Am 23. Januar 1965 notierte Ninon Hesse,»... wie durch eine laufende Brieffolge nicht so sehr ein Bild des Schreibers entsteht, als ein Bild des Empfängers«. Das gilt auch für ihre eigenen, bisher unveröffentlichten Briefe an Hermann Hesse. Die wie ein Tagebuch zu lesende Brieffolge beginnt 1910 mit einem Schreiben der 14 jährigen Gymnasiastin aus Czernowitz an den Verfasser des »Peter Camenzind« - 20 Jahre später wurde sie seine Frau.
Die Briefe schildern den abenteuerlichen Weg, den die in Wien Medizin, Kunst und Archäologie studierende und seit 1918 mit dem bekannten Karikaturist B.F. Dolbin verheiratete junge Frau einschlug. 1927 brach sie alle Brücken hinter sich ab, verkaufte ihr Elternhaus, löste ihren Wiener Hausstand auf und beschloß, den Dichter des Steppenwolf aus einer lebensbedrohenden Krise zu retten.
Die Auswahl der Herausgeberin stellt nicht nur eine spannungsreiche Liebesbeziehung dar, sondern vermittelt auch die Lebensgeschichte dieser hochgebildeten Frau, der es glückte, Eigenständigkeit und Hingabe zu verbinden und Hesse die Ausgewogenheit seines Spätwerks zu ermöglichen.
Die Briefe schildern den abenteuerlichen Weg, den die in Wien Medizin, Kunst und Archäologie studierende und seit 1918 mit dem bekannten Karikaturist B.F. Dolbin verheiratete junge Frau einschlug. 1927 brach sie alle Brücken hinter sich ab, verkaufte ihr Elternhaus, löste ihren Wiener Hausstand auf und beschloß, den Dichter des Steppenwolf aus einer lebensbedrohenden Krise zu retten.
Die Auswahl der Herausgeberin stellt nicht nur eine spannungsreiche Liebesbeziehung dar, sondern vermittelt auch die Lebensgeschichte dieser hochgebildeten Frau, der es glückte, Eigenständigkeit und Hingabe zu verbinden und Hesse die Ausgewogenheit seines Spätwerks zu ermöglichen.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 04.07.2000Große Steine, kleine Steine
Reise durch die Ehe: Ninons Briefe an Hermann Hesse
„Weit war der Weg, den Du zu mir gegangen, / oft bist Du unterwegs allein geblieben, / was für ein Traum, was für ein Glücksverlangen / zwang Dich in all den Jahren, mich zu lieben?”
Hermann Hesse schrieb das erste Gedicht für Ninon im März 1926. Der Weg Ninon Dolbins zu Hermann Hesse hatte sechzehn Jahre gedauert. Den ersten Brief an den verehrten Autor schrieb die Vierzehnjährige; immer wusste sie, dass sie ihn lieben würde, und sie eroberte ihn. Da war er gerade in der großen Krise seines Lebens und stand am Rand des Selbstmords. Ninon verließ ihren Mann und zog zu Hesse nach Montagnola. Die Weltbürgerin aus Wien lebte jahrelang in zwei unbeheizbaren Räumen eines Palazzos im Tessin, in Rufweite des Menschen, der ihre Anwesenheit zwar brauchte, aber selten honorierte.
Wer war Ninon Hesse?
Gisela Kleine hat 1982 eine kluge Arbeit über die Beziehung zwischen Ninon und Hermann Hesse vorgelegt (als Suhrkamp-Taschenbuch unter dem Titel „Zwischen Welt und Zaubergarten”); jetzt hat sie eine Auswahl der Briefe Ninons an ihren Mann herausgegeben. „Sie war ein dialogischer Mensch”, schreibt Gisela Kleine. Die Anfangsjahre der Beziehung aber gestalteten sich eher monologisch: Der Partner zeigte sich abweisend, und es hat ja seinen Grund, dass die frühen Briefe von Hermann Hesse an Ninon gesperrt sind bis zum Jahr 2008. Ihre Briefe lassen Verstörung erkennen, schwanken zwischen Euphorie und Verzweiflung.
