gehört zu den wichtigsten Schriftstellern des 20. Jahrhunderts und sicher auch zu den eigensinnigsten. 1926 heiratet er Ellinor Philips, eine Verbindung, die von tiefer Zuneigung getragen ist. Zeitweise treten andere Geliebte hinzu, doch die Nähe zueinander wird eine der wenigen Konstanten im turbulenten Leben der beiden.
Durch die bislang unbekannten Briefe aus dem Nachlass kann diese ungewöhnliche Ehe erstmals in all ihren Facetten nachvollzogen werden. Für dieses Paar scheint fast alles möglich: symbiotische Nähe genauso wie extreme Distanz und Beziehung zu Dritten, tabulose Freizügigkeit genauso wie Treue und Fürsorge.
In den vielen Jahren bis zu Jahnns Tod im November 1959 verkommt die Beziehung mit ihren Höhen und Tiefen niemals zum Zweckbündnis: Ellinor und Hans Henny Jahnn bleiben einander ungeheuer wichtig, in den wilden und krisengeschüttelten Spätzeit der Weimarer Republik, auf der Flucht vor dem Nationalsozialismus, in der dänischen Emigration, den Wirren des Zweiten Weltkriegs und auch nach der gemeinsamen Rückkehr in die nordddeutsche Heimat.
Hans Henny Jahnn gehört zu den wichtigsten Schriftstellern des 20. Jahrhunderts und sicher auch zu den eigensinnigsten. 1926 heiratet er Ellinor Philips, eine Verbindung, die von tiefer Zuneigung getragen ist. Zeitweise treten andere Geliebte hinzu, doch die Nähe zueinander wird eine der wenigen Konstanten im turbulenten Leben der beiden.
Durch die bislang unbekannten Briefe aus dem Nachlass kann diese ungewöhnliche Ehe erstmals in all ihren Facetten nachvollzogen werden. Für dieses Paar scheint fast alles möglich: symbiotische Nähe genauso wie extreme Distanz und Beziehung zu Dritten, tabulose Freizügigkeit genauso wie Treue und Fürsorge.
In den vielen Jahren bis zu Jahnns Tod im November 1959 verkommt die Beziehung mit ihren Höhen und Tiefen niemals zum Zweckbündnis: Ellinor und Hans Henny Jahnn bleiben einander ungeheuer wichtig, in den wilden und krisengeschüttelten Spätzeit der Weimarer Republik, auf der Flucht vor dem Nationalsozialismus, in der dänischen Emigration, den Wirren des Zweiten Weltkriegs und auch nach der gemeinsamen Rückkehr in die nordddeutsche Heimat.
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Ihr Ziel, aus einem Teil der Briefe Hans Henny Jahnns an seine Frau Ellinor ein "Lesebuch" zum Einstieg in sein Leben und Werk zusammenzustellen, ist Jan Bürger und Sandra Hiemer schon mit dem Titel missglückt, meint Insa Wilke. Denn der Ausdruck werde von ihm auch nur zitiert, um seine eigene, durchaus pathetische, existenzielle Sicht auf die Liebe von anderen abzugrenzen. Auch bezüglich der Gerüchte über ihn und seinen späteren Schwiegersohn Yngve Jan Trede, der große Teile der Korrespondenz seiner Erwähnung wegen sperren ließ, kann die Auswahl keine Klarheit bringen, meint die Rezensentin. Es werde nicht einmal geklärt, um welche Gerüchte es konkret gehe und trotzdem suggeriert, dass Jahnns Briefe den Charakter einer Beichte haben, kritisiert sie.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 20.03.2015Die Seele und das Blut
Lange war die Familienkorrespondenz von Hans Henny Jahnn gesperrt –
die Briefe an seine Frau Ellinor zeigen: Man muss ihn künftig anders lesen
VON INSA WILKE
Du darfst mich töten, wenn du mich nur liebst.“ Diesen Satz aus Hans Henny Jahnns Medea-Bearbeitung zitiert der junge Josef Winkler 1982 in seinem Nachwort zu Jahnns Roman „Nacht aus Blei“. Am Ende überschreibt er den Satz von Jahnn so: „Du darfst mich nicht töten, wenn du mich auch liebst.“ Im Spannungsfeld dieser beiden Sätze lassen sich Gründe dafür finden, dass Hans Henny Jahnn für viele Autoren ein geheimes Idol ist. Nicht allein sein Stil – man kann ihn zwischen Kafka und Genet einordnen – provoziert die Fortschreibungen der Jüngeren von Hubert Fichte über Josef Winkler bis hin zu Autoren wie Juan Guse, sondern auch dieses düstere, zuweilen rätselhafte, radikale Lebenspathos.
