Eine feingesponnene Geschichte, deren Stimmung an David Lynchs Mulholland Drive erinnert und die einen nicht so schnell wieder loslässt.Die große norwegische Autorin erzählt von den Spielarten der Zuneigung, wie man sich lieben und trotzdem aneinander vorbeileben kann.Jon ist mit seiner Mutter Vibeke in eine nordnorwegische Kleinstadt gezogen. Sein neunter Geburtstag steht am nächsten Tag bevor. Als Leser folgen wir den beiden durch den Abend und die Nacht. Eine tiefe Verbindung zwischen Mutter und Sohn wird deutlich, wenn sie abwechselnd von ihren Wünschen und Erwartungen erzählen. Jedoch nicht ihrem Gegenüber und so lösen Missverstehen und Schweigen die Ereignisse dieser Nacht aus.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 25.07.2017Flüchtig über das Haar gestreichelt
Traurig, aber ein Wunderwerk der minimalistischen Prosa:
Die norwegische Schriftstellerin Hanne Ørstavik und ein Buch, das „Liebe“ heißt
VON KRISTINA MAIDT-ZINKE
Der Titel führt in die Irre – oder auch nicht, wenn man alle Fragen, Irrtümer, Missverständnisse und Verletzungen mitdenkt, die sich hinter dem Begriff „Liebe“ verbergen können. Jedenfalls ist dies ein ziemlich trauriges kleines Buch, und das sollte man wissen, bevor man es verschenkt oder als Ferienlektüre einpackt. Es ist aber zugleich ein Buch von großer literarischer Kraft, was wiederum ein Grund zur Freude sein sollte, denn Werke, die mit derart sparsamen Mitteln so tief zu berühren vermögen, sind rar geworden. Und ja, der Roman, oder besser: die Erzählung, ist schon zwanzig Jahre alt und hat gerade erst den Weg in den deutschen Sprachraum gefunden.
Als die Norwegerin Hanne Ørstavik, Jahrgang 1969, mit „Liebe“ ihren Durchbruch als Schriftstellerin erlebte, war die Welt noch ein wenig anders als heute. Zum Beispiel wünschten sich neunjährige Jungen damals noch eine Modelleisenbahn, und andererseits wurden sie schon von Albträumen heimgesucht, die sich aus Filmen und Videos nährten. So wie Jon, der mit seiner Mutter Vibeke in eine nordnorwegische Kleinstadt gezogen ist. Die junge Frau, alleinerziehend, hat dort eine Stelle als Kulturreferentin angetreten. Das lässt auf ein vorbildlich modernes Gemeinwesen schließen, aber dass es in diesen Breiten im Winter nicht hell wird, spürt man in jeder Zeile der Geschichte. Und man spürt die existenzielle Einsamkeit, mit der die Menschen hier stärker als anderswo konfrontiert sind, ebenso wie den kräftezehrenden Kontrast zwischen einer hoch technisierten Zivilisation und einer unbeugsamen Natur.
Doch diese atmosphärischen Valeurs sind eher ein Nebeneffekt, außerdem keine Seltenheit in der Literatur des Nordens. Erstaunlicher ist Hanne Ørstaviks Kunst, in einer klaren, leichten, gänzlich undramatischen Sprache von der Sprachlosigkeit zwischen Menschen zu erzählen, die einander nahestehen. Vom Unvermögen, Empfindungen mitzuteilen und die Gefühle des anderen wahrzunehmen, von der Tragik des Aneinandervorbeilebens auf engstem Raum. In der Konstellation von Mutter und Kind wirkt das besonders verstörend, weil wir dazu neigen, dieses Verhältnis zu idealisieren, zumindest in bildungsnahen und materiell abgesicherten Milieus. Ein schonungsloser Blick auf die Dinge setzt voraus, dass das Kind als Person genauso ernst genommen wird wie ein Erwachsener. Was wiederum in der Mentalität der skandinavischen Länder so fest verankert ist, dass Schriftsteller sich dort mühelos in die Psyche von Kindern einfühlen können – schon Pippi Langstrumpf war einst dieser Tradition entsprungen.