Das Hemd auf seinem Körper
„Was für ein Traum, was für ein Glücksverlangen . . . ” Sie ist achtzehn Jahre jünger als Hesse und schlägt einen Kleinmädchenton an: Sie geht ins Bettchen und raucht ein Zigarettchen. Ängstlich ist sie darauf bedacht, ihn nicht in Wut zu versetzen: „Du darfst nicht böse sein, wenn ich das sage . . . ” Sie möchte sich ihm reichen, wie Veronika Christus das Schweißtuch reichte, und möchte das Hemd auf seinem Körper sein. Sie will dienen, und das Dienen besteht vor allem „darin, nicht da zu sein, wenn einen der andere nicht braucht”. Ihre Liebe hat eine religiöse Dimension: Hermann steht hoch über allen Menschen und sie vergleicht sich mit Moses, der vor dem Herrn stotterte: „Der Ergriffene stottert eben. ”
Um das Heroische – Psychologen würden sagen: Masochistische – dieser Haltung zu verstehen, muss man die Äußerungen Hesses an Dritte heranziehen, von denen Gisela Kleine leider nur Andeutungen bieten kann. Das Glücksverlangen der Ninon Hesse war es, mit dem Geliebten zu verschmelzen. Sie war aber auch eine starke Frau und ihr literarisches Urteilsvermögen wurde für Hesse unentbehrlich. Sie hatte ihre Dissertation in Kunstgeschichte auf Vorschlag Hesses aufgegeben – und es später bereut. Das Spannende an diesem Briefband ist es nun mitzuverfolgen, wie sich das kleine Mädchen Ninon neben dem überragenden Mann seinen geistigen Raum erobert. Ninon findet ihre Welten in der Antike; die Reisebriefe aus Italien und Griechenland bilden das Kernstück dieses Buches.
„ . . . oft bist Du unterwegs allein geblieben . . . ” Sie reist allein (in jeder Hinsicht . . .). Aber sie ist ein dialogischer Mensch, und so bringt sie ihrem Mann die Antike schriftlich nahe. Wie sie sieht und was sie sieht – darin spricht sich der Mensch Ninon Hesse aus. Man kann die Reisebriefe auch lesen als eine Reise durch ihre Ehe. War sie zunächst fasziniert von Ariadne und später von Apollon, wurde zuletzt Hera zur beherrschenden Göttin: eine Hera, die nicht nur Gefährtin des Zeus war, sondern eigenständiges Wesen.
Das Reisen ist für Ninon Freiheit und Flucht ebenso wie rastlose Arbeit und Selbstsuche. Sie sammelt Material für eine Abhandlung über Hera – und wird sie nie fertig stellen, denn ihr Dienst für den Dichter verhindert das. Es ist schmerzlich zu lesen, wie sie auf das Mittagessen verzichtet, um noch in die Zürcher Zentralbibliothek stürzen zu können, bevor sie zurückfährt nach Baden, wo ihr Mann sie ungeduldig erwartet. Dennoch wäre der Eindruck, Zeuge eines verfehlten Lebens zu sein, falsch. Jede Ehe birgt ein Geheimnis: Das Wesen einer jahrzehntelangen Verbundenheit liegt nicht in äußeren Ereignissen und ist mit herkömmlicher Psychologie nicht zu erfassen.
Ninon hat Hermann Hesse zutiefst geliebt – und er sie, das muss man fairerweise sagen, in dem ihm möglichen Ausmaß ebenfalls. Nach seinem Tod (1962) verliert Ninon ihren Lebenssinn. Sie stirbt vier Jahre später und wird neben ihm beigesetzt. Der Grabstein bleibt ihm allein vorbehalten; nur ein kleiner Stein, seitlich versetzt, trägt den Namen seiner Frau.
Sie könnte an ihrer Existenz zweifeln, hat Ninon einmal gesagt, denn Hesses drei Ehefrauen kamen in vielen Hesse-Biografien nicht vor. Gisela Kleine hat dieser eigenwilligen Frau eine Reverenz erwiesen, indem sie ihre Briefe herausgegeben hat. Die Briefe zeigen,dass ein großes Werk nicht von einem Menschen allein erschaffen wird: Jeder, der Außergewöhnliches leistet, stützt sich auf andere Menschen. Noble und starke Menschen. Häufig Frauen. An die meisten erinnert nicht einmal ein kleiner Stein.
