Was ist die Liebe? Und wie lebt man sie, die große, einzige, wahre? - Die Menschen in Ivan Klimas Erzählungen müssen sich entscheiden, ob sie es wagen, ihr bisheriges Leben für die Liebe aufzugeben oder für immer aufeinander zu verzichten. So wie das Liebespaar Bill und Tereza, er in Australien, sie in Prag. Oder der alte Richter Martin Vacek, der sich in eine junge Frau verliebt, aber seine Frau, die selbst einen Geliebten hat, nicht verläßt. Ivan Klima beschreibt Momentaufnahmen der Liebe, die eines gemein haben: die Sehnsucht nach Lebensglück und damit auch die Wehmut unerfüllter Träume.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.05.2002Natürlich liegt Böhmen am Meer
Goldgräberstimmung und Depression: Ivan Klíma erzählt Liebesgeschichten nach der Samtenen Revolution
Das Telefonat wird immer wieder unterbrochen: "Prag, sprechen Sie noch?" fragt die Vermittlung, wenn es längere Pausen gibt. Manchmal mischen sich fremde Stimmen ein, die auf Maori über die Wirtschaftsentwicklung Neuseelands diskutieren, und gelegentlich kommen die Störungen auch von den beiden Menschen, die das Gespräch eigentlich führen wollten: Ob das Telefonat zwischen Wellington und Prag nicht allmählich zu teuer werde, fragt Tereza ihren Geliebten, und wünscht sich nur, daß er endlich auflegt und sie nicht weiter unter Druck setzt. Denn Bill will sich am liebsten sofort ins Flugzeug setzen, will seine Frau und die beiden Töchter verlassen, seinen Beruf aufgeben, um ganz bei Tereza zu sein.
Will sie das auch, die während des Telefonats ihren jüngsten Sohn mühsam davon abhalten muß, die Küche zu verwüsten, deren Mann nichts von ihrem neuseeländischen Geliebten ahnt, in deren Alltag kein Platz für den exotischen Freund ist? Am Ende, nach dem dritten Ferngespräch, ist für Bill alles entschieden, für Tereza nichts: Ob sie für den Mann, der alle Brücken hinter sich abgebrochen hat und auf dem Weg nach Prag ist, ihre Familie verlassen wird, steht in den Sternen.
Man könnte glauben, daß es Ivan Klíma allmählich leid sei, fortwährend von der Liebe zu erzählen. Doch nach "Meine ersten Lieben", "Der Liebessommer" und dem Erfolgsroman "Liebe und Müll" erscheint nun eine Sammlung von kürzeren Texten unter dem Titel "Liebesgespräche" auf deutsch, und wer nur die Titel seiner Bücher kennt, muß unweigerlich glauben, der tschechische Autor variiere immerfort ein einziges, gründlich abgenutztes Thema.
Daß dieser Eindruck Klímas Texte keineswegs gerecht wird, macht schon die Lektüre seiner bereits erschienenen Bücher deutlich, denn in der Darstellung von Liebesbeziehungen werden fortwährend grundlegende menschliche Dispositionen und Schicksale verhandelt, die weit über das romantische Empfinden hinausgehen. Und auch der Band "Liebesgespräche", der fünfzehn Erzählungen in fünf Gruppen versammelt, sucht in der fokussierten Darstellung von Paaren, die sich finden, trennen oder von Anfang an verfehlen, den Zugang zu den einzelnen Lebensläufen, den enttäuschten Hoffnungen, den hartnäckigen Versuchen, einen Platz in der Gesellschaft zu finden, den Menschen im postsozialistischen Osteuropa zwischen Aufbruch und Resignation.
Was diesen Band Klímas am augenfälligsten von den bisherigen unterscheidet, ist der Versuch, in jeder Erzählung einen Abglanz des mittlerweile historischen Umbruchs von 1989 einzufangen. Die Geschichten des Bandes spielen in der Wende- oder der unmittelbaren Nachwendezeit. Zusammengenommen bilden sie facettenreich eine ungeheure kollektive Verunsicherung ab, die sich nicht zuletzt in den Liebesbeziehungen niederschlägt - fast alle Geschichten schildern Dreiecksbeziehungen, Seitensprünge und Liebesverrat aus unterschiedlichen Perspektiven, lassen hoffnungsvolle Begegnungen an lähmender Mutlosigkeit scheitern oder zeigen, welche Präsenz die Relikte der tschechischen Restaurationszeit nach wie vor besitzen. Klíma zeichnet Porträts von märchenhaft reichen Aufsteigern in der Goldgräberstimmung nach 1989, beleuchtet das zunehmend fragile Zusammenleben eines Rentnerpaares ebenso wie die gedanklichen Ausbruchsversuche einer Apothekerin, deren grundsolider Mann eines Abends plötzlich nicht mehr nach Hause kommt, erzählt von einem Arzt, der nach dem Unfalltod seines Enkels ein Inferno unter den Autos seiner Heimatstadt anrichtet, und von der sonderbaren Liebe eines Studenten zu einer blinden Musikerin. Nicht alle Texte überzeugen in gleicher Weise; einige lassen Klímas gelegentlichen Hang zur Sentimentalität erkennen oder wirken sogar etwas konstruiert. Doch besonders die Erzählungen, die in den tristen Betonsiedlungen am Stadtrand spielen, verbinden die Umgebung, die Wendezeit und die Beweggründe der Figuren so gekonnt zu einem düsteren Gewebe, daß sie "Liebe und Müll", Klímas bislang bestem Roman, in nichts nachstehen.