Wie groß muss die Enttäuschung bei seinen Bewunderern also gewesen sein, als nun eine Auswahl von Jahnns Briefen an seine Frau Ellinor unter dem Titel „Liebe ist Quatsch“ erschien. In der Tat, wie passt das zusammen? Ganz einfach: Der coole Satz, der dem Verlag mit Blick auf den Buchhandel offenbar gut gefiel, stammt nicht von Jahnn. Der zitiert ihn nur; in der durchaus komplizierten Passage des Briefes vom 2. Mai 1935 setzt er sich mit dem Gegensatz zwischen den verehrten „Erfahrenen“, für die Liebe Quatsch ist, und seiner eigenen „Praxis“ auseinander. Wer Jahnn liest, weiß, dass er die Liebe und ihre Kehrseite, die existenzielle Verlassenheit, bis hin zur Vereinigung im Blutopfer feiert. Und in einem späten Brief, aus dem Jahr 1958, äußert er die Hoffnung, „daß die Liebe doch etwas bewirkt, wenn auch die Verblendung durch Angst und Ungewissheit über uns zusammenzuschlagen drohen.“
Eine so gravierende Ungenauigkeit schon im Titel sabotiert das Ziel der Herausgeber Jan Bürger und Sandra Hiemer, „ein ‚Lesebuch‘ zusammenzustellen, das auch zur Einführung in Jahnns Leben und Gedankenwelt dienen kann“. Aber von vorn: Hans Henny Jahnn hat viele Briefe geschrieben, was sich leicht durch sein von den Schwierigkeiten der Kriegs- und Nachkriegszeit bestimmtes Leben, aber auch durch das Ringen um neue Lebensformen in der kunstreligiösen Ugrino-Gemeinschaft erklären lässt. Er war viel unterwegs, ein guter Teil der Korrespondenz war nötig, um das Leben seiner Familie auf Bornholm zu organisieren, insbesondere in der Nachkriegszeit, in der er als Emigrant um Anerkennung kämpfen musste. An Ellinor Jahnn schrieb er: „Alles zerfließt, nirgends ist Sammlung.“ Seine Briefe dienten auch der Selbstvergewisserung und waren, wie die Adressatin, sichtlich Fixpunkt und Halt in einer ungewissen Zeit, in der er seinen Platz nicht mehr erkennen konnte. „Es bildet sich so wenig Sagbares in mir. Meine Empfindungen sind mit Schlaf überzogen. Ich möchte euch umarmen können. Ich möchte einmal ohne Sorge sein“, heißt es 1950.
Mehr als 15 000 Briefe verzeichnete der Nachlass schon 1994, als im Rahmen der Hamburger Ausgabe die sorgfältigen Brief-Editionen erschienen, zu deren Herausgeberkreis Jan Bürger und Sandra Hiemer gehören. Damals konnte ein beträchtlicher Teil der Korrespondenz aus den Jahren 1946 bis 1950 nicht veröffentlicht werden, weil Jahnns späterer Schwiegersohn, der Komponist Yngve Jan Trede, auch jene Briefe sperren ließ, in denen von ihm nur die Rede war. 2010, kurz vor Tredes Tod, besuchte Jan Bürger ihn und Jahnns Tochter in Dänemark und entdeckte weitere Briefe aus der Familienkorrespondenz. Ihre wissenschaftliche Aufarbeitung wird noch viel Zeit in Anspruch nehmen. Deswegen entstand die Idee, eine Auswahl schon vorab zu veröffentlichen und als „Lesebuch“ einem nicht nur akademischen Publikum zugänglich zu machen.
