Ovids Lehrgedicht über die Kunst der Verführung gehört bis heute zu den berühmtesten und meistgelesenen Werken der antiken Literatur. Die ersten beiden Bücher enthalten Anweisungen für das Verhalten der Männer, das dritte solche für Frauen. Die »Ars amatoria« spiegelt das gesellschaftliche Leben der Kaiserzeit, in der die Liebe häufig als Spiel aufgefasst wurde. Kaiser Augustus hat das Werk aus den öffentlichen Bibliotheken verbannt.Sprachen: Deutsch, Latein
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.08.1998Begehrte Beute unter Palmen
Eros als Großmacht: Ovids "Liebeskunst", neu kommentiert
Die "Ars amatoria" des Ovid ist ein Lehrgedicht - von allen antiken Gattungen ist dies sicherlich diejenige, die heute, wo kein Querpfad mehr von der Gebrauchsanweisung zur lyrischen Chiffre führt, am unverständlichsten erscheint. Aber das Altertum hielt daran fest, daß praktischer Nutzen nicht den ästhetischen Charakter ausschließen muß und der Gegenstand aus der Hand des Dichters eine Würde empfängt, die seine sachlichen Aspekte übersteigt. In diesem Sinn hatte sich Lukrez der Philosophie, Vergil der Landwirtschaft angenommen - ohne daß die Dichtung sich etwas vergeben hätte oder die Landwirtschaft der Lächerlichkeit überantwortet worden wäre. Das Lehrgedicht beglaubigt eine geistige Einheit der Welt.
Auch die "Liebeskunst" ist nicht etwa, wie man vielfach gemeint hat, bloß eine frivole Keckheit ins Gesicht der tugendstrengen kaiserlichen Zentralmacht (das freilich auch), sondern sie enthält das große Projekt, die Kräfte des Eros in den Dienst der Vergesellschaftung zu nehmen - wie auch umgekehrt, dem Eros jene Verkümmerung zu ersparen, die kaum ausbleibt, wo er zur exklusiven Privatsache erklärt wird. Die verlogene Romantik des "Nur Du und ich im Mondschein" weist Ovid weit von sich: Ihm ist die Liebe ein reicher natürlicher Rohstoff, der allerdings erst bearbeitet werden muß, und wenn er Hilfe bei der Gestaltung dieses zugleich zartesten und stärksten menschlichen Affekts bietet, vom Stil eines Liebesbriefs über die Wahl der richtigen Frisur bis zu den geeignetsten Stellungen beim Geschlechtsverkehr, so begreift er das als Ansatz zur verfeinernden Reform der sittlichen Gesellschaftsordnung an ihrem hoffnungsvollsten Punkt. Rücksicht, Zartgefühl und Freiwilligkeit anstelle formalisierter Pflicht haben darin ihren Platz ebenso wie das Eigeninteresse, und die Empfehlung an die Frauen, ihre Zofe, wenn sie sich falsch frisiert fühlen, nicht mit der Haarnadel in den Arm zu stechen, wird damit begründet, daß Zorn unliebenswürdig macht.
Wieviel Kommentar benötigt diese Liebeskunst des Ovid heute, und wem soll er wozu nützen? Einerseits besitzt Ovids Werk zweifellos einen höheren Grad unmittelbarer Zugänglichkeit, als wenn es von Ackerbau und Philosophie handelte. Andererseits muß man bereits ziemlich gut Latein können, um es im Original zu lesen und damit für jenen zusätzlichen Aufschluß Verwendung zu haben, den ein Kommentar verspricht. Hinzu kommt, daß die Ars amatoria gut überliefert ist (Markus Janka verzeichnet nur ungefähr sechzig textkritisch behandelte Stellen) und, trotz vieler mythologischer Anspielungen, kaum wirklich dunkle Passagen aufweist. All dies verringert die Differenz, die ein Kommentar zu überbrücken und auszufüllen hat.
