Wieso verlieben sich die Poppers immer in schöne, starke Frauen, die ihre Liebe nicht erwidern? Drei Generationen einer jüdischen Familie, die sich für besonders aufgeklärt hält, und doch nicht gefeit ist gegen Fluch und Segen familiärer Liebe. Alexanders Großmutter Berenice wäre lieber Tänzerin geworden, statt nur Gattin des sentimentalen Seymour. Seine Mutter flieht mit Kind und Kegel aus dem Wohlstandsgefängnis eines kalten Mannes. Alexander selbst wird mit Mitte vierzig Vater und schafft es nicht einmal, eine wilde Ehe zu führen. Mit großer Intensität, Weisheit, Poesie und Komik entfaltet Peter Orner das Porträt einer Familie im Amerika des 20. Jahrhunderts, deren Figuren immerfort schwanken zwischen Liebe und Scham und Liebe.
Perlentaucher-Notiz zur WELT-Rezension
Dass ein Chicago-Roman nicht ohne Saul Bellow zu machen ist, weiß Wieland Freund. Wenn Peter Orner in seinem Buch also das düstere Chicago aufruft, das des Rat Pack und Sammy Davis, ahnt er schon den umfassenden Zeit- und Familienroman. Doch von wegen! Der Autor schert sich nicht um die Great American Novel und weite Spannungsbögen, staunt der Rezensent. Stattdessen bevorzugt er die kleine Form, bringt einen Erzähler von proustscher Natur ins Spiel, meint Freund, und bietet nur Erinnerungshäppchen. Zum Glück steht der Rezensent solchem Impressionismus aufgeschlossen gegenüber.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.04.2015Moderner scheitern
Peter Orners Chicagoer Liebeskummer-Roman
In manchen Familien vererbt man einander die großen Nasen, in anderen das musikalische Gehör. Die Männer der Familie Popper hingegen eint dieses: Sie verlieben sich in Frauen, die ihnen allenfalls freundliches Interesse entgegenbringen. Beziehungen gehen die Angebeteten trotzdem mit den Poppers ein, auch Kinder bekommen die Paare. Doch das Familienleben ist Fassade.
Zwei Hauptrollen gibt es in "Liebe und Scham und Liebe" von Peter Orner. Die eine spielt der Kummer über unerwiderte Gefühle, die andere der Schauplatz Chicago. Die Figuren, also die Familie Popper und ihr Umfeld, haben vor allem die Aufgabe, diese Hauptrollen von allen Seiten zu beleuchten. So bildet der Roman gescheiterte Beziehungen im Wandel der Zeit ab: von der Großmutter Bernice, die bis zu dessen Tod bei ihrem Mann ausharrt, über die Mutter Miriam, die ihren Mann verlässt, bis zur Freundin des jüngsten Sohnes Alexander, die sich schon trennt, als sie mit dem gemeinsamen Baby schwanger ist. Lediglich Alexanders älterer Bruder Leo entgeht dem Familienfluch: Er lebt glücklich mit seinem Partner Ahmed.
Chicago ist die leidenschaftlich geliebte Heimat der Poppers. Dass ihre Vorfahren in einem polnischen Schtetl lebten, vergisst die Familie nicht - und ist froh und dankbar, das hinter sich gelassen zu haben. Das Chicago der Poppers besteht aus einem Richter, der beste Kontakte zur Mafia hat und die jüdischen Sprösslinge des Viertels einzeln zum Gespräch antreten lässt, was als viel wichtigerer Initiationsritus gilt als die Barmizwa. Aus den Entertainern des legendären "Rat Pack", vor allem Sammy Davis Jr. und Dean Martin, die sogar einmal bei den Großeltern auf der Couch sitzen. Und aus der überaus anstrengenden Familie Rosencrantz, welche die Kinder irritiert betrachten. Trotz ihrer engen Bindung zur Stadt ziehen die Poppers in den Vorort Highland Park, wie wohlhabende Chicagoer Juden das eben zu tun pflegen, und trauern in der gepflegten Langeweile jahrelang der aufregenden Stadt hinterher.