Ehe- und Liebesbriefe eignen sich dafür besonders. Allerdings ist in den „Briefen an Ellinor“ nicht Jahnns Adressatin die zentrale Figur, sondern Yngve Jan Trede. „Daß der Blitz Yngve in mich niederschlug – es ist ein salziger, brenzlicher Geschmack“, schrieb Jahnn am 12. März 1950 aus Hamburg-Blankenese. Vier Jahre zuvor meldete er die erste Begegnung mit dem damals fast Dreizehnjährigen als das „alles überschattende Ereignis“ nach Bornholm. Befremdlich liest sich der Widerschein des Verhältnisses zwischen dem Jungen und dem 56-Jährigen in Jahnns Briefen. Gar nicht mal wegen der homoerotischen Anklänge, die zur Forderungen nach einer freieren Erotik im Umfeld der lebensreformerischen Ugrino-Gemeinschaft passen. Sondern weil Jahnn so utilitaristisch über den jungen Trede schreibt: „Um sich voll entfalten zu können braucht seine Seele Blut, das Blut des fürchterlichen Daseins, das nur durch die gewalttätige Liebe süßer und milder wird.“ Oder: „Ich hatte die Gelegenheit, an mir seine Hormone mit denen eines etwa gleichaltrigen Flegels zu vergleichen. Ich habe begriffen, ich weiß nun, daß sich ein männliches Wesen haarsträubend von einem Schaffenden unterscheidet. (. . .) Wir, die Wenigen, stehen sehr allein.“ Jahnn sah in Trede das Genie, von dem er träumte, sein jüngeres Ich, wie es in „Nacht aus Blei“ erscheint. „Die Jüngeren sind wieder besserer Stoff“, schreibt er 1948.
Es wirkt schockierend, wie er seiner Frau minutiös über Tredes Entwicklung berichtet, als sei dieser ein „Projekt“ und keine geliebte und geachtete Person. Kein Wunder, dass diese Briefe bisher nicht freigegeben wurden, zumal sie das tatsächliche Verhältnis zwischen den beiden eher im Dunkeln lassen. Trotz des hilfreichen und ausführlichen Kommentars tragen die Herausgeber nicht ausreichend zur Aufklärung bei. Sie schreiben im Vorwort zwar, Jahnn erscheine in seinen Briefen als ein Autor, „der sich kaum in Einklang bringen lässt mit jenen Gerüchten, die allzu lange über ihn verbreitet wurden“, lösen aber weder auf, um welche Gerüchte es sich handelt, noch, wie sie zu bewerten sind. Im Gegenteil: Wenige Zeilen später werden Jahnns Briefe als „Beichte“ an Ellinor bezeichnet. Wo eine Beichte stattfindet, gibt es aber auch etwas zu beichten, oder? Aus den Briefen allein erklären sich diese Umstände nicht; und wie eine Beichte wirken sie eigentlich nicht.
Nun sollen diese Briefe aber ja auch etwas über das Verhältnis zu Jahnns Frau erzählen. Doch auch hier bleibt in dieser Edition vieles unklar. Das liegt vor allem daran, dass, wie Bürger auf Nachfrage erklärt, nur wenige Briefe von Ellinor Jahnn erhalten sind. Ihre Stimme wird deswegen nur in einigen wenigen Zitaten in den Anmerkungen laut. Die Problematik einseitiger Brief-Editionen ist, dass sie ein unvollständiges, im schlimmsten Fall verzerrtes Bild entwerfen und daher kommentarbedürftig sind. Die Herausgeber schreiben im Vorwort lediglich, dass ein gleichberechtigtes Verhältnis zwischen Ellinor und Hans Henny Jahnn, die eine offene Beziehung führten, ein „hehrer Wunsch“ bleiben musste. Und: Ellinor Jahnn habe unter dem Patriarchat ihres Mannes gestanden. Man würde das gern überprüfen, denn Ellinor Jahnns Stimme liest sich in den wenigen Ausschnitten ihrer Briefe nicht wie die einer unterdrückten Frau, sondern eher wie die einer Partnerin, die mit ihrem Mann um die Praxis eines gemeinsamen Ideals von Zusammenleben ringt.