Die Hoffnung, soviel wird deutlich, muß von außen kommen, vom unerschütterlichen Vertrauen des neuseeländischen Hochseekapitäns Bill etwa, der zu der zögerlichen Tereza nach Böhmen fliegt, ob sie will oder nicht. "Du bist verückt geworden, was willst du hier tun? Wir haben doch gar kein Meer," wehrt sie ab. Daß, wenn Liebende sich unter unmöglichen Umständen finden, Böhmen doch einmal am Meer liegen kann, zeigt Shakespeares "Wintermärchen". Und auch Bill findet einen Ausweg: "Ich könnte auch als Taxifahrer arbeiten. Außerdem gibt es bei euch auch Binnenschiffahrt."
Ivan Klíma: "Liebesgespräche". Erzählungen. Aus dem Tschechischen übersetzt von Anja Tippner. Paul Zsolnay Verlag, Wien 2002. 240 S., geb., 17,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Goldgräberstimmung und Depression: Ivan Klíma erzählt Liebesgeschichten nach der Samtenen Revolution
Das Telefonat wird immer wieder unterbrochen: "Prag, sprechen Sie noch?" fragt die Vermittlung, wenn es längere Pausen gibt. Manchmal mischen sich fremde Stimmen ein, die auf Maori über die Wirtschaftsentwicklung Neuseelands diskutieren, und gelegentlich kommen die Störungen auch von den beiden Menschen, die das Gespräch eigentlich führen wollten: Ob das Telefonat zwischen Wellington und Prag nicht allmählich zu teuer werde, fragt Tereza ihren Geliebten, und wünscht sich nur, daß er endlich auflegt und sie nicht weiter unter Druck setzt. Denn Bill will sich am liebsten sofort ins Flugzeug setzen, will seine Frau und die beiden Töchter verlassen, seinen Beruf aufgeben, um ganz bei Tereza zu sein.
Will sie das auch, die während des Telefonats ihren jüngsten Sohn mühsam davon abhalten muß, die Küche zu verwüsten, deren Mann nichts von ihrem neuseeländischen Geliebten ahnt, in deren Alltag kein Platz für den exotischen Freund ist? Am Ende, nach dem dritten Ferngespräch, ist für Bill alles entschieden, für Tereza nichts: Ob sie für den Mann, der alle Brücken hinter sich abgebrochen hat und auf dem Weg nach Prag ist, ihre Familie verlassen wird, steht in den Sternen.
Man könnte glauben, daß es Ivan Klíma allmählich leid sei, fortwährend von der Liebe zu erzählen. Doch nach "Meine ersten Lieben", "Der Liebessommer" und dem Erfolgsroman "Liebe und Müll" erscheint nun eine Sammlung von kürzeren Texten unter dem Titel "Liebesgespräche" auf deutsch, und wer nur die Titel seiner Bücher kennt, muß unweigerlich glauben, der tschechische Autor variiere immerfort ein einziges, gründlich abgenutztes Thema.
Daß dieser Eindruck Klímas Texte keineswegs gerecht wird, macht schon die Lektüre seiner bereits erschienenen Bücher deutlich, denn in der Darstellung von Liebesbeziehungen werden fortwährend grundlegende menschliche Dispositionen und Schicksale verhandelt, die weit über das romantische Empfinden hinausgehen. Und auch der Band "Liebesgespräche", der fünfzehn Erzählungen in fünf Gruppen versammelt, sucht in der fokussierten Darstellung von Paaren, die sich finden, trennen oder von Anfang an verfehlen, den Zugang zu den einzelnen Lebensläufen, den enttäuschten Hoffnungen, den hartnäckigen Versuchen, einen Platz in der Gesellschaft zu finden, den Menschen im postsozialistischen Osteuropa zwischen Aufbruch und Resignation.
