'Liebesgedichte', herausgegeben und ausgewählt von Silke Scheuermann, versammelt die schönsten Liebeserklärungen der großen Dichterin Helga M. Novak, die in diesem Jahr mit dem Christian-Wagner-Preis geehrt wurde. In diesem Band steckt alles, was die Lyrik Helga M. Novaks über Jahrzehnte ausgemacht hat und noch heute prägt: Witz, Direktheit, Archaik, Sex. Und: Natur. In Helga M. Novaks Liebesgedichten spielen sich entweder die großen Komödien ab, oder sie sind endlos tragisch, aber immer lauert irgendwo dahinter die utopische Möglichkeit, dass es eine Idylle gibt. Helga M. Novaks Liebeslyrik erlaubt einen anderen Blick auf die Schriftstellerin, die große politische Lyrikerin, die Verfasserin autobiographischer Prosa und die Natursängerin, die auch eine große Liebesdichterin ist.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.09.2010Mein Obdach und meine Verwilderung
Verloren ohne Wald: In Helga M. Novaks Gedichten offenbart sich eine robuste Liebe
Die Ausnahme in Helga M. Novaks Liebesgedichten bleiben rührende Situationen, wie die des Gedichts, in dem ein trauernder Schwan dem dahintreibenden Leichnam seiner Gefährtin als ein "trostloser Wanderer" am Ufer entlang das Geleit gibt. Eine robuste Liebe vielmehr offenbart sich in ihren Texten: "und die Haare in deinen Achselhöhlen / die schmecken nach Salz und Schweiß", "du brennst in den Spalten", "ich rieche dich und will dich". Vergafft ist die Liebende in die "holzigen Lenden" des Geliebten, auf den "Wildbeuter" hat sie gewartet. Wie die sich begattenden Nachtfalter, die noch im Fall untrennbar bleiben, sind die Liebenden einander verfallen.
Liebe als Lebenselixier hilft aber auch jener Kraft, mit der sich Helga M. Novak gegen politische Unterwerfung gewappnet hat. In Berlin geboren, zu DDR-Zeiten in eine Kaderschule aufgenommen, mit Unterbrechungen nach Island verschlagen, wo sie heiratete und zwei Kinder bekam, Studium am Leipziger Literaturinstitut, dem Hinauswurf folgend die Aberkennung der DDR-Staatsangehörigkeit - das sind keine Lebensstadien einer Angepassten. Ein großes vierzehnteiliges Gedicht ("Pate") handelt von der Liebe im Überwachungsstaat, von heimlichem Aufpassertum, von gefälschten Protokollen, von Vertrauensbruch und Liebesverrat.
Silke Scheuermann, selbst Lyrikerin, Herausgeberin dieser Anthologie von Liebesgedichten und Autorin eines inspirierten Nachworts, hat sich nicht für eine biographisch-chronologische, sondern eine thematisch bestimmte Sammlung entschieden und damit die biographische Spur in den Einzelgedichten überdeckt zugunsten durchgehender Grundsituationen. Sie sind zusammengefasst unter den vier Abschnittstiteln "Frühling", "Alltage", "Verlassen" und "Artemisleben". Trotz der unerhört sinnlichen Sprache der Gedichte ist nicht Aphrodite, die durch ihre Schönheit hinreißende Verführerin, die Wahlgöttin der Lyrikerin, sondern Artemis, die vielgestaltigste unter den griechischen Göttinnen. Gewiss, mit der jungfräulichen Strenge, mit der Artemis über die Tugend ihrer Nymphen und Priesterinnen wacht, lassen sich die Gedichte nicht zur Deckung bringen (ein paarmal allerdings taucht signalhaft das Wort "Enthaltsamkeit" auf), wohl aber mit Artemis als dem Inbild einer Leben erzeugenden oder hegenden Naturkraft, mit der Göttin, die Tiere zugleich pflegt und jagt, mit der Jägerin in der Wildnis. Dazu muss man wissen, dass Helga M. Novak seit mehr als zwanzig Jahren ihren festen Wohnsitz in Polen hat, in einem Wald, in der Wildnis. "Landschaft Erde Natur / alles weiblich / dahin will ich gehen"; sie wäre "verloren ohne Wald".