Was also leistet diese Ausgabe für die Wahrnehmung Hans Henny Jahnns? Man staunt über seinen beschränkten, egozentrischen Blick, der wie manisch um alles Körperliche kreist. Man wundert sich, dass die Verbrechen des Nationalsozialismus nie zur Sprache kommen. Man fragt sich am Ende, ob es angesichts dieser Briefe, die bei Weitem nicht die literarische Kraft und Intelligenz der Korrespondenz mancher Zeitgenossen erreichen, nicht einer Relektüre des immer wieder als genialisch verehrten literarischen Werkes bedarf. Und man ahnt schließlich, dass diese Briefe einen Nukleus bergen, von dem aus Hans Henny Jahnns Leben und Werk trotz aller Vitalität und berserkerhaften Widerstandskraft zu verstehen sind: „Ich sehe immer wieder, niemand kann sich häuten. Alle sind unglücklich auf ihre Weise.“
„Alles zerfließt,
nirgends ist Sammlung.“
Hans Henny Jahnn (1894-1959), Autor und Orgelbauer im Jahr 1931.
Foto: dpd
Hans Henny Jahnn:
Liebe ist Quatsch. Briefe an Ellinor. Herausgegeben
von Jan Bürger und Sandra Hiemer. Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg 2014. 288 Seiten, 24 Euro. E-Book 19,99 Euro.
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Lange war die Familienkorrespondenz von Hans Henny Jahnn gesperrt –
die Briefe an seine Frau Ellinor zeigen: Man muss ihn künftig anders lesen
VON INSA WILKE
Du darfst mich töten, wenn du mich nur liebst.“ Diesen Satz aus Hans Henny Jahnns Medea-Bearbeitung zitiert der junge Josef Winkler 1982 in seinem Nachwort zu Jahnns Roman „Nacht aus Blei“. Am Ende überschreibt er den Satz von Jahnn so: „Du darfst mich nicht töten, wenn du mich auch liebst.“ Im Spannungsfeld dieser beiden Sätze lassen sich Gründe dafür finden, dass Hans Henny Jahnn für viele Autoren ein geheimes Idol ist. Nicht allein sein Stil – man kann ihn zwischen Kafka und Genet einordnen – provoziert die Fortschreibungen der Jüngeren von Hubert Fichte über Josef Winkler bis hin zu Autoren wie Juan Guse, sondern auch dieses düstere, zuweilen rätselhafte, radikale Lebenspathos.
