Individuen kann man bekanntlich daran erkennen, daß sie einen Knick in der Optik haben. Sie gewinnen allen öffentlich zugänglichen Dingen und Ereignissen einen zweiten Sinn ab, der zunächst einmal nur für sie selbst zugänglich ist. In dieser höchst persönlichen Optik mag dann etwa als Langsamkeit eines Mitmenschen erlebt werden, was dieser der Ungeduld des Erlebenden selbst zurechnen würde. Besonders konsensfähig ist diese individualisierte Art des Erlebens also nicht. Immerhin kann der Fall eintreten, daß ein anderer, statt einfach nur mit dem Kopf zu schütteln, sich in meine Weltsicht hineinversetzt und dann sogar anfängt, sie durch eigenes Handeln zu bestätigen: Statt mir Ungeduld vorzuwerfen, handelt er selbst etwas schneller. Für die anderen ist mein Erleben dann immer noch unmaßgeblich, aber für den anderen hat es offenbar die Kraft eines starken Motivs. So wird es mir leichter gemacht, der zu sein, der ich bin.In dieser Bestätigung fremden Erlebens durch eigenes Handeln sieht Niklas Luhmann die kommunikative Grundlage dessen, was wir Liebe nennen. Sein 1982 erschienener Klassiker Liebe als Passion hatte vor allem die Ideengeschichte des Themas vor Augen. Der nun edierte Aufsatz, geschrieben 1969 als Vorlage zu einem der ersten Bielefelder Seminare Luhmanns, behandelt die Liebe ohne den Apparat des Gelehrten. Er bietet eine direkte und pointierte Darstellung der bis heute einzigen soziologischen Theorie der Liebe, die wir haben.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.10.2008Pardon, dass wir so einfältig sind
Was weiß man, wenn man all das weiß, was Niklas Luhmann in seinem frühen Traktat über die Liebe darlegt? Es wurde soeben aus dem Nachlass publiziert.
Kann man jemandem das Lieben ausreden? Genügt der Hinweis auf das - historische, soziologische - Gewordensein des Gefühls, um es als "uneigentlich" zu "durchschauen": wahlweise als Selbsttäuschung, Wahn oder Illusion? Ist Liebe gegen ihre Erklärung immun? Kann sie durch das, was man ihre Erklärung nennt, nur verfehlt werden? Können noch so reflexiv Liebende über einen, der ihr Gefühl aufdröseln will, nur verlegen lachen und es sich weiter gemütlich machen?
Es ist ein Hochgenuss, Niklas Luhmanns kleines Bändchen über die Liebe zu lesen, ein Manuskript für ein Seminar von 1969, das jetzt im Nachlass publiziert wurde. In Händen hält man einen schönen Gegenbeleg zu der Ansicht, Luhmanns Sachen seien doch nur selbstgenügsame Theorie, mit schmächtiger empirischer Basis und entmoralisierender Allüre. Die Virtuosität, mit der Luhmann in seinem Liebes-Traktat die Theorie als prächtiges Kleid für lebensweise Assoziationen und bonmots schneidert, macht ihm keiner nach. Gerade in der überbordenden theoretischen Architektur, die er selbst um aufreizend naheliegende Befunde herum baut, gibt sich Luhmann als fundierter Theoriekritiker zu erkennen. Auch in der Hitze der Theorieküche wird nur mit Wasser gekocht, sagt er in diesem gelehrten Konzentrat, aus dem der Bestseller "Liebe als Passion" hervorging.
Tatsächlich kann man fragen: Was weiß man, wenn man all das weiß, was Luhmann über die Liebe darlegt? Was weiß man, wenn man erfährt: "Man liebt das Lieben und deshalb einen Menschen, den man lieben kann"? Oder wenn man liest: "Im übrigen ist für den Normalfall eine mehr oder weniger klischeeförmige Außensteuerung dieses auf Liebe gerichteten Liebens bezeichnend"? Oder wenn man gesagt bekommt: "Wer einen schönen Menschen liebt, kann andere und sogar sich selbst leichter von seiner Liebe überzeugen." Oder wenn es schließlich heißt: "Man kann am Morgen danach schon wieder zweifeln, ob das Liebe war." Es spricht nicht gegen Luhmann, dass man den Eindruck hat, nichts zu wissen, wenn man das alles weiß; jedenfalls nichts zu erfahren, was der konkreten Erfahrung von Liebe etwas hinzufügen oder nehmen könnte. Natürlich stimmt es, dass es "kulturelle Klischees" sind, die uns anleiten, ein Gefühl als Liebe zu interpretieren. Oder es als Liebe zu verabschieden. Aber eigentümlicherweise wird das Gefühl durch solche Erklärungen kein bisschen erhellt. Pardon, dass wir so einfältig sind: Liebende lesen Luhmann, rascheln mit den Blättern und genießen. Für die Theorie muss das kein Nachteil sein.