MARGRIT IRGANG
NINON HESSE: Lieber, lieber Vogel. Briefe an Hermann Hesse. Herausgegeben von Gisela Kleine. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2000. 582 Seiten, 64 Mark.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Reise durch die Ehe: Ninons Briefe an Hermann Hesse
„Weit war der Weg, den Du zu mir gegangen, / oft bist Du unterwegs allein geblieben, / was für ein Traum, was für ein Glücksverlangen / zwang Dich in all den Jahren, mich zu lieben?”
Hermann Hesse schrieb das erste Gedicht für Ninon im März 1926. Der Weg Ninon Dolbins zu Hermann Hesse hatte sechzehn Jahre gedauert. Den ersten Brief an den verehrten Autor schrieb die Vierzehnjährige; immer wusste sie, dass sie ihn lieben würde, und sie eroberte ihn. Da war er gerade in der großen Krise seines Lebens und stand am Rand des Selbstmords. Ninon verließ ihren Mann und zog zu Hesse nach Montagnola. Die Weltbürgerin aus Wien lebte jahrelang in zwei unbeheizbaren Räumen eines Palazzos im Tessin, in Rufweite des Menschen, der ihre Anwesenheit zwar brauchte, aber selten honorierte.
Wer war Ninon Hesse?
Gisela Kleine hat 1982 eine kluge Arbeit über die Beziehung zwischen Ninon und Hermann Hesse vorgelegt (als Suhrkamp-Taschenbuch unter dem Titel „Zwischen Welt und Zaubergarten”); jetzt hat sie eine Auswahl der Briefe Ninons an ihren Mann herausgegeben. „Sie war ein dialogischer Mensch”, schreibt Gisela Kleine. Die Anfangsjahre der Beziehung aber gestalteten sich eher monologisch: Der Partner zeigte sich abweisend, und es hat ja seinen Grund, dass die frühen Briefe von Hermann Hesse an Ninon gesperrt sind bis zum Jahr 2008. Ihre Briefe lassen Verstörung erkennen, schwanken zwischen Euphorie und Verzweiflung.
Das Hemd auf seinem Körper
„Was für ein Traum, was für ein Glücksverlangen . . . ” Sie ist achtzehn Jahre jünger als Hesse und schlägt einen Kleinmädchenton an: Sie geht ins Bettchen und raucht ein Zigarettchen. Ängstlich ist sie darauf bedacht, ihn nicht in Wut zu versetzen: „Du darfst nicht böse sein, wenn ich das sage . . . ” Sie möchte sich ihm reichen, wie Veronika Christus das Schweißtuch reichte, und möchte das Hemd auf seinem Körper sein. Sie will dienen, und das Dienen besteht vor allem „darin, nicht da zu sein, wenn einen der andere nicht braucht”. Ihre Liebe hat eine religiöse Dimension: Hermann steht hoch über allen Menschen und sie vergleicht sich mit Moses, der vor dem Herrn stotterte: „Der Ergriffene stottert eben. ”
Um das Heroische – Psychologen würden sagen: Masochistische – dieser Haltung zu verstehen, muss man die Äußerungen Hesses an Dritte heranziehen, von denen Gisela Kleine leider nur Andeutungen bieten kann. Das Glücksverlangen der Ninon Hesse war es, mit dem Geliebten zu verschmelzen. Sie war aber auch eine starke Frau und ihr literarisches Urteilsvermögen wurde für Hesse unentbehrlich. Sie hatte ihre Dissertation in Kunstgeschichte auf Vorschlag Hesses aufgegeben – und es später bereut. Das Spannende an diesem Briefband ist es nun mitzuverfolgen, wie sich das kleine Mädchen Ninon neben dem überragenden Mann seinen geistigen Raum erobert. Ninon findet ihre Welten in der Antike; die Reisebriefe aus Italien und Griechenland bilden das Kernstück dieses Buches.