Wie groß muss die Enttäuschung bei seinen Bewunderern also gewesen sein, als nun eine Auswahl von Jahnns Briefen an seine Frau Ellinor unter dem Titel „Liebe ist Quatsch“ erschien. In der Tat, wie passt das zusammen? Ganz einfach: Der coole Satz, der dem Verlag mit Blick auf den Buchhandel offenbar gut gefiel, stammt nicht von Jahnn. Der zitiert ihn nur; in der durchaus komplizierten Passage des Briefes vom 2. Mai 1935 setzt er sich mit dem Gegensatz zwischen den verehrten „Erfahrenen“, für die Liebe Quatsch ist, und seiner eigenen „Praxis“ auseinander. Wer Jahnn liest, weiß, dass er die Liebe und ihre Kehrseite, die existenzielle Verlassenheit, bis hin zur Vereinigung im Blutopfer feiert. Und in einem späten Brief, aus dem Jahr 1958, äußert er die Hoffnung, „daß die Liebe doch etwas bewirkt, wenn auch die Verblendung durch Angst und Ungewissheit über uns zusammenzuschlagen drohen.“
Eine so gravierende Ungenauigkeit schon im Titel sabotiert das Ziel der Herausgeber Jan Bürger und Sandra Hiemer, „ein ‚Lesebuch‘ zusammenzustellen, das auch zur Einführung in Jahnns Leben und Gedankenwelt dienen kann“. Aber von vorn: Hans Henny Jahnn hat viele Briefe geschrieben, was sich leicht durch sein von den Schwierigkeiten der Kriegs- und Nachkriegszeit bestimmtes Leben, aber auch durch das Ringen um neue Lebensformen in der kunstreligiösen Ugrino-Gemeinschaft erklären lässt. Er war viel unterwegs, ein guter Teil der Korrespondenz war nötig, um das Leben seiner Familie auf Bornholm zu organisieren, insbesondere in der Nachkriegszeit, in der er als Emigrant um Anerkennung kämpfen musste. An Ellinor Jahnn schrieb er: „Alles zerfließt, nirgends ist Sammlung.“ Seine Briefe dienten auch der Selbstvergewisserung und waren, wie die Adressatin, sichtlich Fixpunkt und Halt in einer ungewissen Zeit, in der er seinen Platz nicht mehr erkennen konnte. „Es bildet sich so wenig Sagbares in mir. Meine Empfindungen sind mit Schlaf überzogen. Ich möchte euch umarmen können. Ich möchte einmal ohne Sorge sein“, heißt es 1950.
Mehr als 15 000 Briefe verzeichnete der Nachlass schon 1994, als im Rahmen der Hamburger Ausgabe die sorgfältigen Brief-Editionen erschienen, zu deren Herausgeberkreis Jan Bürger und Sandra Hiemer gehören. Damals konnte ein beträchtlicher Teil der Korrespondenz aus den Jahren 1946 bis 1950 nicht veröffentlicht werden, weil Jahnns späterer Schwiegersohn, der Komponist Yngve Jan Trede, auch jene Briefe sperren ließ, in denen von ihm nur die Rede war. 2010, kurz vor Tredes Tod, besuchte Jan Bürger ihn und Jahnns Tochter in Dänemark und entdeckte weitere Briefe aus der Familienkorrespondenz. Ihre wissenschaftliche Aufarbeitung wird noch viel Zeit in Anspruch nehmen. Deswegen entstand die Idee, eine Auswahl schon vorab zu veröffentlichen und als „Lesebuch“ einem nicht nur akademischen Publikum zugänglich zu machen.
Ehe- und Liebesbriefe eignen sich dafür besonders. Allerdings ist in den „Briefen an Ellinor“ nicht Jahnns Adressatin die zentrale Figur, sondern Yngve Jan Trede. „Daß der Blitz Yngve in mich niederschlug – es ist ein salziger, brenzlicher Geschmack“, schrieb Jahnn am 12. März 1950 aus Hamburg-Blankenese. Vier Jahre zuvor meldete er die erste Begegnung mit dem damals fast Dreizehnjährigen als das „alles überschattende Ereignis“ nach Bornholm. Befremdlich liest sich der Widerschein des Verhältnisses zwischen dem Jungen und dem 56-Jährigen in Jahnns Briefen. Gar nicht mal wegen der homoerotischen Anklänge, die zur Forderungen nach einer freieren Erotik im Umfeld der lebensreformerischen Ugrino-Gemeinschaft passen. Sondern weil Jahnn so utilitaristisch über den jungen Trede schreibt: „Um sich voll entfalten zu können braucht seine Seele Blut, das Blut des fürchterlichen Daseins, das nur durch die gewalttätige Liebe süßer und milder wird.“ Oder: „Ich hatte die Gelegenheit, an mir seine Hormone mit denen eines etwa gleichaltrigen Flegels zu vergleichen. Ich habe begriffen, ich weiß nun, daß sich ein männliches Wesen haarsträubend von einem Schaffenden unterscheidet. (. . .) Wir, die Wenigen, stehen sehr allein.“ Jahnn sah in Trede das Genie, von dem er träumte, sein jüngeres Ich, wie es in „Nacht aus Blei“ erscheint. „Die Jüngeren sind wieder besserer Stoff“, schreibt er 1948.