Die Liebesgeschichten zwischen den Paaren der Familie Popper sind nicht stringent erzählt. Eher ist es, als laufe man über einen Friedhof: Dieser Grabstein berichtet von den ersten Streiten zwischen Alexander und seiner Freundin Kat, der nächste verrät, dass Miriam mit dem Vizepräsidenten Walter Mondale schläft, ein anderer bildet die Briefe von Großvater Seymour ab, der in den Pazifikkrieg eingetreten ist und nur dann und wann Antwort von Bernice erhält. Etliche Grabsteine weiter erfährt der Leser, dass Bernice in dieser Zeit eine Liebschaft mit einem Großmaul pflegt, für das sie Seymour nur deshalb nicht verlässt, weil man niemanden verlassen kann, der nicht da ist. Unter jedem Grabstein liegt eine zerstörte Hoffnung auf Glück.
Reichlich skurril ist vieles bei Peter Orner, aber für Witz ist wenig Platz. Darum mutet es seltsam an, dass sich in der Mitte des Buches der längliche Dialog zweier Wachteln findet: "Wach? Wachtel? - Wachtel, Wachtel, Wachtel. - Wach, Tell? - Wachtel!" - und so fort. Dieses Herumgewachtel ist allerdings schon der einzige stilistische Ausreißer - leider. Denn "Liebe und Scham und Liebe" rührt, wie der redundante Titel bereits vermuten lässt, inhaltlich immer wieder dieselbe Suppe um. Zumindest sprachlich hätte es etwas mehr Abwechslung sein dürfen. So bleibt der Roman ein düsteres Schauspiel ohne Glanzpunkte.
JULIA BÄHR
Peter Orner: "Liebe und Scham und Liebe". Roman.
Aus dem Amerikanischen von Henning Ahrens. Carl Hanser Verlag, München 2014. 396 S., geb., 21,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Peter Orners Chicagoer Liebeskummer-Roman
In manchen Familien vererbt man einander die großen Nasen, in anderen das musikalische Gehör. Die Männer der Familie Popper hingegen eint dieses: Sie verlieben sich in Frauen, die ihnen allenfalls freundliches Interesse entgegenbringen. Beziehungen gehen die Angebeteten trotzdem mit den Poppers ein, auch Kinder bekommen die Paare. Doch das Familienleben ist Fassade.
Zwei Hauptrollen gibt es in "Liebe und Scham und Liebe" von Peter Orner. Die eine spielt der Kummer über unerwiderte Gefühle, die andere der Schauplatz Chicago. Die Figuren, also die Familie Popper und ihr Umfeld, haben vor allem die Aufgabe, diese Hauptrollen von allen Seiten zu beleuchten. So bildet der Roman gescheiterte Beziehungen im Wandel der Zeit ab: von der Großmutter Bernice, die bis zu dessen Tod bei ihrem Mann ausharrt, über die Mutter Miriam, die ihren Mann verlässt, bis zur Freundin des jüngsten Sohnes Alexander, die sich schon trennt, als sie mit dem gemeinsamen Baby schwanger ist. Lediglich Alexanders älterer Bruder Leo entgeht dem Familienfluch: Er lebt glücklich mit seinem Partner Ahmed.
Chicago ist die leidenschaftlich geliebte Heimat der Poppers. Dass ihre Vorfahren in einem polnischen Schtetl lebten, vergisst die Familie nicht - und ist froh und dankbar, das hinter sich gelassen zu haben. Das Chicago der Poppers besteht aus einem Richter, der beste Kontakte zur Mafia hat und die jüdischen Sprösslinge des Viertels einzeln zum Gespräch antreten lässt, was als viel wichtigerer Initiationsritus gilt als die Barmizwa. Aus den Entertainern des legendären "Rat Pack", vor allem Sammy Davis Jr. und Dean Martin, die sogar einmal bei den Großeltern auf der Couch sitzen. Und aus der überaus anstrengenden Familie Rosencrantz, welche die Kinder irritiert betrachten. Trotz ihrer engen Bindung zur Stadt ziehen die Poppers in den Vorort Highland Park, wie wohlhabende Chicagoer Juden das eben zu tun pflegen, und trauern in der gepflegten Langeweile jahrelang der aufregenden Stadt hinterher.