Hier scheint nach langer Suche und den Kämpfen der Selbstbehauptung die Dichterin zu ihrem anderen Ich gefunden zu haben. So heißt es im Gedicht "dieser Wald": "Traum meiner Kinderjahre unentwegtes Gehen / Erfüllung und Erinnerung Wald so zerschossen und / gerupft dieser Wald und kein anderer meine / wiederkehrende Deckung zärtlicher Schutz erlösendes / Untertauchen ... mein Obdach und meine Verwilderung / dieser Wald setzt mich in Brand schon knistert / meine Haut ... dieser Wald, in dem ich nie alleine bin mit meiner / heilsamen Einsamkeit". Unabweisbar aber wird die Wahrnehmung der verrinnenden Lebenszeit: "warum entdeckt denn keiner / die Schönheit meines Verfalls?"
Aber nicht mit einem Trauergesang der Dichterin über Vergänglichkeit entlässt die Herausgeberin den Leser aus dieser Anthologie: "hab keine sieben Jahre mehr / für eine neue Jungfernhaut / kann nicht mehr warten / bin zu alt komm her." Und mit einem Kehraustanz endet die Sammlung: "heute am dritten verschneiten Dienstag im Oktober / bin ich neu geboren / ... du komm du / komm wir tanzen / ich liebe dich doch." Die Gedichte lesen sich wie eine einzige große Ode an die vitale Liebe und erscheinen zur rechten Zeit, als Geschenk der Herausgeberin und des Verlags an Helga M. Novak, die heute fünfundsiebzig wird.
WALTER HINCK
Helga M. Novak: "Liebesgedichte". Herausgegeben und mit einem Nachwort von Silke Scheuermann. Schöffling & Co., Frankfurt am Main 2010. 160 S., geb., 17,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Verloren ohne Wald: In Helga M. Novaks Gedichten offenbart sich eine robuste Liebe
Die Ausnahme in Helga M. Novaks Liebesgedichten bleiben rührende Situationen, wie die des Gedichts, in dem ein trauernder Schwan dem dahintreibenden Leichnam seiner Gefährtin als ein "trostloser Wanderer" am Ufer entlang das Geleit gibt. Eine robuste Liebe vielmehr offenbart sich in ihren Texten: "und die Haare in deinen Achselhöhlen / die schmecken nach Salz und Schweiß", "du brennst in den Spalten", "ich rieche dich und will dich". Vergafft ist die Liebende in die "holzigen Lenden" des Geliebten, auf den "Wildbeuter" hat sie gewartet. Wie die sich begattenden Nachtfalter, die noch im Fall untrennbar bleiben, sind die Liebenden einander verfallen.
Liebe als Lebenselixier hilft aber auch jener Kraft, mit der sich Helga M. Novak gegen politische Unterwerfung gewappnet hat. In Berlin geboren, zu DDR-Zeiten in eine Kaderschule aufgenommen, mit Unterbrechungen nach Island verschlagen, wo sie heiratete und zwei Kinder bekam, Studium am Leipziger Literaturinstitut, dem Hinauswurf folgend die Aberkennung der DDR-Staatsangehörigkeit - das sind keine Lebensstadien einer Angepassten. Ein großes vierzehnteiliges Gedicht ("Pate") handelt von der Liebe im Überwachungsstaat, von heimlichem Aufpassertum, von gefälschten Protokollen, von Vertrauensbruch und Liebesverrat.
Silke Scheuermann, selbst Lyrikerin, Herausgeberin dieser Anthologie von Liebesgedichten und Autorin eines inspirierten Nachworts, hat sich nicht für eine biographisch-chronologische, sondern eine thematisch bestimmte Sammlung entschieden und damit die biographische Spur in den Einzelgedichten überdeckt zugunsten durchgehender Grundsituationen. Sie sind zusammengefasst unter den vier Abschnittstiteln "Frühling", "Alltage", "Verlassen" und "Artemisleben". Trotz der unerhört sinnlichen Sprache der Gedichte ist nicht Aphrodite, die durch ihre Schönheit hinreißende Verführerin, die Wahlgöttin der Lyrikerin, sondern Artemis, die vielgestaltigste unter den griechischen Göttinnen. Gewiss, mit der jungfräulichen Strenge, mit der Artemis über die Tugend ihrer Nymphen und Priesterinnen wacht, lassen sich die Gedichte nicht zur Deckung bringen (ein paarmal allerdings taucht signalhaft das Wort "Enthaltsamkeit" auf), wohl aber mit Artemis als dem Inbild einer Leben erzeugenden oder hegenden Naturkraft, mit der Göttin, die Tiere zugleich pflegt und jagt, mit der Jägerin in der Wildnis. Dazu muss man wissen, dass Helga M. Novak seit mehr als zwanzig Jahren ihren festen Wohnsitz in Polen hat, in einem Wald, in der Wildnis. "Landschaft Erde Natur / alles weiblich / dahin will ich gehen"; sie wäre "verloren ohne Wald".
