Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.02.2000Immer nur lebenslänglich
Bernhard Schlink verhängt Liebesstrafen · Von Thomas Wirtz
Dass Bescheidenheit dem Erfolg nicht hinderlich sein muss, zeigt das Werk von Bernhard Schlink beispielhaft. Seine Sprache schlicht zu nennen wäre bereits eine unerlaubte Anspielung auf ein raffiniertes rhetorisches Kostüm oder eine stilistische Maskerade, die es so nicht gibt. Tatsächlich ist ein Sprachkarneval, eine Konfettiparade ausgelassener Tropen diesem Werk ebnso fremd, wie der endlose Aschermittwoch ihm verwandt ist: Mit bußfertiger Nacktheit tritt Schlinks Syntax hervor und schwört allen verwinkelten Nebensätzen ab. Ein Ding ist ein Ding, dem keine Metapher zu bildseligerem Leben verhilft. Bunt gescheckte Adjektive werden nicht auf die Bühne gelassen, Sprachharlekine mit Schimpf vertrieben. Was zurückbleibt, ist ein freigelegtes Skelett: der moralische Fall.
Auch in seinem jetzt erschienenen Band "Liebesfluchten", einer Sammlung von sieben kurzen Geschichten, erzählt Bernhard Schlink in der alten Tradition des Exempels, das unserem Leben zu denken geben soll. Jemand liebt in knabenjungen Jahren eine ältere Frau, doch die Unscheinbare verschwindet grußlos. Als sie nach Jahren wieder auftaucht, hat sich die reinliche Geliebte in eine entdeckte KZ-Aufseherin verwandelt. Wem von beiden Existenzen hat der Junge die ganzen Nachmittage beigelegen? Und wie soll er sich zwischen beiden entscheiden, um das eine wahrheitsgemäße Wort für ihre Anrede zu finden?
Schlinks Erfolgsroman "Der Vorleser", der sich auf die Frage nach dem richtigen Leben zuspitzte und keinen der großen Ethikbegriffe - Schuld, Sühne, Verantwortung - seinem mageren Realitätenfleisch als Stachel erließ, hatte den knappen Ton bereits angeschlagen. Nur wenige Merkmale besaß die geliebte Hanna Schmitz, und gerade deshalb durfte keines von ihnen überlesen werden; sie waren sinnschwer gerade durch ihre Vereinsamung. Weil Hanna die Liebe nur unter Waschzwang gestattete, badeten ihre Hände vergeblich in Unschuld. Sie tat weniges und nichts umsonst, ihr Äußeres blieb unscheinbar und nur der Charakter interessant: Der Fall Hanna Schmitz stand ohne abgelenkte Blicke zur Verhandlung.
Diese Knappheit hat Methode. Die Rechtsprechung hat die Untersuchung eines beispielhaften Lebens beerbt. Wie früher der exemplarische Mensch der Legende einer war, der nicht essen und trinken musste, um sich einen Charakter zu machen, so will auch das Gericht nur von beschränkten Personen hören: Ausschließlich zur Sache sollen sie sprechen. Dafür hat die Rechtsfindung im Laufe der Zeit die Technik der Subsumtion entwickelt, die das zufällig Besondere einem bewertbaren Allgemeinen beiordnet. Bernhard Schlink, Verfassungsrichter in Nordrhein-Westfalen und Juraprofessor in Berlin, ist auch als Erzähler ein Subsumist, ein Unterordnungskünstler. Jeden Kontingenzballast, jedes selbstvergnügte Detail hat er hinter die Schranken verwiesen, um den Weg zu Urteil und Entscheidung nicht zu gefährden. Umwege sind eine Verschwendung erzählerischer Arbeitskraft, Richtungswechsel eine unzulässige Irreführung des urteilenden Lesers. Der unaufhaltsame Zug zum Buchende hin, der den Schlink-Leser nicht aus dem Roman aussteigen lässt, ist gerichtsnotorisch.
Im besten Falle ist ein solches Erzählen moralisch, ohne dass der Erzähler ein Moralist sein darf: Die Geschichte treibt auf eine bedeutende Entscheidung zu, doch im letzten Moment bleibt das Urteil unausgesprochen. Das Zurückschrecken des Vorlesers war selbst durchtränkt von Schuld, die Eindeutigkeit der juristischen Tatsachen verschwamm in einem Meer moralischer Unwägbarkeiten. Nun, in seinem Band "Liebesfluchten", glückt diese Enthaltsamkeit des letzten Worts nicht immer so gut wie in "Seitensprung". Der offene Schluss, die nachhallende Frage, das unausgesprochene Wort, die abgebrochene Geste: Schlink gelingt meist das Unfertigte, doch wirkt es zuweilen selbstzitiert, manchmal fast handwerklich. Sobald der erzählende Gestalter des Figurenschicksals und der urteilende Moralist aber wie in "Zuckererbsen" sich einig darin sind, an ihrem ungeliebten Helden gemeinsam ein Exempel zu statuieren - der Ehebrecher wird gelähmt und von seinen vereinten Frauen weggeschlossen -, wird aus der Moral die Moritat: das Leben, ein Holzschnitt.
