Mit Anfang dreißig hatte Ulrike Meinhof erreicht, wovon andere träumten. Doch 1970 ließ sie dieses Leben hinter sich, um in den Untergrund zu gehen. Von nun an galt sie als "Stimme der RAF" - und als "Staatsfeind Nr. 1". Ein radikaler Schnitt, der bis heute schwer nachvollziehbar scheint. Alois Prinz folgt ihren Lebensspuren, von der Kindheit im Dritten Reich bis zu ihrem Tod in Stammheim. Er lässt dabei Zeitzeugen sprechen und präsentiert schwer zugängliches und bisher unveröffentlichtes Material. Mit gebotener Distanz erzählt er ein Leben, in dem sich die Nachkriegsgeschichte der Bundesrepublik spiegelt und das zugleich fundamentale Fragen politischer Ethik aufwirft. Ein Urteil über den Menschen Ulrike Meinhof überlässt er dabei dem Leser.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.03.2003Nur praktisch
Kann man Ulrike Meinhofs Leben der Jugend erzählen?
Eine der frühen Maximen der Roten Armee Fraktion klingt, wenn man nur das Wesentliche wegläßt, wie die Vorgabe für einen stimmungsvollen, aufgeräumten Entwicklungsroman: Ob es richtig ist, hängt davon ab, ob es möglich ist, ob es aber möglich ist, das ist nur praktisch zu ermitteln. Daß dieses Motto nicht über einer Bearbeitung des "Wilhelm Meister" steht, sondern am Anfang eines politischen Manifests, und daß jenes "es", dessen Richtigkeit da von der Möglichkeit abhängt, der bewaffnete Kampf in den Metropolen Mitteleuropas war, macht den ganzen Unterschied zur Lebensweisheit. An diesem sind Leute gestorben.
Was auch immer politische Schwärmerei zwischen Schlageter und Guevara sich darüber vorlügt: Sterben hat nichts mit Konsequenz zu tun oder mit der Relation von Zwecken und Mitteln, sondern ist ihre Verneinung: Jede Entwicklung, jeder Sinn und Zweck werden abgeschnitten. Sterben lehrt nichts, wer etwas anderes behauptet, lehrt Unfug (siehe die, wie sagt man doch: Rezeptionsgeschichte der Leiden Werthers).
Von Jugendbüchern aber wird erwartet, daß man aus ihnen etwas lernen kann. Läßt sich also, wenn man das oben Gesagte im Sinn behält, über Ulrike Marie Meinhof, die aus politischem Anlaß gestorben ist, ein Jugendbuch schreiben? Das gelungene Buch "Lieber wütend als traurig. Die Lebensgeschichte der Ulrike Marie Meinhof" von Alois Prinz zeigt nicht nur, daß das geht, sondern daß es sogar einfach (wenn auch nicht leicht) ist: Man muß eben deutlich machen, daß es das Leben der Dargestellten ist, dem man Gewicht beimißt, nicht ihr Tod - daß es auch anders hätte kommen können und Ulrike Meinhof nicht einen Kompromiß zuviel hätte eingehen müssen, um länger am Leben zu bleiben.
Die traurigste Figur im Geschichtsprozeß ist die des oder der Spätberufenen: "Ulrike Meinhofs Namen verbindet man oft mit der 68er Bewegung, die als ein Aufstand von Studenten, eine Rebellion der jungen Generation gilt", schreibt Alois Prinz. "Dabei vergißt man leicht, daß Ulrike Meinhof damals nicht mehr jung war." Widerstand gegen den Nationalsozialismus konnte sie nicht mehr leisten, der hatte seinen Krieg verloren; an der neuen Bewegung so teilnehmen, wie man an Jugendbewegungen teilnimmt, konnte sie aus dem von Prinz genannten Grund auch nicht, und die militanten Aktionsformen hatten vor ihr andere erprobt; sie kam gerade rechtzeitig, sie begründen zu dürfen.
Das Buch von Prinz teilt mit seinem Gegenstand dieses Moment des Späten, insofern es neben anderem auch eine längst adressatenlose Antwort an jene Kritiker der RAF aus der Linken ist, die im bewaffneten Kampf bloß "anarchistisches Abenteurertum" sehen konnten, das den Staat zu verschärfter Repression einlud. Er war mehr: Er war die Frage an die übrige Linke, wie ernst sie es mit ihrer Politik meine.
Prinz verdeutlicht, daß Meinhofs Weg weniger von der vorhandenen staatlichen Reaktion als von der fehlenden Antwort auf diese sehr berechtigte Frage bestimmt wurde. Katastrophal war, daß sie als Fragezeichen einen apolitischen Todesmut setzte, den sie "Praxis" taufte - Prinz versucht nicht, zu erraten, wie das psychologisch geschah, auch das Ertragen der Nichtbeschreibbarkeit ist eine seiner Künste. Zu jedem historischen oder biographischen Zeitpunkt ist mehr möglich, als praktisch zu ermitteln: Das zeigt er, wo er Leerstellen zeigt. Politik, die "Konsequenz" fetischisiert, zwingt ihre besten Leute, den Unsinn zu glauben, eine Theorie oder Praxis würde dadurch richtiger, daß wer bereit ist, dafür das Leben zu riskieren. Ist Unbeugsamkeit eine Tugend? Er habe sein Rückgrat nicht zum Zerbrechen, sagt Brechts Herr Keuner - ein vorbildlicher Kommunist.
DIETMAR DATH
Alois Prinz: "Lieber wütend als traurig. Die Lebensgeschichte der Ulrike Marie Meinhof". Beltz & Gelberg Verlag, Weinheim 2003. 328 S., geb., 19,- [Euro]. Ab 14 J.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Kann man Ulrike Meinhofs Leben der Jugend erzählen?