„ . . . oft bist Du unterwegs allein geblieben . . . ” Sie reist allein (in jeder Hinsicht . . .). Aber sie ist ein dialogischer Mensch, und so bringt sie ihrem Mann die Antike schriftlich nahe. Wie sie sieht und was sie sieht – darin spricht sich der Mensch Ninon Hesse aus. Man kann die Reisebriefe auch lesen als eine Reise durch ihre Ehe. War sie zunächst fasziniert von Ariadne und später von Apollon, wurde zuletzt Hera zur beherrschenden Göttin: eine Hera, die nicht nur Gefährtin des Zeus war, sondern eigenständiges Wesen.
Das Reisen ist für Ninon Freiheit und Flucht ebenso wie rastlose Arbeit und Selbstsuche. Sie sammelt Material für eine Abhandlung über Hera – und wird sie nie fertig stellen, denn ihr Dienst für den Dichter verhindert das. Es ist schmerzlich zu lesen, wie sie auf das Mittagessen verzichtet, um noch in die Zürcher Zentralbibliothek stürzen zu können, bevor sie zurückfährt nach Baden, wo ihr Mann sie ungeduldig erwartet. Dennoch wäre der Eindruck, Zeuge eines verfehlten Lebens zu sein, falsch. Jede Ehe birgt ein Geheimnis: Das Wesen einer jahrzehntelangen Verbundenheit liegt nicht in äußeren Ereignissen und ist mit herkömmlicher Psychologie nicht zu erfassen.
Ninon hat Hermann Hesse zutiefst geliebt – und er sie, das muss man fairerweise sagen, in dem ihm möglichen Ausmaß ebenfalls. Nach seinem Tod (1962) verliert Ninon ihren Lebenssinn. Sie stirbt vier Jahre später und wird neben ihm beigesetzt. Der Grabstein bleibt ihm allein vorbehalten; nur ein kleiner Stein, seitlich versetzt, trägt den Namen seiner Frau.
Sie könnte an ihrer Existenz zweifeln, hat Ninon einmal gesagt, denn Hesses drei Ehefrauen kamen in vielen Hesse-Biografien nicht vor. Gisela Kleine hat dieser eigenwilligen Frau eine Reverenz erwiesen, indem sie ihre Briefe herausgegeben hat. Die Briefe zeigen,dass ein großes Werk nicht von einem Menschen allein erschaffen wird: Jeder, der Außergewöhnliches leistet, stützt sich auf andere Menschen. Noble und starke Menschen. Häufig Frauen. An die meisten erinnert nicht einmal ein kleiner Stein.
MARGRIT IRGANG
NINON HESSE: Lieber, lieber Vogel. Briefe an Hermann Hesse. Herausgegeben von Gisela Kleine. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2000. 582 Seiten, 64 Mark.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.06.2000Gorgonen auf Morgenlandfahrt
Ehe auf Distanz: Ninon Hesses Briefe an Hermann Hesse
Mit einem merkwürdigen Gerichtsurteil wird am 26. April 1927 die zweite, relativ kurze Ehe Hermann Hesses mit der Sängerin Ruth Wenger in Basel geschieden. Seine Bücher "Kurgast" und "Nürnberger Reise", in denen er sich als Eremiten, Sonderling und schlaflosen Psychopathen darstelle, hätten die Unzumutbarkeit eines Zusammenlebens mit ihm bewiesen. Abgesehen von der windigen Beweiskraft literarischer Fiktionen war die Ehe mit dem übersensiblen und hypochondrischen, von Magen-, Darm- und Schlafstörungen geplagten und wegen seiner Depressionen psychoanalytischer Behandlung bedürftigen Dichter tatsächlich ein Kreuz. Immerhin rettete Hesse seinen so oft am Abgrund stehenden kranken Leib bis ins 86. Lebensjahr hinein. Und als die zweite Ehefrau ihn verließ, hielt sich die "Krankenschwester" schon bereit. Sie sollte viereinhalb Jahre später seine dritte Frau werden: Ninon Hesse.