Will die Literatur ihren eigenen Ansprüchen gegenüber gerecht sein, muss sie sich der poetischen Gerechtigkeit - der langweilig vorhersehbaren Bestrafung des Bösen am Schlussvorhang - enthalten. Schlink gelingt es als entlaufenem Juristen nicht immer, so interesselos bei seinen Figuren zu sein. Zuweilen traktiert er sie für ihre blinden Liebesfluchten, erlegt ihnen ein Bußgeld auf oder schickt sie in die Besserungsanstalt des richtigeren Lebens. Er heizt den Figuren ein, erwärmt damit aber nicht zwangsläufig auch den Leser.
Entscheidungen sind die ebenso vergnügte wie verzweifelte Leidenschaft des Bernhard Schlink. Für den Juristen bedeuten sie das Ende aller Begriffsanstrengung, die Zurichtung der kopflosen Wirklichkeit auf den einen Urteilssatz. Mit gleicher Hartnäckigkeit treibt auch der Erzähler seine Figuren durch dieses Nadelöhr hindurch, doch sie verrenken sich bei dieser Lebensgymnastik die Glieder. Schlink nimmt diesen Zwang in Kauf, denn schlimmer noch ist die unterlassene Wahl: das Anhäufen von Möglichkeiten und das Einsammeln aller möglichen Biografien. Thomas, der lächerliche Held der "Zuckererbsen", versucht sich an dieser wahllosen Schlemmerei, indem er Frauen und Vergangenheiten, Hobbys und Wohnungen über das Land streut und wie ein Handlungsreisender bei allen nur zu Besuch bleibt. Es ist das wohl einzige Mal auf allen seinen Buchseiten, dass Schlink mit Hohn über eine Figur zu Gericht sitzt. Der Entscheidungsflüchtling findet vor ihm kein Pardon, ihn beschädigt er mit einer lebenslänglichen Leibstrafe. Schlink zeigt sich als ein voreingenommener Richter, der darüber seine Fabulierlust einzubüßen droht. Diesen Thomas allein mag Schlink unter allen seinen Geschöpfen nicht, und er straft ihn dafür mit einem absurden Schicksal, sich selbst aber mit einem flacheren Ton. Literarisch ist die Abneigung Schlinks schlimmster Feind; wenn er ihr erliegt, findet er kein rechtes Wort mehr.
Alle anderen Geschichten nehmen die Entscheidung auf sich, und es wird ihnen mit einem verzweifelten Scheitern vom Autor dafür gedankt. Schlink ist virtuos in seiner Treue gegenüber dem geplatzten Utopieballon, sehnsüchtig hält er die Leine noch in Händen, wenn er auch nur bunte Fetzen hinter sich herziehen kann. Im Dreck liegen dann die ungelebten Möglichkeiten, die ungeliebten Frauen, die verpassten Verabredungen. Melancholie ist Schlinks Antwort auf diese immer nur theoretisch bleibende Vielfalt.
Die vielen Möglichkeiten gründen in einem Dilemma. Schon im "Vorleser" war die Obsession für den Liebesakt auffällig. Auch die "Liebesfluchten" versäumen nicht, den Beischlaf in allen Mannesaltern anzusprechen. Wer aber im ersten Roman glaubte, die Verführung eines Fünfzehnjährigen sei vielleicht entwicklungsgeschichtlich doch etwas bedenklich, hat die Zahl seiner wahren Lebensjahre falsch zusammengezählt. Die Helden Schlinks sind, mag ihr biologisch zufällig gestreutes Alter auch anderes sagen, alles gesetzte Männer; sie alle sind von der ersten Erregung an geschlagen mit der Einsicht, nicht allen Frauen beiliegen zu können. Das nimmt ihnen die pubertäre Leichtigkeit und macht sie zu stillen Verzweiflern, zu hoffnungslosen Entdeckungsreisenden. Sie haben das Leben schon durchlitten, bevor sie mit dem Lieben anfangen. Wenn sie am Ende tatsächlich wie der ältere Mann in der Geschichte "Die Frau an der Tankstelle" aus Ehe, Verhältnis, Bausparvertrag und Rentenanspruch aussteigen und die Utopie als Endlosschleife neu durchlaufen wollen, dann können sie Schlinks Sympathie wie seines Urteilsspruchs sicher sein. Verhalten applaudiert er diesen Midlife-Rittern der traurigen Gestalt für ihren Mut, doch die Folgen dieser Selbstverwirklichung und den Verrat an ihren Lebenspartner erlässt er ihnen nicht. Am Leiden kommen sie auf keinen Fall vorbei.
Bernhard Schlink hat über die "Abwägung" promoviert. Sie ist das Perspektiv, durch das er seine Blicke auf die private und öffentliche Geschichte richtet. Auch in seinen neuen Kurzgeschichten umkreist er die Wendepunkte der Bundesrepublik: die fortdauernde Schuld der Nazizeit, den egoistischen Protest der Achtundsechziger, den kurzatmigen Aufbruch von 1989. Diese Epochen geben seinem Abwägen die Stichworte vor, doch bleibt ihr historisches Kolorit blass. Denn die Historie wird von der gleichen Vergeblichkeit erfasst, von der auch das private Leben eingefärbt ist. Zwischen ihnen herrscht nur der Unterschied, dass am Achselhaar der Geschichte nicht so sinnlich-sentimental gerochen werden kann. Bernhard Schlink hat wieder seinen ebenso lehrhaft trockenen wie verschämt leidenden, seinen unverwechselbaren Ton angeschlagen, der aus dem "Vorleser" in den neuen Band hinüberklingt. Jetzt muss er nur noch seine Variation finden.