Eine der frühen Maximen der Roten Armee Fraktion klingt, wenn man nur das Wesentliche wegläßt, wie die Vorgabe für einen stimmungsvollen, aufgeräumten Entwicklungsroman: Ob es richtig ist, hängt davon ab, ob es möglich ist, ob es aber möglich ist, das ist nur praktisch zu ermitteln. Daß dieses Motto nicht über einer Bearbeitung des "Wilhelm Meister" steht, sondern am Anfang eines politischen Manifests, und daß jenes "es", dessen Richtigkeit da von der Möglichkeit abhängt, der bewaffnete Kampf in den Metropolen Mitteleuropas war, macht den ganzen Unterschied zur Lebensweisheit. An diesem sind Leute gestorben.
Was auch immer politische Schwärmerei zwischen Schlageter und Guevara sich darüber vorlügt: Sterben hat nichts mit Konsequenz zu tun oder mit der Relation von Zwecken und Mitteln, sondern ist ihre Verneinung: Jede Entwicklung, jeder Sinn und Zweck werden abgeschnitten. Sterben lehrt nichts, wer etwas anderes behauptet, lehrt Unfug (siehe die, wie sagt man doch: Rezeptionsgeschichte der Leiden Werthers).
Von Jugendbüchern aber wird erwartet, daß man aus ihnen etwas lernen kann. Läßt sich also, wenn man das oben Gesagte im Sinn behält, über Ulrike Marie Meinhof, die aus politischem Anlaß gestorben ist, ein Jugendbuch schreiben? Das gelungene Buch "Lieber wütend als traurig. Die Lebensgeschichte der Ulrike Marie Meinhof" von Alois Prinz zeigt nicht nur, daß das geht, sondern daß es sogar einfach (wenn auch nicht leicht) ist: Man muß eben deutlich machen, daß es das Leben der Dargestellten ist, dem man Gewicht beimißt, nicht ihr Tod - daß es auch anders hätte kommen können und Ulrike Meinhof nicht einen Kompromiß zuviel hätte eingehen müssen, um länger am Leben zu bleiben.
Die traurigste Figur im Geschichtsprozeß ist die des oder der Spätberufenen: "Ulrike Meinhofs Namen verbindet man oft mit der 68er Bewegung, die als ein Aufstand von Studenten, eine Rebellion der jungen Generation gilt", schreibt Alois Prinz. "Dabei vergißt man leicht, daß Ulrike Meinhof damals nicht mehr jung war." Widerstand gegen den Nationalsozialismus konnte sie nicht mehr leisten, der hatte seinen Krieg verloren; an der neuen Bewegung so teilnehmen, wie man an Jugendbewegungen teilnimmt, konnte sie aus dem von Prinz genannten Grund auch nicht, und die militanten Aktionsformen hatten vor ihr andere erprobt; sie kam gerade rechtzeitig, sie begründen zu dürfen.
Das Buch von Prinz teilt mit seinem Gegenstand dieses Moment des Späten, insofern es neben anderem auch eine längst adressatenlose Antwort an jene Kritiker der RAF aus der Linken ist, die im bewaffneten Kampf bloß "anarchistisches Abenteurertum" sehen konnten, das den Staat zu verschärfter Repression einlud. Er war mehr: Er war die Frage an die übrige Linke, wie ernst sie es mit ihrer Politik meine.
Prinz verdeutlicht, daß Meinhofs Weg weniger von der vorhandenen staatlichen Reaktion als von der fehlenden Antwort auf diese sehr berechtigte Frage bestimmt wurde. Katastrophal war, daß sie als Fragezeichen einen apolitischen Todesmut setzte, den sie "Praxis" taufte - Prinz versucht nicht, zu erraten, wie das psychologisch geschah, auch das Ertragen der Nichtbeschreibbarkeit ist eine seiner Künste. Zu jedem historischen oder biographischen Zeitpunkt ist mehr möglich, als praktisch zu ermitteln: Das zeigt er, wo er Leerstellen zeigt. Politik, die "Konsequenz" fetischisiert, zwingt ihre besten Leute, den Unsinn zu glauben, eine Theorie oder Praxis würde dadurch richtiger, daß wer bereit ist, dafür das Leben zu riskieren. Ist Unbeugsamkeit eine Tugend? Er habe sein Rückgrat nicht zum Zerbrechen, sagt Brechts Herr Keuner - ein vorbildlicher Kommunist.
DIETMAR DATH
Alois Prinz: "Lieber wütend als traurig. Die Lebensgeschichte der Ulrike Marie Meinhof". Beltz & Gelberg Verlag, Weinheim 2003. 328 S., geb., 19,- [Euro]. Ab 14 J.
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Christina Thurner lobt diese Ulrike-Meinhof-Biografie von Alois Prinz für sein "unentwegtes Verstehen-Wollen", ohne die Terroristin Meinhof zu verurteilen oder auch zu verteidigen. Gerade für Jugendliche, die ja "die Ereignisse selbst nicht mehr mitbekommen" haben, ist die Art wichtig, wie sie erzählt werden, findet sie. Hier hält sie Prinz zugute, dass er den Leser regelrecht an die Orte führt, wo Meinhof gelebt und als Journalistin gearbeitet hat, wo sie sich politisch engagierte, wo sie verhaftet wurde und wo sie später starb. Eine gründliche Recherche war für diese Arbeit notwendig, glaubt Thurner. Wie sie findet, beschreibt Prinz die gesellschaftlichen und geschichtlichen Zusammenhänge "jugendgerecht ausführlich" und rüttelt an "festgefahrenen Feindbildern", statt Meinhof als gesellschaftlich verdammte "Antiheldin" in die Geschichte eingehen zu lassen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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