Ninon Auslaender, 1895 als Tochter eines bekannten Strafverteidigers in der damals noch österreichischen Bukowina geboren, wuchs in Czernowitz auf, jenem Zentrum deutsch-jüdischer Kultur, das sich mit Autoren wie Alfred Margul-Sperber, Paul Celan, Rose Scherzer-Auslaender und anderen als wichtiger Blutspender der deutschen Literatur nach 1945 bewähren sollte. An Dichteridolen von Hölderlin über Heine, Rilke und Thomas Mann bis zu Karl Kraus war bei den Czernowitzer Gymnasiastinnen und Gymnasiasten kein Mangel. Ninon Auslaender aber kam zu ihrem literarischen Erweckungserlebnis durch den Sohn eines pietistischen Missionspfarrers - schon mit vierzehn Jahren schrieb sie, aufgerührt durch den Roman "Peter Camenzind", ihren ersten Brief an Hermann Hesse. Dieser Brief war das Anfangsglied einer Kette, die Ninon und Hesse immer fester aneinander binden sollte.
Die über mehr als fünf Jahrzehnte reichende Folge der Briefe Ninons an Hesse liegt jetzt in einer Auswahl (mit etwa einem Drittel des Gesamtumfangs) vor. Die Sachkenntnis der Herausgeberin Gisela Kleine, schon in ihrer Doppelbiografie "Zwischen Welt und Zaubergarten - Ninon und Hermann Hesse" belegt, kommt jetzt den Erläuterungen zugute. Abweichend vom bisherigen Regelfall, verbannt die Herausgeberin die Kommentare nicht in den Anhang, sondern schließt sie unmittelbar an die Briefe an. Den anfänglichen Eindruck wissenschaftlicher Fußnotentypografie vergisst man rasch und ist dankbar, vom lästigen Vor- und Zurückschlagen befreit zu sein. Über Rückbezüge auf Briefe Hesses wird der Leser informiert, notfalls kann er sich in der vierbändigen Ausgabe der Gesammelten Briefe Hesses von Ursula und Volker Michels vergewissern.
Aus der anfänglichen jungmädchenhaften Schwärmerei wird bei Ninon, die ihr Medizinstudium in Wien und dann auch das Studium der Kunstgeschichte abbricht, nach den ersten Begegnungen mit Hesse und seit der ersten gemeinsamen Nacht im März 1926 eine fast mystische Verschmelzung von sinnlicher und religiöser Bindung. "Als Dein Kopf in meinem Schoss lag, war mir, als halte ich den Gekreuzigten." Zunächst wagt sie seinen Namen nicht zu nennen, "wie die Juden das Wort Jehova nicht sagen dürfen". "Könnte ich mich dir reichen, wie die heilige Veronika Christus das Schweisstuch reicht." Solchem Hang zur Verzückung entspricht ihre bedingungslose Bereitschaft zum Dienen - "Selbstopfer" und "Götzendienst" nennt es der Künstler Fred Dolbin, als er noch ihr Ehemann ist. Der Religionswissenschaftler Karl Kerényi fand bei ihr später eine religiöse Sorge um Hesses Leben. Doch verliert sich in ihren Briefen dann der sakrale Ton.
Ja, nimmt man die Briefsammlung als Ganzes, so erscheint Ninon im Vergleich zu Hesse als die urbanere Persönlichkeit. Hesses Reise nach Indien im Jahre 1911 und seine Arbeit für die deutsche Kriegsgefangenenfürsorge in der Schweiz während des Ersten Weltkriegs sind Aktivitäten, die er sich später, nach seiner Übersiedlung nach Montagnola im Tessin, versagt, um das Leben eines Einsiedlers oder eines Patienten im Kurort zu führen. Eine Italien-Reise mit der Lebensgefährtin Ninon bricht er schon in Norditalien ab, die "Hochzeitsreise" nach Rom macht die Ehefrau Ninon von Anfang an allein.
Die Ehe ist ein Zusammenleben auf Distanz; man wohnt in getrennten Räumen, spricht miteinander nur auf Wunsch des Dichters, der von Schmerzen heimgesucht wird, mit seinen Stoffen ringt und gegen Störungen allergisch ist. Unter den Briefen befinden sich auch so genannte "Hausbriefe". Das sind Botschaften, die man an vereinbarter Stelle ablegt, um einander das Allernötigste mitzuteilen. Kristallisationspunkte des Ehelebens sind die Stunden, in denen Ninon dem sehschwachen Hesse vorliest.