Bernhard Schlink: "Liebesfluchten". Geschichten. Diogenes Verlag, Zürich 2000. 308 S., geb., 39,90 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Bernhard Schlink verhängt Liebesstrafen · Von Thomas Wirtz
Dass Bescheidenheit dem Erfolg nicht hinderlich sein muss, zeigt das Werk von Bernhard Schlink beispielhaft. Seine Sprache schlicht zu nennen wäre bereits eine unerlaubte Anspielung auf ein raffiniertes rhetorisches Kostüm oder eine stilistische Maskerade, die es so nicht gibt. Tatsächlich ist ein Sprachkarneval, eine Konfettiparade ausgelassener Tropen diesem Werk ebnso fremd, wie der endlose Aschermittwoch ihm verwandt ist: Mit bußfertiger Nacktheit tritt Schlinks Syntax hervor und schwört allen verwinkelten Nebensätzen ab. Ein Ding ist ein Ding, dem keine Metapher zu bildseligerem Leben verhilft. Bunt gescheckte Adjektive werden nicht auf die Bühne gelassen, Sprachharlekine mit Schimpf vertrieben. Was zurückbleibt, ist ein freigelegtes Skelett: der moralische Fall.
Auch in seinem jetzt erschienenen Band "Liebesfluchten", einer Sammlung von sieben kurzen Geschichten, erzählt Bernhard Schlink in der alten Tradition des Exempels, das unserem Leben zu denken geben soll. Jemand liebt in knabenjungen Jahren eine ältere Frau, doch die Unscheinbare verschwindet grußlos. Als sie nach Jahren wieder auftaucht, hat sich die reinliche Geliebte in eine entdeckte KZ-Aufseherin verwandelt. Wem von beiden Existenzen hat der Junge die ganzen Nachmittage beigelegen? Und wie soll er sich zwischen beiden entscheiden, um das eine wahrheitsgemäße Wort für ihre Anrede zu finden?
Schlinks Erfolgsroman "Der Vorleser", der sich auf die Frage nach dem richtigen Leben zuspitzte und keinen der großen Ethikbegriffe - Schuld, Sühne, Verantwortung - seinem mageren Realitätenfleisch als Stachel erließ, hatte den knappen Ton bereits angeschlagen. Nur wenige Merkmale besaß die geliebte Hanna Schmitz, und gerade deshalb durfte keines von ihnen überlesen werden; sie waren sinnschwer gerade durch ihre Vereinsamung. Weil Hanna die Liebe nur unter Waschzwang gestattete, badeten ihre Hände vergeblich in Unschuld. Sie tat weniges und nichts umsonst, ihr Äußeres blieb unscheinbar und nur der Charakter interessant: Der Fall Hanna Schmitz stand ohne abgelenkte Blicke zur Verhandlung.
Diese Knappheit hat Methode. Die Rechtsprechung hat die Untersuchung eines beispielhaften Lebens beerbt. Wie früher der exemplarische Mensch der Legende einer war, der nicht essen und trinken musste, um sich einen Charakter zu machen, so will auch das Gericht nur von beschränkten Personen hören: Ausschließlich zur Sache sollen sie sprechen. Dafür hat die Rechtsfindung im Laufe der Zeit die Technik der Subsumtion entwickelt, die das zufällig Besondere einem bewertbaren Allgemeinen beiordnet. Bernhard Schlink, Verfassungsrichter in Nordrhein-Westfalen und Juraprofessor in Berlin, ist auch als Erzähler ein Subsumist, ein Unterordnungskünstler. Jeden Kontingenzballast, jedes selbstvergnügte Detail hat er hinter die Schranken verwiesen, um den Weg zu Urteil und Entscheidung nicht zu gefährden. Umwege sind eine Verschwendung erzählerischer Arbeitskraft, Richtungswechsel eine unzulässige Irreführung des urteilenden Lesers. Der unaufhaltsame Zug zum Buchende hin, der den Schlink-Leser nicht aus dem Roman aussteigen lässt, ist gerichtsnotorisch.
Im besten Falle ist ein solches Erzählen moralisch, ohne dass der Erzähler ein Moralist sein darf: Die Geschichte treibt auf eine bedeutende Entscheidung zu, doch im letzten Moment bleibt das Urteil unausgesprochen. Das Zurückschrecken des Vorlesers war selbst durchtränkt von Schuld, die Eindeutigkeit der juristischen Tatsachen verschwamm in einem Meer moralischer Unwägbarkeiten. Nun, in seinem Band "Liebesfluchten", glückt diese Enthaltsamkeit des letzten Worts nicht immer so gut wie in "Seitensprung". Der offene Schluss, die nachhallende Frage, das unausgesprochene Wort, die abgebrochene Geste: Schlink gelingt meist das Unfertigte, doch wirkt es zuweilen selbstzitiert, manchmal fast handwerklich. Sobald der erzählende Gestalter des Figurenschicksals und der urteilende Moralist aber wie in "Zuckererbsen" sich einig darin sind, an ihrem ungeliebten Helden gemeinsam ein Exempel zu statuieren - der Ehebrecher wird gelähmt und von seinen vereinten Frauen weggeschlossen -, wird aus der Moral die Moritat: das Leben, ein Holzschnitt.