Was diesen Band Klímas am augenfälligsten von den bisherigen unterscheidet, ist der Versuch, in jeder Erzählung einen Abglanz des mittlerweile historischen Umbruchs von 1989 einzufangen. Die Geschichten des Bandes spielen in der Wende- oder der unmittelbaren Nachwendezeit. Zusammengenommen bilden sie facettenreich eine ungeheure kollektive Verunsicherung ab, die sich nicht zuletzt in den Liebesbeziehungen niederschlägt - fast alle Geschichten schildern Dreiecksbeziehungen, Seitensprünge und Liebesverrat aus unterschiedlichen Perspektiven, lassen hoffnungsvolle Begegnungen an lähmender Mutlosigkeit scheitern oder zeigen, welche Präsenz die Relikte der tschechischen Restaurationszeit nach wie vor besitzen. Klíma zeichnet Porträts von märchenhaft reichen Aufsteigern in der Goldgräberstimmung nach 1989, beleuchtet das zunehmend fragile Zusammenleben eines Rentnerpaares ebenso wie die gedanklichen Ausbruchsversuche einer Apothekerin, deren grundsolider Mann eines Abends plötzlich nicht mehr nach Hause kommt, erzählt von einem Arzt, der nach dem Unfalltod seines Enkels ein Inferno unter den Autos seiner Heimatstadt anrichtet, und von der sonderbaren Liebe eines Studenten zu einer blinden Musikerin. Nicht alle Texte überzeugen in gleicher Weise; einige lassen Klímas gelegentlichen Hang zur Sentimentalität erkennen oder wirken sogar etwas konstruiert. Doch besonders die Erzählungen, die in den tristen Betonsiedlungen am Stadtrand spielen, verbinden die Umgebung, die Wendezeit und die Beweggründe der Figuren so gekonnt zu einem düsteren Gewebe, daß sie "Liebe und Müll", Klímas bislang bestem Roman, in nichts nachstehen.
Die Hoffnung, soviel wird deutlich, muß von außen kommen, vom unerschütterlichen Vertrauen des neuseeländischen Hochseekapitäns Bill etwa, der zu der zögerlichen Tereza nach Böhmen fliegt, ob sie will oder nicht. "Du bist verückt geworden, was willst du hier tun? Wir haben doch gar kein Meer," wehrt sie ab. Daß, wenn Liebende sich unter unmöglichen Umständen finden, Böhmen doch einmal am Meer liegen kann, zeigt Shakespeares "Wintermärchen". Und auch Bill findet einen Ausweg: "Ich könnte auch als Taxifahrer arbeiten. Außerdem gibt es bei euch auch Binnenschiffahrt."
Ivan Klíma: "Liebesgespräche". Erzählungen. Aus dem Tschechischen übersetzt von Anja Tippner. Paul Zsolnay Verlag, Wien 2002. 240 S., geb., 17,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
"Was diesen Band mit fünfzehn Erzählungen für Rezensent Tilman Spreckelsen am augenfälligsten von bisherigen Büchern Klimas über die Liebe unterscheidet, ist der Versuch, in jeder Erzählung einen "Abglanz des mittlerweile historischen Umbruchs von 1989" einzufangen. Die Erzählungen spielten in der Wende oder der unmittelbaren Nachwendezeit. Zusammengenommen bilden sie für Spreckelsen "facettenreich eine ungeheure kollektive Verunsicherung ab, die sich nicht zuletzt in den Liebesbeziehungen" niedergeschlagen habe. Nicht alle Texte haben den Rezensenten gleichermaßen überzeugt. Einige ließen seiner Ansicht nach gelegentlich einen "Hang zur Sentimentalität" erkennen. Andere wirkten auf Spreckelsen "sogar etwas konstruiert". Doch besonders die Erzählungen, die in den tristen Betonsiedlungen am Stadtrand spielen, haben für ihn "die Umgebung, die Wendezeit und die Beweggründe der Figuren" so gekonnt zu einem "düsteren Gewebe" verbunden, dass der Rezensent sie Klímas "bislang bestem Roman" 'Liebe und Müll' in nichts nachstehen sieht.
© Perlentaucher Medien GmbH"
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"Die besten Geschichten Ivan Klímas sind auf einzigartige Weise unmoralisch und moralisch zugleich, bitter und schön, rätselhaft und lebensweise. Und darum ist auch noch längst nicht ausgemacht, ob es nicht die Verlierer sind, die in ihnen gewinnen."
Karl-Markus Gauß, Die Presse
"Literatur, die Bestand haben wird."
Stefan Berkholz, Die Zeit
"Ivan Klíma, 71, ist ein großer Kenner des menschlichen Beziehungsgeflechts, eigentlich ein Psychologe, fast unheimlich sind seine Einsichten. (...) Bitter und schön sind diese Geschichten, geheimnisvoll, aber auch erfüllt von der Weisheit des Lebens.(...) Ein Gewinn für die Leser."
Roland Mischke, Freie Presse Chemnitz, 15.03.2002
"Ivan Klima ist noch immer einer der ganz Großen."
Marko Martin, Die Welt, 18.05.2002
Karl-Markus Gauß, Die Presse
"Literatur, die Bestand haben wird."
Stefan Berkholz, Die Zeit
"Ivan Klíma, 71, ist ein großer Kenner des menschlichen Beziehungsgeflechts, eigentlich ein Psychologe, fast unheimlich sind seine Einsichten. (...) Bitter und schön sind diese Geschichten, geheimnisvoll, aber auch erfüllt von der Weisheit des Lebens.(...) Ein Gewinn für die Leser."
Roland Mischke, Freie Presse Chemnitz, 15.03.2002
"Ivan Klima ist noch immer einer der ganz Großen."
Marko Martin, Die Welt, 18.05.2002