Angesichts dessen hätte Janka sein Werk ohne Einbußen gewaltig abspecken können. Das sehr umfangreiche Buch - ein "méga biblion", wie er selber sagt - beschäftigt sich allein mit dem zweiten der drei Bücher der "Ars amatoria"; das Verhältnis von Text und Kommentar beträgt ungefähr eins zu dreißig. Ein Gesamt-Kommentar zu Ovid müßte demnach etwa 20000 Seiten umfassen. Das Prinzip "Kommentar" hat hier dazu verleitet, sich zu ausnahmslos jedem Vers zu äußern, auch wenn er sprachlich und sachlich sonnenklar ist; auf diese Weise gelangt viel überflüssige Paraphrase hinein. "Tenere" z. B. heißt, auch wenn es von einem Mädchen gesagt wird, so ziemlich dasselbe wie das deutsche "halten", und es vertieft das Verständnis kaum, wenn Janko hinzusetzt: "(,An-sich-binden') im emotionalen und sexuellen Bereich"; und wenn er bei "viridis palma" ("die grüne Palme") anfügt: ",viridis' bezeichnet das jugendlich-frische Grün des Palmzweigs", dann beginnt man seine Erläuterungen allmählich als intellektuelle Beleidigung zu empfinden. Einem Leser des Originals muß man nicht mit etlichen Belegstellen erklären, daß die Römer ihre Jahreszählung an die amtierenden Konsuln binden.
Überhaupt hat Janka allzu viele Belege gehäuft, ohne sich zu fragen, welche davon wirklich erhellende Wirkung haben; nicht jede "Junktur", d. h. Verbindung zweier Wörter, ist der Rede wert, auch wenn sie sonstwo vorkommt: "petita praeda", die "begehrte Beute", das kann jedem Dichter spontan einfallen und lohnt den Aufwand nicht, Parallelstellen aus dem Thesaurus Linguae Latinae herauszufischen. Anders läge der Fall womöglich, wenn es sich z. B. um eine unbegehrte Beute handeln würde - aber solche Unterscheidungen trifft Janka nicht, er fühlt sich einem ,Ethos der Komplettheit' verpflichtet.
Das soll nicht heißen, daß der Kommentator schlechte Arbeit geleistet hätte. Was er tut, ist solide, und nicht zu seinen geringsten Verdiensten gehört es, die Spitzfindigkeit anderer Interpreten auf eine vernünftige Weise zu stutzen. Nur werden einem Jankas Gründlichkeit und sein interpretatorisches Augenmaß dadurch verleidet, daß man das Verwendbare erst aus dem Geröll klauben und dort, wo man sich eine Hilfe erwartet hat, gelegentlich selbst Hand anlegen muß. Nützlich sind Jankas Ausführungen überall dort, wo es um Mythen und um Realien geht, etwa bei einem Vers wie "und es besitzt der chaonische Vogel Türme, die er bewohnt". Dazu muß man erstens wissen, daß die Taube dem Jupiter von Dodona heilig war, Dodona in Epirus liegt und Chaonien eine poetische Umschreibung für Epirus ist - solche über die Bande gespielten Metonymien machen einem heutigen Leser die Ovid-Lektüre nicht selten zu einer Art Kreuzworträtsel. Zweitens erfährt man an dieser Stelle von Janka viel über die antike Taubenzucht mit ihren speziellen turmartigen Schlägen, und man liest das gern und dankbar.
Markus Janka tritt mit dem Anspruch an, den Kommentar von P. Brandt aus dem Jahre 1902 abzulösen, der reif für die "Historisierung" sei. Er belegt das mit Zitaten wie "unzählige freundwillige Mädchen, die liebeheischend und gewährend sich in der Hauptstadt umhertreiben", was ihn überholt und leicht komisch dünkt. Aber es steht der Klassischen Philologie schlecht an, sich über die Zeiten erhaben zu fühlen, die ihre besten waren, und warum die "freundwilligen Mädchen" nicht mehr gehen sollen, wenn sich zugleich bei Janka immer noch die "reiferen Damen" tummeln, bleibt dunkel. Die Verwendung des Wortes "Dame", in tatsächlichen oder mitzudenkenden Anführungszeichen, bleibt eines der Hauptärgernisse des Fachs; an nichts zeigt sich deutlicher der Unterschied in den Temperaturen zwischen den Gelehrten und ihrem Gegenstand.