Will die Literatur ihren eigenen Ansprüchen gegenüber gerecht sein, muss sie sich der poetischen Gerechtigkeit - der langweilig vorhersehbaren Bestrafung des Bösen am Schlussvorhang - enthalten. Schlink gelingt es als entlaufenem Juristen nicht immer, so interesselos bei seinen Figuren zu sein. Zuweilen traktiert er sie für ihre blinden Liebesfluchten, erlegt ihnen ein Bußgeld auf oder schickt sie in die Besserungsanstalt des richtigeren Lebens. Er heizt den Figuren ein, erwärmt damit aber nicht zwangsläufig auch den Leser.
Entscheidungen sind die ebenso vergnügte wie verzweifelte Leidenschaft des Bernhard Schlink. Für den Juristen bedeuten sie das Ende aller Begriffsanstrengung, die Zurichtung der kopflosen Wirklichkeit auf den einen Urteilssatz. Mit gleicher Hartnäckigkeit treibt auch der Erzähler seine Figuren durch dieses Nadelöhr hindurch, doch sie verrenken sich bei dieser Lebensgymnastik die Glieder. Schlink nimmt diesen Zwang in Kauf, denn schlimmer noch ist die unterlassene Wahl: das Anhäufen von Möglichkeiten und das Einsammeln aller möglichen Biografien. Thomas, der lächerliche Held der "Zuckererbsen", versucht sich an dieser wahllosen Schlemmerei, indem er Frauen und Vergangenheiten, Hobbys und Wohnungen über das Land streut und wie ein Handlungsreisender bei allen nur zu Besuch bleibt. Es ist das wohl einzige Mal auf allen seinen Buchseiten, dass Schlink mit Hohn über eine Figur zu Gericht sitzt. Der Entscheidungsflüchtling findet vor ihm kein Pardon, ihn beschädigt er mit einer lebenslänglichen Leibstrafe. Schlink zeigt sich als ein voreingenommener Richter, der darüber seine Fabulierlust einzubüßen droht. Diesen Thomas allein mag Schlink unter allen seinen Geschöpfen nicht, und er straft ihn dafür mit einem absurden Schicksal, sich selbst aber mit einem flacheren Ton. Literarisch ist die Abneigung Schlinks schlimmster Feind; wenn er ihr erliegt, findet er kein rechtes Wort mehr.
Alle anderen Geschichten nehmen die Entscheidung auf sich, und es wird ihnen mit einem verzweifelten Scheitern vom Autor dafür gedankt. Schlink ist virtuos in seiner Treue gegenüber dem geplatzten Utopieballon, sehnsüchtig hält er die Leine noch in Händen, wenn er auch nur bunte Fetzen hinter sich herziehen kann. Im Dreck liegen dann die ungelebten Möglichkeiten, die ungeliebten Frauen, die verpassten Verabredungen. Melancholie ist Schlinks Antwort auf diese immer nur theoretisch bleibende Vielfalt.
Die vielen Möglichkeiten gründen in einem Dilemma. Schon im "Vorleser" war die Obsession für den Liebesakt auffällig. Auch die "Liebesfluchten" versäumen nicht, den Beischlaf in allen Mannesaltern anzusprechen. Wer aber im ersten Roman glaubte, die Verführung eines Fünfzehnjährigen sei vielleicht entwicklungsgeschichtlich doch etwas bedenklich, hat die Zahl seiner wahren Lebensjahre falsch zusammengezählt. Die Helden Schlinks sind, mag ihr biologisch zufällig gestreutes Alter auch anderes sagen, alles gesetzte Männer; sie alle sind von der ersten Erregung an geschlagen mit der Einsicht, nicht allen Frauen beiliegen zu können. Das nimmt ihnen die pubertäre Leichtigkeit und macht sie zu stillen Verzweiflern, zu hoffnungslosen Entdeckungsreisenden. Sie haben das Leben schon durchlitten, bevor sie mit dem Lieben anfangen. Wenn sie am Ende tatsächlich wie der ältere Mann in der Geschichte "Die Frau an der Tankstelle" aus Ehe, Verhältnis, Bausparvertrag und Rentenanspruch aussteigen und die Utopie als Endlosschleife neu durchlaufen wollen, dann können sie Schlinks Sympathie wie seines Urteilsspruchs sicher sein. Verhalten applaudiert er diesen Midlife-Rittern der traurigen Gestalt für ihren Mut, doch die Folgen dieser Selbstverwirklichung und den Verrat an ihren Lebenspartner erlässt er ihnen nicht. Am Leiden kommen sie auf keinen Fall vorbei.