Es wirkt schockierend, wie er seiner Frau minutiös über Tredes Entwicklung berichtet, als sei dieser ein „Projekt“ und keine geliebte und geachtete Person. Kein Wunder, dass diese Briefe bisher nicht freigegeben wurden, zumal sie das tatsächliche Verhältnis zwischen den beiden eher im Dunkeln lassen. Trotz des hilfreichen und ausführlichen Kommentars tragen die Herausgeber nicht ausreichend zur Aufklärung bei. Sie schreiben im Vorwort zwar, Jahnn erscheine in seinen Briefen als ein Autor, „der sich kaum in Einklang bringen lässt mit jenen Gerüchten, die allzu lange über ihn verbreitet wurden“, lösen aber weder auf, um welche Gerüchte es sich handelt, noch, wie sie zu bewerten sind. Im Gegenteil: Wenige Zeilen später werden Jahnns Briefe als „Beichte“ an Ellinor bezeichnet. Wo eine Beichte stattfindet, gibt es aber auch etwas zu beichten, oder? Aus den Briefen allein erklären sich diese Umstände nicht; und wie eine Beichte wirken sie eigentlich nicht.
Nun sollen diese Briefe aber ja auch etwas über das Verhältnis zu Jahnns Frau erzählen. Doch auch hier bleibt in dieser Edition vieles unklar. Das liegt vor allem daran, dass, wie Bürger auf Nachfrage erklärt, nur wenige Briefe von Ellinor Jahnn erhalten sind. Ihre Stimme wird deswegen nur in einigen wenigen Zitaten in den Anmerkungen laut. Die Problematik einseitiger Brief-Editionen ist, dass sie ein unvollständiges, im schlimmsten Fall verzerrtes Bild entwerfen und daher kommentarbedürftig sind. Die Herausgeber schreiben im Vorwort lediglich, dass ein gleichberechtigtes Verhältnis zwischen Ellinor und Hans Henny Jahnn, die eine offene Beziehung führten, ein „hehrer Wunsch“ bleiben musste. Und: Ellinor Jahnn habe unter dem Patriarchat ihres Mannes gestanden. Man würde das gern überprüfen, denn Ellinor Jahnns Stimme liest sich in den wenigen Ausschnitten ihrer Briefe nicht wie die einer unterdrückten Frau, sondern eher wie die einer Partnerin, die mit ihrem Mann um die Praxis eines gemeinsamen Ideals von Zusammenleben ringt.
Was also leistet diese Ausgabe für die Wahrnehmung Hans Henny Jahnns? Man staunt über seinen beschränkten, egozentrischen Blick, der wie manisch um alles Körperliche kreist. Man wundert sich, dass die Verbrechen des Nationalsozialismus nie zur Sprache kommen. Man fragt sich am Ende, ob es angesichts dieser Briefe, die bei Weitem nicht die literarische Kraft und Intelligenz der Korrespondenz mancher Zeitgenossen erreichen, nicht einer Relektüre des immer wieder als genialisch verehrten literarischen Werkes bedarf. Und man ahnt schließlich, dass diese Briefe einen Nukleus bergen, von dem aus Hans Henny Jahnns Leben und Werk trotz aller Vitalität und berserkerhaften Widerstandskraft zu verstehen sind: „Ich sehe immer wieder, niemand kann sich häuten. Alle sind unglücklich auf ihre Weise.“
„Alles zerfließt,
nirgends ist Sammlung.“
Hans Henny Jahnn (1894-1959), Autor und Orgelbauer im Jahr 1931.
Foto: dpd
Hans Henny Jahnn:
Liebe ist Quatsch. Briefe an Ellinor. Herausgegeben
von Jan Bürger und Sandra Hiemer. Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg 2014. 288 Seiten, 24 Euro. E-Book 19,99 Euro.
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