Hier scheint nach langer Suche und den Kämpfen der Selbstbehauptung die Dichterin zu ihrem anderen Ich gefunden zu haben. So heißt es im Gedicht "dieser Wald": "Traum meiner Kinderjahre unentwegtes Gehen / Erfüllung und Erinnerung Wald so zerschossen und / gerupft dieser Wald und kein anderer meine / wiederkehrende Deckung zärtlicher Schutz erlösendes / Untertauchen ... mein Obdach und meine Verwilderung / dieser Wald setzt mich in Brand schon knistert / meine Haut ... dieser Wald, in dem ich nie alleine bin mit meiner / heilsamen Einsamkeit". Unabweisbar aber wird die Wahrnehmung der verrinnenden Lebenszeit: "warum entdeckt denn keiner / die Schönheit meines Verfalls?"
Aber nicht mit einem Trauergesang der Dichterin über Vergänglichkeit entlässt die Herausgeberin den Leser aus dieser Anthologie: "hab keine sieben Jahre mehr / für eine neue Jungfernhaut / kann nicht mehr warten / bin zu alt komm her." Und mit einem Kehraustanz endet die Sammlung: "heute am dritten verschneiten Dienstag im Oktober / bin ich neu geboren / ... du komm du / komm wir tanzen / ich liebe dich doch." Die Gedichte lesen sich wie eine einzige große Ode an die vitale Liebe und erscheinen zur rechten Zeit, als Geschenk der Herausgeberin und des Verlags an Helga M. Novak, die heute fünfundsiebzig wird.
WALTER HINCK
Helga M. Novak: "Liebesgedichte". Herausgegeben und mit einem Nachwort von Silke Scheuermann. Schöffling & Co., Frankfurt am Main 2010. 160 S., geb., 17,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Überwiegend "robust" präsentiert sich die Liebe in Helga M. Novaks Gedichten, stellt Walter Hinck fest. Er erkennt in der Liebe aber auch die Kraft für die politische Unangepasstheit der Autorin, der man nach ihrem Rauswurf aus dem Leipziger Literaturinstitut schließlich die DDR-Staatsangehörigkeit entzog. Lobende Worte findet der Rezensent nicht nur für das "inspirierte" Nachwort der Lyrikerin und Herausgeberin Silke Scheuermann. Auch ihre Entscheidung, die Gedichte nicht chronologisch, sondern thematisch zu ordnen, scheint Hinck zuzustimmen. Er schätzt die Gedichte für ihre ausgesprochen sinnliche Sprache und erkennt in ihnen eine einzige "Ode an die vitale Liebe", die, wie er findet, zum heutigen 75. Geburtstag Novaks gerade recht kommt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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'Die Auswahl zeigt Helga M. Novak als große Liebesdichterin.' Dorothea von Törne, Die Welt 'Die Gedichte lesen sich wie eine einzige große Ode an die vitale Liebe.' Walter Hinck, Frankfurter Allgemeine Zeitung 'Novaks Liebesgedichte sind mehr als nur Liebesgedichte - sie sind ein Stück lebbare Utopie inmitten einer sich selbst zerstörenden Welt.' Erik Baron, Neues Deutschland 'Kein dünnes Gedichtbändchen liegt hier vor, sondern ein ehrliches dickes Gedichtbuch, und der Leser bekommt richtig gute Gedichte, poetisch robust und haltbar, in die Hände.' Salli Sallmann, rbb Kulturradio 'Intensive, lakonische, tragische, witzige, melancholische und sprachlich sowie formal unverschlüsselte, sehr poetische Dichtung. Dichtkunst im wahrsten Sinne des Wortes.' Matthias Ehlers, WDR 5 'Die Gedichte von Helga Novak sind immer wieder eine Entdeckung: Man kann sie nicht oft genug lesen, wozu der von Silke Scheuermann herausgegebene Band einlädt.' Michael Opitz, Deutschlandradio 'Helga M. Novaks Gedichte kann man wieder und wieder lesen, ohne dass sie an Substanz einbüßen.' Michael Opitz, WDR 3 'Man verliert sich in diesen Texten - und kann auf einmal wieder ein Liebesgedicht genießen.' Literaturkurier