Hinter den Briefen der Geliebten und dann Ehefrau aus Wien, Berlin, Paris oder London zeigen sich die Umrisse einer großen Weltoffenheit und geistigen Neugier. Eine leidenschaftliche Musik- und Opernliebhaberin wird sichtbar, eine kritische Beobachterin des Theaterlebens. Wie auf Auswüchse des "Regietheaters" unserer Tage gemünzt liest sich der Bericht vom 13. Mai 1930 aus Berlin: "Es gibt nur eine Schauspieler-Schaustellung, . . . das Stück stört nur, . . . die Worte, die sie sprechen, sind vom Regisseur, nicht vom Autor." Fast ein Ressentiment möchte man bei ihren Seitenhieben gegen den Starregisseur Max Reinhardt vermuten. Sie nennt Reinhardts Schloss Leopoldskron bei Salzburg die Residenz eines "Tapezierers", seinen Film nach Shakespeares "Sommernachtstraum", den sie 1935 in London sieht, gar einen "entsetzlichen Kitsch". "Entzückt" dagegen hört sie in der Londoner Pension eine Dame ihre "liebsten Songs aus der Dreigroschenoper" singen.
Unter den französischen Theaterautoren ist Molière ihr Favorit. Der Neufund eines griechischen Lustspiels von Menander, "Dyskolos", animiert sie zu einem Essay für die Zeitschrift "Antike und Abendland" (1961), in dem sie es mit Molières "Misanthrope" vergleicht und Menschenscheu von Menschenfeindlichkeit abgrenzt. Sich in antike Dichtung und Kunst zu vertiefen wird die Passion der letzten Lebensjahrzehnte. Hinter ihren vielen Reisen durch Griechenland steckt als Antrieb ein hartnäckiger Forscherdrang, auch wenn sie selbst sich als Dilettantin zwischen Philologen und Archäologen sieht. Das Interesse an der Genealogie der Götter bringt sie in Kontakt mit Karl Kerényi; von vielen Eranos-Tagungen berichtet sie Hesse. Für ihre wissenschaftliche Arbeit hat sie den Titel "Gorgonen in Heratempeln" vorgesehen.
Ungeschwächt bleibt ihre Bewunderung für Hesses Gedichte und seine Romane, für den "Steppenwolf", "Narziß und Goldmund", "Die Morgenlandfahrt", "Das Glasperlenspiel". Dass Hesse des Nobelpreises würdig sei (den er 1946 erhielt), stand für sie nie in Frage. Aber sie nabelt sich doch als Individuum von der Überperson des Dichters ab. Obgleich sie ihren anfänglichen eigenen dichterischen Ambitionen entsagt, bleiben kleine poetische Inseln über ihre Briefprosa verstreut. Den Titel der Briefsammlung hat die Herausgeberin der Anrede Ninons an Hesse in einigen der frühen Briefe entlehnt. Als eine andere Art von Tagebuch wollte die Herausgeberin die Briefe präsentieren. Tatsächlich sind vor allem die vielen Briefe aus Griechenland verkappte Reisetagebücher, kunsthistorische Notizensammlungen - und deshalb auch Zeugnisse der offensiven Selbstbehauptung. Denn Hesse mochte, wie Ninon schon 1926 erkannte, "die Kunsthistoriker . . . alle nicht".
WALTER HINCK
Ninon Hesse: "Lieber, lieber Vogel. Briefe an Hermann Hesse". Herausgegeben von Gisela Kleine. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2000. 620 S., geb., 64,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ehe auf Distanz: Ninon Hesses Briefe an Hermann Hesse
Mit einem merkwürdigen Gerichtsurteil wird am 26. April 1927 die zweite, relativ kurze Ehe Hermann Hesses mit der Sängerin Ruth Wenger in Basel geschieden. Seine Bücher "Kurgast" und "Nürnberger Reise", in denen er sich als Eremiten, Sonderling und schlaflosen Psychopathen darstelle, hätten die Unzumutbarkeit eines Zusammenlebens mit ihm bewiesen. Abgesehen von der windigen Beweiskraft literarischer Fiktionen war die Ehe mit dem übersensiblen und hypochondrischen, von Magen-, Darm- und Schlafstörungen geplagten und wegen seiner Depressionen psychoanalytischer Behandlung bedürftigen Dichter tatsächlich ein Kreuz. Immerhin rettete Hesse seinen so oft am Abgrund stehenden kranken Leib bis ins 86. Lebensjahr hinein. Und als die zweite Ehefrau ihn verließ, hielt sich die "Krankenschwester" schon bereit. Sie sollte viereinhalb Jahre später seine dritte Frau werden: Ninon Hesse.