Hanne Ørstavik schildert einen halben Tag und eine halbe Nacht im Leben von Vibeke und Jon. Ihr Kunstgriff besteht darin, abwechselnd die Perspektive des Jungen und die seiner Mutter einzunehmen, in fliegendem Wechsel und harten, immer enger geführten Schnitten, ohne dabei die Distanz der Beobachterin aufzugeben. Jon ist das, was man früher ein Schlüsselkind genannt hätte. Er ist es gewohnt, allein zu sein, seinen Träumen und Gedanken nachzuhängen. Seine Mutter spielt darin eine große Rolle, aber sie weiß es nicht, und er kann es ihr nicht vermitteln. Vibeke sorgt gewissenhaft für ihn, und manchmal streichelt sie ihm flüchtig übers Haar und sagt: „Jon, allerliebster Jon“. Aber für Gespräche bleibt kaum Zeit, und es nervt sie, dass der Junge ein nervöses Zucken an den Augen hat. Innerlich ist sie, die passionierte Leserin, entweder mit Büchern beschäftigt oder mit ihrem Körper, ihrer Kleidung, ihrem Make-up. Denn Vibeke hat Sehnsucht nach einem neuen Partner, und in diese Fantasie fließt ihr ganzes Sinnen und Trachten.
Über die Vorgeschichte, über den abwesenden Vater erfahren wir nichts. Aber einmal sagt Jon zu einem Mädchen aus der Nachbarschaft, seine Mutter habe keine andere Wahl gehabt, als alles hinter sich zu lassen. Er ist ein wenig frühreif, dieser Junge, er sorgt sich um seine Mutter. Sie merkt davon nichts. Am Abend vor seinem neunten Geburtstag geht Jon allein aus dem Haus, um Lose für seinen Sportverein zu verkaufen, und er begegnet dabei einem sehr einsamen, alten Mann. Später zieht er noch einmal los, weil er vermutet, Vibeke wolle einen Geburtstagskuchen für ihn backen und ihn damit überraschen.
Sie aber macht sich zurecht wie für ein Rendezvous, obwohl sie nur zur Bibliothek will. Sie landet stattdessen auf dem kleinen Jahrmarkt, der gerade in der Stadt gastiert, und lässt sich auf einen Flirt mit einem attraktiven, etwas undurchsichtigen Schausteller ein. Der ist genauso trostbedürftig wie sie, und trotzdem entsteht keine Nähe zwischen den beiden, weder im Wohnwagen noch in einem Lokal für Nachtschwärmer. Unterdessen erlebt Jon eine zunehmend unheimliche Miniatur-Odyssee, zunächst im Haus des Nachbarmädchens, das auf seine eigene Art allein ist, und dann im Auto einer fremden Frau, die ebenfalls zur Jahrmarktstruppe gehört und ziellos durch die Dunkelheit fährt, um ihre Einsamkeit zu betäuben.
Während Jon immer wieder an seine Mutter denkt, aber nicht ergründen kann, was sie bewegt, vergisst Vibeke ihren Jungen völlig, als sie mit dem hübschen Schausteller herumzieht und für ein paar Stunden ihre Wünsche und Idealvorstellungen auf ihn projiziert. Es scheint, dass die Geschichte tragisch endet, dass Eiseskälte, als Beziehungs-Metapher wie als Naturgewalt, sich hier tödlich auswirkt – der offene Schluss lässt diese Deutung zu. Und doch ist dies keine Sozialstudie, kein Protokoll einer Überforderung: Vielmehr handelt es sich um einen Ausschnitt aus dem ganz normalen Leben, der in tiefe Abgründe blicken lässt.
Die norwegische Literatur hat seit dem Erscheinen dieses minimalistischen Prosa-Wunderwerks eine ganz andere Richtung eingeschlagen, hin zur barrierefreien Mitteilungswut eines Karl Ove Knausgård. Auch dort geht es um Einsamkeitsgefühle, Kommunikationsstörungen, emotionale Defizite – menschliche Grunderfahrungen, die sich im Klima des Nordens offenbar verstärken. Seltsam genug, und zugleich ein Glück, dass daraus eine solche literarische Sprachmacht hervorgeht.
Ein altkluges Kind, eine einsame
Mutter und die langen Nächte
des norwegischen Winters
Eine Odyssee im Miniaturformat,
die in der Wohnung des
Nachbarmädchens beginnt
Mit „Liebe“ erlebte Hanne Ørstavik ihren Durchbruch.