Bernhard Schlink hat über die "Abwägung" promoviert. Sie ist das Perspektiv, durch das er seine Blicke auf die private und öffentliche Geschichte richtet. Auch in seinen neuen Kurzgeschichten umkreist er die Wendepunkte der Bundesrepublik: die fortdauernde Schuld der Nazizeit, den egoistischen Protest der Achtundsechziger, den kurzatmigen Aufbruch von 1989. Diese Epochen geben seinem Abwägen die Stichworte vor, doch bleibt ihr historisches Kolorit blass. Denn die Historie wird von der gleichen Vergeblichkeit erfasst, von der auch das private Leben eingefärbt ist. Zwischen ihnen herrscht nur der Unterschied, dass am Achselhaar der Geschichte nicht so sinnlich-sentimental gerochen werden kann. Bernhard Schlink hat wieder seinen ebenso lehrhaft trockenen wie verschämt leidenden, seinen unverwechselbaren Ton angeschlagen, der aus dem "Vorleser" in den neuen Band hinüberklingt. Jetzt muss er nur noch seine Variation finden.
Bernhard Schlink: "Liebesfluchten". Geschichten. Diogenes Verlag, Zürich 2000. 308 S., geb., 39,90 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Was man für einen geliebten Menschen zu tun oder aufzugeben bereit ist oder eben nicht, ob man vernachlässigt, betrogen oder getäuscht wird oder es selber tut - Liebe ist nie etwas Einfaches, Rationales oder Eindimensionales. Vieles, was man aus Liebe tut, erkennt man selbst oder der Geliebte erst viel später. Manchmal zu spät. In sieben Geschichten erzählt Bernhard Schlink, Autor des preisgekrönten Romans "Der Vorleser", nachdenkliche, schöne und manchmal auch traurige Episoden aus dem Leben von Liebenden, die versuchen, einander nahe zu sein, ohne sich selbst zu verleugnen. Dabei legt er das Innerste seiner Charaktere behutsam und ohne verletzende Spitzen offen. Schlink überlässt es ganz dem Leser, das Verhalten der Figuren zu bewerten, und genau das ist es, was das Buch auszeichnet. (www.parship.de)
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 29.01.2000Der wunde Punkt
Neue Erzählungen des „Vorlesers” Bernhard Schlink
Ein Mann belügt seine Frau. Er hat Angst und will sie retten. Eine Frau betrügt ihren Mann. Das merkt er erst nach ihrem Tod. Er ist eifersüchtig und neugierig, später begreift er, weshalb seine Frau das getan hat. Ein Mann hat eine Frau in Berlin und eine in Hamburg. Er hat weder auf die Liebe noch auf die Arbeit Lust. Alles gelingt ihm, das macht ihn krank. Ein Deutscher verliebt sich in eine New Yorker Jüdin, aber er mag ihre Fragen nicht und sie nicht seine Antworten. Ein älteres Ehepaar begibt sich auf eine Reise und versucht seine frühere Liebe wiederzufinden. An einer gottverlassenen Tankstelle will der Mann aussteigen und zur Unbekannten gehen, die ihm das Benzin in den Tank des Mietwagens gefüllt hat.
Sind die Menschen zu retten? Sie merken nicht, was um sie herum geschieht, sie liegen Jahrzehnte zusammen mit einer Frau, einem Mann im Bett, sie kennen vom anderen jede Hose, jede Speckfalte, aber kaum einen vollständigen Gedanken. Sie rennen davon und wissen nicht wohin! Alle Personen in den sieben Erzählungen des Bandes Liebesfluchten von Bernhard Schlink verheimlichen etwas und sind gleichzeitig im Dickicht des Lebens und im Gestrüpp der Fiktionen auf dem Sprung nach der „wahren Empfindung”. Ihre Krise ist die Folge ihrer Ignoranz, nur ihre Motivationen sind unterschiedlich. Mit seinen Beschreibungen packt uns Bernhard Schlink am Wickel, egal ob man alt ist oder jung oder keines von beidem. Der Erzähler drängt alle in die Ecke und zeigt auf die Leere. Die Leere ist der neuralgische Lebenspunkt, das störungsanfällige Revier.
Mit seinem Roman Der Vorleser hat der 55-jährige Professor für Öffentliches Recht an der Berliner Humboldt-Universität Emotionen entfacht, die ihn zum Bestsellerautor machten. Der Vorleser wurde in 27 Sprachen übersetzt, über die Auflagenhöhe in Millionen schweigen Autor und Verlag, um die Neider nicht noch mehr zu reizen. Als Oprah Winfrey den im März 1999 in Amerika erschienenen Reader in ihrer Sendung Bookclub vorstellte, kauften Zehntausende das Buch. Im Vorleser verliebt sich ein fünfzehnjähriger Junge in eine ältere Frau. Hanna zeigt ihm die Sexualität, aber vorher muss der Junge ihr vorlesen. Hannas eigene Geschichte erfährt der Junge, der inzwischen Jura studiert, Jahre später im Gerichtssaal. In Auschwitz und in einem Lager bei Krakau war Hanna KZ-Wärterin.
Mit dem Vorleser gelang Bernhard Schlink, der mit Kriminalromanen seine zweite Laufbahn als Buchautor begonnen hatte, ein schockierendes Buch. Die Frau, die das erotische Glück des Jungen war, wird als Verbrecherin überführt. Der Anteil der Realität an der fiktiven Geschichte schien so hoch, dass sich die Leser mit dem schüchternen Heidelberger Oberschüler und dem Brillenmodell von der Krankenkasse und den Haaren eines „zausen Mops” identifizierten. Ähnliches ist auch jetzt zu erwarten, obwohl Bernhard Schlink ein sachlicher und kein genialer Erzähler ist. Er spielt nicht mit der Sprache, er setzt sie nüchtern ein, um hinter das Unausgesprochene in den politischen und privaten Verhältnissen zu kommen. Er stellt mit seinen moralischen Geschichten, die aber weder überheblich noch moralisch triumphierend sind, Fragen, die er unauffällig beantwortet. Keine der Erzählungen ist ohne tieferen Sinn.