Ninon Auslaender, 1895 als Tochter eines bekannten Strafverteidigers in der damals noch österreichischen Bukowina geboren, wuchs in Czernowitz auf, jenem Zentrum deutsch-jüdischer Kultur, das sich mit Autoren wie Alfred Margul-Sperber, Paul Celan, Rose Scherzer-Auslaender und anderen als wichtiger Blutspender der deutschen Literatur nach 1945 bewähren sollte. An Dichteridolen von Hölderlin über Heine, Rilke und Thomas Mann bis zu Karl Kraus war bei den Czernowitzer Gymnasiastinnen und Gymnasiasten kein Mangel. Ninon Auslaender aber kam zu ihrem literarischen Erweckungserlebnis durch den Sohn eines pietistischen Missionspfarrers - schon mit vierzehn Jahren schrieb sie, aufgerührt durch den Roman "Peter Camenzind", ihren ersten Brief an Hermann Hesse. Dieser Brief war das Anfangsglied einer Kette, die Ninon und Hesse immer fester aneinander binden sollte.
Die über mehr als fünf Jahrzehnte reichende Folge der Briefe Ninons an Hesse liegt jetzt in einer Auswahl (mit etwa einem Drittel des Gesamtumfangs) vor. Die Sachkenntnis der Herausgeberin Gisela Kleine, schon in ihrer Doppelbiografie "Zwischen Welt und Zaubergarten - Ninon und Hermann Hesse" belegt, kommt jetzt den Erläuterungen zugute. Abweichend vom bisherigen Regelfall, verbannt die Herausgeberin die Kommentare nicht in den Anhang, sondern schließt sie unmittelbar an die Briefe an. Den anfänglichen Eindruck wissenschaftlicher Fußnotentypografie vergisst man rasch und ist dankbar, vom lästigen Vor- und Zurückschlagen befreit zu sein. Über Rückbezüge auf Briefe Hesses wird der Leser informiert, notfalls kann er sich in der vierbändigen Ausgabe der Gesammelten Briefe Hesses von Ursula und Volker Michels vergewissern.
Aus der anfänglichen jungmädchenhaften Schwärmerei wird bei Ninon, die ihr Medizinstudium in Wien und dann auch das Studium der Kunstgeschichte abbricht, nach den ersten Begegnungen mit Hesse und seit der ersten gemeinsamen Nacht im März 1926 eine fast mystische Verschmelzung von sinnlicher und religiöser Bindung. "Als Dein Kopf in meinem Schoss lag, war mir, als halte ich den Gekreuzigten." Zunächst wagt sie seinen Namen nicht zu nennen, "wie die Juden das Wort Jehova nicht sagen dürfen". "Könnte ich mich dir reichen, wie die heilige Veronika Christus das Schweisstuch reicht." Solchem Hang zur Verzückung entspricht ihre bedingungslose Bereitschaft zum Dienen - "Selbstopfer" und "Götzendienst" nennt es der Künstler Fred Dolbin, als er noch ihr Ehemann ist. Der Religionswissenschaftler Karl Kerényi fand bei ihr später eine religiöse Sorge um Hesses Leben. Doch verliert sich in ihren Briefen dann der sakrale Ton.
Ja, nimmt man die Briefsammlung als Ganzes, so erscheint Ninon im Vergleich zu Hesse als die urbanere Persönlichkeit. Hesses Reise nach Indien im Jahre 1911 und seine Arbeit für die deutsche Kriegsgefangenenfürsorge in der Schweiz während des Ersten Weltkriegs sind Aktivitäten, die er sich später, nach seiner Übersiedlung nach Montagnola im Tessin, versagt, um das Leben eines Einsiedlers oder eines Patienten im Kurort zu führen. Eine Italien-Reise mit der Lebensgefährtin Ninon bricht er schon in Norditalien ab, die "Hochzeitsreise" nach Rom macht die Ehefrau Ninon von Anfang an allein.