Foto: Linda B. Engelberth
Hanne Ørstavik: Liebe. Roman. Aus dem Norwegischen von Irina Hron. Karl Rauch Verlag, Düsseldorf 2017. 120 Seiten, 18 Euro.
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Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Traurig, aber ein Wunderwerk der minimalistischen Prosa:
Die norwegische Schriftstellerin Hanne Ørstavik und ein Buch, das „Liebe“ heißt
VON KRISTINA MAIDT-ZINKE
Der Titel führt in die Irre – oder auch nicht, wenn man alle Fragen, Irrtümer, Missverständnisse und Verletzungen mitdenkt, die sich hinter dem Begriff „Liebe“ verbergen können. Jedenfalls ist dies ein ziemlich trauriges kleines Buch, und das sollte man wissen, bevor man es verschenkt oder als Ferienlektüre einpackt. Es ist aber zugleich ein Buch von großer literarischer Kraft, was wiederum ein Grund zur Freude sein sollte, denn Werke, die mit derart sparsamen Mitteln so tief zu berühren vermögen, sind rar geworden. Und ja, der Roman, oder besser: die Erzählung, ist schon zwanzig Jahre alt und hat gerade erst den Weg in den deutschen Sprachraum gefunden.
Als die Norwegerin Hanne Ørstavik, Jahrgang 1969, mit „Liebe“ ihren Durchbruch als Schriftstellerin erlebte, war die Welt noch ein wenig anders als heute. Zum Beispiel wünschten sich neunjährige Jungen damals noch eine Modelleisenbahn, und andererseits wurden sie schon von Albträumen heimgesucht, die sich aus Filmen und Videos nährten. So wie Jon, der mit seiner Mutter Vibeke in eine nordnorwegische Kleinstadt gezogen ist. Die junge Frau, alleinerziehend, hat dort eine Stelle als Kulturreferentin angetreten. Das lässt auf ein vorbildlich modernes Gemeinwesen schließen, aber dass es in diesen Breiten im Winter nicht hell wird, spürt man in jeder Zeile der Geschichte. Und man spürt die existenzielle Einsamkeit, mit der die Menschen hier stärker als anderswo konfrontiert sind, ebenso wie den kräftezehrenden Kontrast zwischen einer hoch technisierten Zivilisation und einer unbeugsamen Natur.
Doch diese atmosphärischen Valeurs sind eher ein Nebeneffekt, außerdem keine Seltenheit in der Literatur des Nordens. Erstaunlicher ist Hanne Ørstaviks Kunst, in einer klaren, leichten, gänzlich undramatischen Sprache von der Sprachlosigkeit zwischen Menschen zu erzählen, die einander nahestehen. Vom Unvermögen, Empfindungen mitzuteilen und die Gefühle des anderen wahrzunehmen, von der Tragik des Aneinandervorbeilebens auf engstem Raum. In der Konstellation von Mutter und Kind wirkt das besonders verstörend, weil wir dazu neigen, dieses Verhältnis zu idealisieren, zumindest in bildungsnahen und materiell abgesicherten Milieus. Ein schonungsloser Blick auf die Dinge setzt voraus, dass das Kind als Person genauso ernst genommen wird wie ein Erwachsener. Was wiederum in der Mentalität der skandinavischen Länder so fest verankert ist, dass Schriftsteller sich dort mühelos in die Psyche von Kindern einfühlen können – schon Pippi Langstrumpf war einst dieser Tradition entsprungen.
Hanne Ørstavik schildert einen halben Tag und eine halbe Nacht im Leben von Vibeke und Jon. Ihr Kunstgriff besteht darin, abwechselnd die Perspektive des Jungen und die seiner Mutter einzunehmen, in fliegendem Wechsel und harten, immer enger geführten Schnitten, ohne dabei die Distanz der Beobachterin aufzugeben. Jon ist das, was man früher ein Schlüsselkind genannt hätte. Er ist es gewohnt, allein zu sein, seinen Träumen und Gedanken nachzuhängen. Seine Mutter spielt darin eine große Rolle, aber sie weiß es nicht, und er kann es ihr nicht vermitteln. Vibeke sorgt gewissenhaft für ihn, und manchmal streichelt sie ihm flüchtig übers Haar und sagt: „Jon, allerliebster Jon“. Aber für Gespräche bleibt kaum Zeit, und es nervt sie, dass der Junge ein nervöses Zucken an den Augen hat. Innerlich ist sie, die passionierte Leserin, entweder mit Büchern beschäftigt oder mit ihrem Körper, ihrer Kleidung, ihrem Make-up. Denn Vibeke hat Sehnsucht nach einem neuen Partner, und in diese Fantasie fließt ihr ganzes Sinnen und Trachten.