Immer gibt es ein Indiz
Und wie macht er das? Das Muster ist einfach. Schlink beschreibt nicht das Äußere der Personen, sondern das Milieu des Autoritären, das sie geprägt hat und das Mitleid, das sie empfinden, besonders „mit sich selbst”. Er beschreibt die wilhelminischen Backsteinfassaden der Häuser, die wuchtigen Möbel, die Atmosphäre im Arbeitszimmer des Vaters, hier stand die Couch, hier, unter dem Bild vom „Mädchen mit der Eidechse” musste der Junge seinen Mittagsschlaf halten. In Schlinks Geschichten gibt es immer ein Indiz. Das kann ein Bild, ein Traum, ein Brief, ein gesprochener Satz sein. Das Bild, das der Ich-Erzähler mit in seine Studentenbude nimmt, besetzt sein Zimmer, seine Phantasie, sein Leben. Es beansprucht und fordert ihn. Er erforscht die Herkunft des Bildes und stößt auf die NS-Vergangenheit des Bildes und seines eigenen Vaters. Die Mutter sagt: „Weißt du, ihr Kinder seid nicht weniger grausam, als wir Eltern es waren. Selbstgerechter seid ihr, das ist alles. ”
Zur Geschichte der Irrtümer gehört die Ost-Freundschaft mit Sven und Paula. Man lernte sich beim Schachspielen am Müggelsee 1986 kennen. „Dank ihrer war ich in ganz Berlin zu Hause, fast in ganz Deutschland, fast in der ganzen Welt. ” Es sollte eine Freundschaft und keine Austauschbeziehung sein. Nach dem Fall der Mauer wurden die Besuche spärlicher. Jeder hatte viel zu tun: „Häuser sanieren, Steuervorteile nutzen, Geschäfte machen, reich werden, reisen”. Wieder setzt Bernhard Schlink, ein Kind ein, das zwischen den in die politischen Verhältnisse verstrickten Erwachsenen und der wahren Empfindung vermittelt. Wieder versucht er, jede Überheblichkeit gegen den IM Sven zu vermeiden. Dass es Parallelen zwischen der Geschichte des „Mädchens mit der Eidechse” und dem „Seitensprung”, zwischen dem Versagen der Menschen im Dritten Reich und in der DDR gab, beweisen die geduckten aus der Bahn geworfenen Personen. Sie sind verführbar und können dem Druck des Systems nicht widerstehen.
Bernhard Schlink vermeidet Rechtfertigungen und spätbürgerliche Schwanengesänge. Er stellt die schwer zu stellenden „einfachen Fragen”. Sarah in der gläubigen jüdischen Familie in New York aufgewachsen, ist zum ersten Mal in Deutschland. Sie stellt die neuralgischen Fragen. Weshalb die Deutschen „Chaos” nicht ertragen können und weshalb, fragt Sarah, fasst du uns mit „spitzen Fingern” an? Und warum „kennen wir diese kalte Art nur von Deutschen?”. Andy fürchtet sich vor den Gesprächen und schneidet „seine Liebe immer kleiner zu”. Schlink lässt Walsers Wegsehen nicht gelten. Er beharrt auf der Verantwortung der Nachgeborenen: „Du bist Deutscher, da hast du mit dem Holocaust zu tun. ” „Entweder sie wird wie ich, oder ich werde wie sie. Man erträgt nur seinesgleichen. ” Solche kleinen Bemerkungen sind der Wirkstoff des Buches. Die besten Erzählungen des Bandes: „Das Mädchen mit der Eidechse”, „Der Seitensprung” und „Die Beschneidung” setzen sich mit den Folgen des Nationalsozialismus und des verlorenen Krieges auseinander. Schlink beschreibt das „schlechte Gewissen” und die Folgen. Sein genaues Auge erkennt die Fallen.
So ist es auch in der Geschichte vom Mann, dessen Frau an Krebs gestorben ist und einen Brief von einem Liebhaber bekommt, der dem Witwer die „Vertrautheit ihres gemeinsamen Lebens” offenbart. Die Erzählung „Der Andere” ist obskur ausgepolstert, aber man hat solche Don-Giovanni-Varianten zuletzt bei Gianluigi Melegas Major Aebi angetroffen. Die äußere Geschichte ist auch nicht das, was Schlink interessiert. Lisas Liebhaber, ist ein Schwadroneur und Versager, Lisas Ehemann ein Monster an Effizienz und Rechtschaffenheit. „Sie sehen nur, was sich Ihnen darbietet”, sagt der Liebhaber, „und nicht, was sich darunter verbirgt. ” Dieser Satz ist der Schreibimpuls Bernhard Schlinks. Er sucht das „Verborgene”: die Vergangenheit, die unausgesprochenen Fragen und die unterlassenen Antworten, die vergessene Zärtlichkeit. Die Figur, mit der er sich am besten auskennt, ist Jurist, trägt eine Brille, hat einen Kopf voller Locken und lebt zurückgezogen. Ähnlichkeiten mit dem Autor sind offensichtlich und doch frei erfunden. In Liebesfluchten ist der Erzähler Bernhard Schlink der Archäologe des Gefühls. Er findet den wunden Punkt der deutschen Gegenwart. Das ist ergreifend und kunstlos kühn.