Die Ehe ist ein Zusammenleben auf Distanz; man wohnt in getrennten Räumen, spricht miteinander nur auf Wunsch des Dichters, der von Schmerzen heimgesucht wird, mit seinen Stoffen ringt und gegen Störungen allergisch ist. Unter den Briefen befinden sich auch so genannte "Hausbriefe". Das sind Botschaften, die man an vereinbarter Stelle ablegt, um einander das Allernötigste mitzuteilen. Kristallisationspunkte des Ehelebens sind die Stunden, in denen Ninon dem sehschwachen Hesse vorliest.
Hinter den Briefen der Geliebten und dann Ehefrau aus Wien, Berlin, Paris oder London zeigen sich die Umrisse einer großen Weltoffenheit und geistigen Neugier. Eine leidenschaftliche Musik- und Opernliebhaberin wird sichtbar, eine kritische Beobachterin des Theaterlebens. Wie auf Auswüchse des "Regietheaters" unserer Tage gemünzt liest sich der Bericht vom 13. Mai 1930 aus Berlin: "Es gibt nur eine Schauspieler-Schaustellung, . . . das Stück stört nur, . . . die Worte, die sie sprechen, sind vom Regisseur, nicht vom Autor." Fast ein Ressentiment möchte man bei ihren Seitenhieben gegen den Starregisseur Max Reinhardt vermuten. Sie nennt Reinhardts Schloss Leopoldskron bei Salzburg die Residenz eines "Tapezierers", seinen Film nach Shakespeares "Sommernachtstraum", den sie 1935 in London sieht, gar einen "entsetzlichen Kitsch". "Entzückt" dagegen hört sie in der Londoner Pension eine Dame ihre "liebsten Songs aus der Dreigroschenoper" singen.
Unter den französischen Theaterautoren ist Molière ihr Favorit. Der Neufund eines griechischen Lustspiels von Menander, "Dyskolos", animiert sie zu einem Essay für die Zeitschrift "Antike und Abendland" (1961), in dem sie es mit Molières "Misanthrope" vergleicht und Menschenscheu von Menschenfeindlichkeit abgrenzt. Sich in antike Dichtung und Kunst zu vertiefen wird die Passion der letzten Lebensjahrzehnte. Hinter ihren vielen Reisen durch Griechenland steckt als Antrieb ein hartnäckiger Forscherdrang, auch wenn sie selbst sich als Dilettantin zwischen Philologen und Archäologen sieht. Das Interesse an der Genealogie der Götter bringt sie in Kontakt mit Karl Kerényi; von vielen Eranos-Tagungen berichtet sie Hesse. Für ihre wissenschaftliche Arbeit hat sie den Titel "Gorgonen in Heratempeln" vorgesehen.
Ungeschwächt bleibt ihre Bewunderung für Hesses Gedichte und seine Romane, für den "Steppenwolf", "Narziß und Goldmund", "Die Morgenlandfahrt", "Das Glasperlenspiel". Dass Hesse des Nobelpreises würdig sei (den er 1946 erhielt), stand für sie nie in Frage. Aber sie nabelt sich doch als Individuum von der Überperson des Dichters ab. Obgleich sie ihren anfänglichen eigenen dichterischen Ambitionen entsagt, bleiben kleine poetische Inseln über ihre Briefprosa verstreut. Den Titel der Briefsammlung hat die Herausgeberin der Anrede Ninons an Hesse in einigen der frühen Briefe entlehnt. Als eine andere Art von Tagebuch wollte die Herausgeberin die Briefe präsentieren. Tatsächlich sind vor allem die vielen Briefe aus Griechenland verkappte Reisetagebücher, kunsthistorische Notizensammlungen - und deshalb auch Zeugnisse der offensiven Selbstbehauptung. Denn Hesse mochte, wie Ninon schon 1926 erkannte, "die Kunsthistoriker . . . alle nicht".
WALTER HINCK
Ninon Hesse: "Lieber, lieber Vogel. Briefe an Hermann Hesse". Herausgegeben von Gisela Kleine. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2000. 620 S., geb., 64,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main