Über die Vorgeschichte, über den abwesenden Vater erfahren wir nichts. Aber einmal sagt Jon zu einem Mädchen aus der Nachbarschaft, seine Mutter habe keine andere Wahl gehabt, als alles hinter sich zu lassen. Er ist ein wenig frühreif, dieser Junge, er sorgt sich um seine Mutter. Sie merkt davon nichts. Am Abend vor seinem neunten Geburtstag geht Jon allein aus dem Haus, um Lose für seinen Sportverein zu verkaufen, und er begegnet dabei einem sehr einsamen, alten Mann. Später zieht er noch einmal los, weil er vermutet, Vibeke wolle einen Geburtstagskuchen für ihn backen und ihn damit überraschen.
Sie aber macht sich zurecht wie für ein Rendezvous, obwohl sie nur zur Bibliothek will. Sie landet stattdessen auf dem kleinen Jahrmarkt, der gerade in der Stadt gastiert, und lässt sich auf einen Flirt mit einem attraktiven, etwas undurchsichtigen Schausteller ein. Der ist genauso trostbedürftig wie sie, und trotzdem entsteht keine Nähe zwischen den beiden, weder im Wohnwagen noch in einem Lokal für Nachtschwärmer. Unterdessen erlebt Jon eine zunehmend unheimliche Miniatur-Odyssee, zunächst im Haus des Nachbarmädchens, das auf seine eigene Art allein ist, und dann im Auto einer fremden Frau, die ebenfalls zur Jahrmarktstruppe gehört und ziellos durch die Dunkelheit fährt, um ihre Einsamkeit zu betäuben.
Während Jon immer wieder an seine Mutter denkt, aber nicht ergründen kann, was sie bewegt, vergisst Vibeke ihren Jungen völlig, als sie mit dem hübschen Schausteller herumzieht und für ein paar Stunden ihre Wünsche und Idealvorstellungen auf ihn projiziert. Es scheint, dass die Geschichte tragisch endet, dass Eiseskälte, als Beziehungs-Metapher wie als Naturgewalt, sich hier tödlich auswirkt – der offene Schluss lässt diese Deutung zu. Und doch ist dies keine Sozialstudie, kein Protokoll einer Überforderung: Vielmehr handelt es sich um einen Ausschnitt aus dem ganz normalen Leben, der in tiefe Abgründe blicken lässt.
Die norwegische Literatur hat seit dem Erscheinen dieses minimalistischen Prosa-Wunderwerks eine ganz andere Richtung eingeschlagen, hin zur barrierefreien Mitteilungswut eines Karl Ove Knausgård. Auch dort geht es um Einsamkeitsgefühle, Kommunikationsstörungen, emotionale Defizite – menschliche Grunderfahrungen, die sich im Klima des Nordens offenbar verstärken. Seltsam genug, und zugleich ein Glück, dass daraus eine solche literarische Sprachmacht hervorgeht.
Ein altkluges Kind, eine einsame
Mutter und die langen Nächte
des norwegischen Winters
Eine Odyssee im Miniaturformat,
die in der Wohnung des
Nachbarmädchens beginnt
Mit „Liebe“ erlebte Hanne Ørstavik ihren Durchbruch.
Foto: Linda B. Engelberth
Hanne Ørstavik: Liebe. Roman. Aus dem Norwegischen von Irina Hron. Karl Rauch Verlag, Düsseldorf 2017. 120 Seiten, 18 Euro.
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»Alles ist drin: Einsamkeit, Sehnsucht, Selbstzweifel - und der desperate, aber nicht endende Wille, etwas daran zu ändern.« Neue Zürcher Zeitung