VERENA AUFFERMANN
BERNHARD SCHLINK: Liebesfluchten. Erzählungen. Diogenes Verlag, Zürich 2000. 308 Seiten, 39,90 Mark.
Der Autor, den (auch) Amerika entdeckte: Bernhard Schlink
Foto: Isolde Ohlbaum
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Neue Erzählungen des „Vorlesers” Bernhard Schlink
Ein Mann belügt seine Frau. Er hat Angst und will sie retten. Eine Frau betrügt ihren Mann. Das merkt er erst nach ihrem Tod. Er ist eifersüchtig und neugierig, später begreift er, weshalb seine Frau das getan hat. Ein Mann hat eine Frau in Berlin und eine in Hamburg. Er hat weder auf die Liebe noch auf die Arbeit Lust. Alles gelingt ihm, das macht ihn krank. Ein Deutscher verliebt sich in eine New Yorker Jüdin, aber er mag ihre Fragen nicht und sie nicht seine Antworten. Ein älteres Ehepaar begibt sich auf eine Reise und versucht seine frühere Liebe wiederzufinden. An einer gottverlassenen Tankstelle will der Mann aussteigen und zur Unbekannten gehen, die ihm das Benzin in den Tank des Mietwagens gefüllt hat.
Sind die Menschen zu retten? Sie merken nicht, was um sie herum geschieht, sie liegen Jahrzehnte zusammen mit einer Frau, einem Mann im Bett, sie kennen vom anderen jede Hose, jede Speckfalte, aber kaum einen vollständigen Gedanken. Sie rennen davon und wissen nicht wohin! Alle Personen in den sieben Erzählungen des Bandes Liebesfluchten von Bernhard Schlink verheimlichen etwas und sind gleichzeitig im Dickicht des Lebens und im Gestrüpp der Fiktionen auf dem Sprung nach der „wahren Empfindung”. Ihre Krise ist die Folge ihrer Ignoranz, nur ihre Motivationen sind unterschiedlich. Mit seinen Beschreibungen packt uns Bernhard Schlink am Wickel, egal ob man alt ist oder jung oder keines von beidem. Der Erzähler drängt alle in die Ecke und zeigt auf die Leere. Die Leere ist der neuralgische Lebenspunkt, das störungsanfällige Revier.
Mit seinem Roman Der Vorleser hat der 55-jährige Professor für Öffentliches Recht an der Berliner Humboldt-Universität Emotionen entfacht, die ihn zum Bestsellerautor machten. Der Vorleser wurde in 27 Sprachen übersetzt, über die Auflagenhöhe in Millionen schweigen Autor und Verlag, um die Neider nicht noch mehr zu reizen. Als Oprah Winfrey den im März 1999 in Amerika erschienenen Reader in ihrer Sendung Bookclub vorstellte, kauften Zehntausende das Buch. Im Vorleser verliebt sich ein fünfzehnjähriger Junge in eine ältere Frau. Hanna zeigt ihm die Sexualität, aber vorher muss der Junge ihr vorlesen. Hannas eigene Geschichte erfährt der Junge, der inzwischen Jura studiert, Jahre später im Gerichtssaal. In Auschwitz und in einem Lager bei Krakau war Hanna KZ-Wärterin.
Mit dem Vorleser gelang Bernhard Schlink, der mit Kriminalromanen seine zweite Laufbahn als Buchautor begonnen hatte, ein schockierendes Buch. Die Frau, die das erotische Glück des Jungen war, wird als Verbrecherin überführt. Der Anteil der Realität an der fiktiven Geschichte schien so hoch, dass sich die Leser mit dem schüchternen Heidelberger Oberschüler und dem Brillenmodell von der Krankenkasse und den Haaren eines „zausen Mops” identifizierten. Ähnliches ist auch jetzt zu erwarten, obwohl Bernhard Schlink ein sachlicher und kein genialer Erzähler ist. Er spielt nicht mit der Sprache, er setzt sie nüchtern ein, um hinter das Unausgesprochene in den politischen und privaten Verhältnissen zu kommen. Er stellt mit seinen moralischen Geschichten, die aber weder überheblich noch moralisch triumphierend sind, Fragen, die er unauffällig beantwortet. Keine der Erzählungen ist ohne tieferen Sinn.