CHRISTIAN GEYER
Niklas Luhmann: "Liebe". Eine Übung. Herausgegeben von André Kieserling. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2008. 95 S., geb., 8,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Was weiß man, wenn man all das weiß, was Niklas Luhmann in seinem frühen Traktat über die Liebe darlegt? Es wurde soeben aus dem Nachlass publiziert.
Kann man jemandem das Lieben ausreden? Genügt der Hinweis auf das - historische, soziologische - Gewordensein des Gefühls, um es als "uneigentlich" zu "durchschauen": wahlweise als Selbsttäuschung, Wahn oder Illusion? Ist Liebe gegen ihre Erklärung immun? Kann sie durch das, was man ihre Erklärung nennt, nur verfehlt werden? Können noch so reflexiv Liebende über einen, der ihr Gefühl aufdröseln will, nur verlegen lachen und es sich weiter gemütlich machen?
Es ist ein Hochgenuss, Niklas Luhmanns kleines Bändchen über die Liebe zu lesen, ein Manuskript für ein Seminar von 1969, das jetzt im Nachlass publiziert wurde. In Händen hält man einen schönen Gegenbeleg zu der Ansicht, Luhmanns Sachen seien doch nur selbstgenügsame Theorie, mit schmächtiger empirischer Basis und entmoralisierender Allüre. Die Virtuosität, mit der Luhmann in seinem Liebes-Traktat die Theorie als prächtiges Kleid für lebensweise Assoziationen und bonmots schneidert, macht ihm keiner nach. Gerade in der überbordenden theoretischen Architektur, die er selbst um aufreizend naheliegende Befunde herum baut, gibt sich Luhmann als fundierter Theoriekritiker zu erkennen. Auch in der Hitze der Theorieküche wird nur mit Wasser gekocht, sagt er in diesem gelehrten Konzentrat, aus dem der Bestseller "Liebe als Passion" hervorging.
Tatsächlich kann man fragen: Was weiß man, wenn man all das weiß, was Luhmann über die Liebe darlegt? Was weiß man, wenn man erfährt: "Man liebt das Lieben und deshalb einen Menschen, den man lieben kann"? Oder wenn man liest: "Im übrigen ist für den Normalfall eine mehr oder weniger klischeeförmige Außensteuerung dieses auf Liebe gerichteten Liebens bezeichnend"? Oder wenn man gesagt bekommt: "Wer einen schönen Menschen liebt, kann andere und sogar sich selbst leichter von seiner Liebe überzeugen." Oder wenn es schließlich heißt: "Man kann am Morgen danach schon wieder zweifeln, ob das Liebe war." Es spricht nicht gegen Luhmann, dass man den Eindruck hat, nichts zu wissen, wenn man das alles weiß; jedenfalls nichts zu erfahren, was der konkreten Erfahrung von Liebe etwas hinzufügen oder nehmen könnte. Natürlich stimmt es, dass es "kulturelle Klischees" sind, die uns anleiten, ein Gefühl als Liebe zu interpretieren. Oder es als Liebe zu verabschieden. Aber eigentümlicherweise wird das Gefühl durch solche Erklärungen kein bisschen erhellt. Pardon, dass wir so einfältig sind: Liebende lesen Luhmann, rascheln mit den Blättern und genießen. Für die Theorie muss das kein Nachteil sein.
CHRISTIAN GEYER
Niklas Luhmann: "Liebe". Eine Übung. Herausgegeben von André Kieserling. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2008. 95 S., geb., 8,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Erfreut zeigt sich Christine Pries über dieses aus dem Nachlass stammende Buch von Niklas Luhmann mit dem Titel "Liebe". Sie warnt allerdings Romantiker und mit der Luhmannsch'en Systemtheorie unvertaute Leser vor der Lektüre, geht es in dem Buch doch keineswegs um Gefühle, was sie mit Luhmanns Bestimmung der Liebe ("Liebe übermittelt Selektionsleistungen durch Orientierung an dem individuellen Selbstverständnis und der besonderen Weltsicht eines anderen oder einiger anderer Menschen") gleich unter Beweis stellt. Wie Pries berichtet, handelt es sich bei dem Buch um einen ursprünglich als Seminarvorlage dienenden Text aus dem Jahr 1969. Luhmann-Kenner werden ihrer Einschätzung nach darin nichts Neues finden. Gleichwohl scheint es ihr faszinierend zu sehen, dass der Text in knapper Form alle zentralen Gedanken von Luhmanns Klassiker "Liebe als Passion" von 1982 bietet.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Diese kleine Studie ist neugierig, sie hat etwas Lachendes, sie ist wie für Studenten gedacht und verfasst, sie will im Seminar diskutiert werden. « Elisabeth von Thadden DIE ZEIT