Die Liebesgeschichten zwischen den Paaren der Familie Popper sind nicht stringent erzählt. Eher ist es, als laufe man über einen Friedhof: Dieser Grabstein berichtet von den ersten Streiten zwischen Alexander und seiner Freundin Kat, der nächste verrät, dass Miriam mit dem Vizepräsidenten Walter Mondale schläft, ein anderer bildet die Briefe von Großvater Seymour ab, der in den Pazifikkrieg eingetreten ist und nur dann und wann Antwort von Bernice erhält. Etliche Grabsteine weiter erfährt der Leser, dass Bernice in dieser Zeit eine Liebschaft mit einem Großmaul pflegt, für das sie Seymour nur deshalb nicht verlässt, weil man niemanden verlassen kann, der nicht da ist. Unter jedem Grabstein liegt eine zerstörte Hoffnung auf Glück.
Reichlich skurril ist vieles bei Peter Orner, aber für Witz ist wenig Platz. Darum mutet es seltsam an, dass sich in der Mitte des Buches der längliche Dialog zweier Wachteln findet: "Wach? Wachtel? - Wachtel, Wachtel, Wachtel. - Wach, Tell? - Wachtel!" - und so fort. Dieses Herumgewachtel ist allerdings schon der einzige stilistische Ausreißer - leider. Denn "Liebe und Scham und Liebe" rührt, wie der redundante Titel bereits vermuten lässt, inhaltlich immer wieder dieselbe Suppe um. Zumindest sprachlich hätte es etwas mehr Abwechslung sein dürfen. So bleibt der Roman ein düsteres Schauspiel ohne Glanzpunkte.
JULIA BÄHR
Peter Orner: "Liebe und Scham und Liebe". Roman.
Aus dem Amerikanischen von Henning Ahrens. Carl Hanser Verlag, München 2014. 396 S., geb., 21,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Peter Orners Roman ist ein vielstimmiges und wortgewaltiges Werk." Johannes Kaiser, Deutschlandfunk, 08.06.2015
"Anrührend, komisch, chaotisch." Thomas Andre, Spiegel Online, 14.08.14
"Familienleben bleibt endlos kompliziert. Aber es ist voll von traurig-komischen, liebenswerten kleinen Geschichten, denen man gern zuhört. Von diesen erzählt uns Peter Orner viel." Bernadette Conrad, St. Galler Tagblatt, 01.10.14
"Unaufdringlich, leicht und mit jeder Menge Selbstironie." Welf Grombacher, Jüdische Allgemeine 04.09.14
"In Peter Orners lakonischem, sehr verknapptem Erzählen ist immer genausoviel Witz verpackt wie Schwermut."
Bernadette Conrad, Wiener Zeitung, 13.12.14
"Anrührend, komisch, chaotisch." Thomas Andre, Spiegel Online, 14.08.14
"Familienleben bleibt endlos kompliziert. Aber es ist voll von traurig-komischen, liebenswerten kleinen Geschichten, denen man gern zuhört. Von diesen erzählt uns Peter Orner viel." Bernadette Conrad, St. Galler Tagblatt, 01.10.14
"Unaufdringlich, leicht und mit jeder Menge Selbstironie." Welf Grombacher, Jüdische Allgemeine 04.09.14
"In Peter Orners lakonischem, sehr verknapptem Erzählen ist immer genausoviel Witz verpackt wie Schwermut."
Bernadette Conrad, Wiener Zeitung, 13.12.14