Immer gibt es ein Indiz
Und wie macht er das? Das Muster ist einfach. Schlink beschreibt nicht das Äußere der Personen, sondern das Milieu des Autoritären, das sie geprägt hat und das Mitleid, das sie empfinden, besonders „mit sich selbst”. Er beschreibt die wilhelminischen Backsteinfassaden der Häuser, die wuchtigen Möbel, die Atmosphäre im Arbeitszimmer des Vaters, hier stand die Couch, hier, unter dem Bild vom „Mädchen mit der Eidechse” musste der Junge seinen Mittagsschlaf halten. In Schlinks Geschichten gibt es immer ein Indiz. Das kann ein Bild, ein Traum, ein Brief, ein gesprochener Satz sein. Das Bild, das der Ich-Erzähler mit in seine Studentenbude nimmt, besetzt sein Zimmer, seine Phantasie, sein Leben. Es beansprucht und fordert ihn. Er erforscht die Herkunft des Bildes und stößt auf die NS-Vergangenheit des Bildes und seines eigenen Vaters. Die Mutter sagt: „Weißt du, ihr Kinder seid nicht weniger grausam, als wir Eltern es waren. Selbstgerechter seid ihr, das ist alles. ”
Zur Geschichte der Irrtümer gehört die Ost-Freundschaft mit Sven und Paula. Man lernte sich beim Schachspielen am Müggelsee 1986 kennen. „Dank ihrer war ich in ganz Berlin zu Hause, fast in ganz Deutschland, fast in der ganzen Welt. ” Es sollte eine Freundschaft und keine Austauschbeziehung sein. Nach dem Fall der Mauer wurden die Besuche spärlicher. Jeder hatte viel zu tun: „Häuser sanieren, Steuervorteile nutzen, Geschäfte machen, reich werden, reisen”. Wieder setzt Bernhard Schlink, ein Kind ein, das zwischen den in die politischen Verhältnisse verstrickten Erwachsenen und der wahren Empfindung vermittelt. Wieder versucht er, jede Überheblichkeit gegen den IM Sven zu vermeiden. Dass es Parallelen zwischen der Geschichte des „Mädchens mit der Eidechse” und dem „Seitensprung”, zwischen dem Versagen der Menschen im Dritten Reich und in der DDR gab, beweisen die geduckten aus der Bahn geworfenen Personen. Sie sind verführbar und können dem Druck des Systems nicht widerstehen.
Bernhard Schlink vermeidet Rechtfertigungen und spätbürgerliche Schwanengesänge. Er stellt die schwer zu stellenden „einfachen Fragen”. Sarah in der gläubigen jüdischen Familie in New York aufgewachsen, ist zum ersten Mal in Deutschland. Sie stellt die neuralgischen Fragen. Weshalb die Deutschen „Chaos” nicht ertragen können und weshalb, fragt Sarah, fasst du uns mit „spitzen Fingern” an? Und warum „kennen wir diese kalte Art nur von Deutschen?”. Andy fürchtet sich vor den Gesprächen und schneidet „seine Liebe immer kleiner zu”. Schlink lässt Walsers Wegsehen nicht gelten. Er beharrt auf der Verantwortung der Nachgeborenen: „Du bist Deutscher, da hast du mit dem Holocaust zu tun. ” „Entweder sie wird wie ich, oder ich werde wie sie. Man erträgt nur seinesgleichen. ” Solche kleinen Bemerkungen sind der Wirkstoff des Buches. Die besten Erzählungen des Bandes: „Das Mädchen mit der Eidechse”, „Der Seitensprung” und „Die Beschneidung” setzen sich mit den Folgen des Nationalsozialismus und des verlorenen Krieges auseinander. Schlink beschreibt das „schlechte Gewissen” und die Folgen. Sein genaues Auge erkennt die Fallen.
So ist es auch in der Geschichte vom Mann, dessen Frau an Krebs gestorben ist und einen Brief von einem Liebhaber bekommt, der dem Witwer die „Vertrautheit ihres gemeinsamen Lebens” offenbart. Die Erzählung „Der Andere” ist obskur ausgepolstert, aber man hat solche Don-Giovanni-Varianten zuletzt bei Gianluigi Melegas Major Aebi angetroffen. Die äußere Geschichte ist auch nicht das, was Schlink interessiert. Lisas Liebhaber, ist ein Schwadroneur und Versager, Lisas Ehemann ein Monster an Effizienz und Rechtschaffenheit. „Sie sehen nur, was sich Ihnen darbietet”, sagt der Liebhaber, „und nicht, was sich darunter verbirgt. ” Dieser Satz ist der Schreibimpuls Bernhard Schlinks. Er sucht das „Verborgene”: die Vergangenheit, die unausgesprochenen Fragen und die unterlassenen Antworten, die vergessene Zärtlichkeit. Die Figur, mit der er sich am besten auskennt, ist Jurist, trägt eine Brille, hat einen Kopf voller Locken und lebt zurückgezogen. Ähnlichkeiten mit dem Autor sind offensichtlich und doch frei erfunden. In Liebesfluchten ist der Erzähler Bernhard Schlink der Archäologe des Gefühls. Er findet den wunden Punkt der deutschen Gegenwart. Das ist ergreifend und kunstlos kühn.
VERENA AUFFERMANN
BERNHARD SCHLINK: Liebesfluchten. Erzählungen. Diogenes Verlag, Zürich 2000. 308 Seiten, 39,90 Mark.
Der Autor, den (auch) Amerika entdeckte: Bernhard Schlink
Foto: Isolde Ohlbaum
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
»Bernhard Schlink gehört zu den größten Begabungen der deutschen Gegenwartsliteratur. Er ist ein einfühlsamer, scharf beobachtender und überaus intelligenter Erzähler. Seine Prosa ist klar, präzise und von schöner Eleganz.« Michael Kluger / Frankfurter Neue Presse Frankfurter Neue Presse