Vor allem aber wünscht man sich, daß Janka den Blick zuweilen ein wenig vom Einzelvers gehoben und auf das Ganze des Werks gerichtet hätte. Ganz beiläufig schreibt er: "natürlich ,glaubt' zu Ovids Zeiten niemand an die Historizität des fliegenden Mannes Daedalus" und will nicht wahrhaben, eine wie ernste und zentrale Frage durch solche Anführungszeichen vertagt wird. Welchen Stellenwert haben die ohne Unterlaß angeführten Mythen noch für einen aufgeklärten Mann wie Ovid? Sind sie wirklich nur beliebiges galantes Beispielmaterial? Oder steckt dahinter womöglich mehr römische "pietas", als es auf Anhieb scheint? Und wenn ja, wie verhält sie sich zu dem, was für uns heute Glauben heißt? Janka aber fährt unverzüglich mit der Zitierung einer Parallelstelle fort, er will im Unwesentlichen nicht durch Wesentliches gestört werden. BURKHARD MÜLLER
Ovid: "Ars amatoria". Buch 2. Kommentiert von Markus Janka. Universitätsverlag C. Winter, Heidelberg 1998. 514 S., geb., 98,- DM.
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Eros als Großmacht: Ovids "Liebeskunst", neu kommentiert
Die "Ars amatoria" des Ovid ist ein Lehrgedicht - von allen antiken Gattungen ist dies sicherlich diejenige, die heute, wo kein Querpfad mehr von der Gebrauchsanweisung zur lyrischen Chiffre führt, am unverständlichsten erscheint. Aber das Altertum hielt daran fest, daß praktischer Nutzen nicht den ästhetischen Charakter ausschließen muß und der Gegenstand aus der Hand des Dichters eine Würde empfängt, die seine sachlichen Aspekte übersteigt. In diesem Sinn hatte sich Lukrez der Philosophie, Vergil der Landwirtschaft angenommen - ohne daß die Dichtung sich etwas vergeben hätte oder die Landwirtschaft der Lächerlichkeit überantwortet worden wäre. Das Lehrgedicht beglaubigt eine geistige Einheit der Welt.
Auch die "Liebeskunst" ist nicht etwa, wie man vielfach gemeint hat, bloß eine frivole Keckheit ins Gesicht der tugendstrengen kaiserlichen Zentralmacht (das freilich auch), sondern sie enthält das große Projekt, die Kräfte des Eros in den Dienst der Vergesellschaftung zu nehmen - wie auch umgekehrt, dem Eros jene Verkümmerung zu ersparen, die kaum ausbleibt, wo er zur exklusiven Privatsache erklärt wird. Die verlogene Romantik des "Nur Du und ich im Mondschein" weist Ovid weit von sich: Ihm ist die Liebe ein reicher natürlicher Rohstoff, der allerdings erst bearbeitet werden muß, und wenn er Hilfe bei der Gestaltung dieses zugleich zartesten und stärksten menschlichen Affekts bietet, vom Stil eines Liebesbriefs über die Wahl der richtigen Frisur bis zu den geeignetsten Stellungen beim Geschlechtsverkehr, so begreift er das als Ansatz zur verfeinernden Reform der sittlichen Gesellschaftsordnung an ihrem hoffnungsvollsten Punkt. Rücksicht, Zartgefühl und Freiwilligkeit anstelle formalisierter Pflicht haben darin ihren Platz ebenso wie das Eigeninteresse, und die Empfehlung an die Frauen, ihre Zofe, wenn sie sich falsch frisiert fühlen, nicht mit der Haarnadel in den Arm zu stechen, wird damit begründet, daß Zorn unliebenswürdig macht.
Wieviel Kommentar benötigt diese Liebeskunst des Ovid heute, und wem soll er wozu nützen? Einerseits besitzt Ovids Werk zweifellos einen höheren Grad unmittelbarer Zugänglichkeit, als wenn es von Ackerbau und Philosophie handelte. Andererseits muß man bereits ziemlich gut Latein können, um es im Original zu lesen und damit für jenen zusätzlichen Aufschluß Verwendung zu haben, den ein Kommentar verspricht. Hinzu kommt, daß die Ars amatoria gut überliefert ist (Markus Janka verzeichnet nur ungefähr sechzig textkritisch behandelte Stellen) und, trotz vieler mythologischer Anspielungen, kaum wirklich dunkle Passagen aufweist. All dies verringert die Differenz, die ein Kommentar zu überbrücken und auszufüllen hat.
Angesichts dessen hätte Janka sein Werk ohne Einbußen gewaltig abspecken können. Das sehr umfangreiche Buch - ein "méga biblion", wie er selber sagt - beschäftigt sich allein mit dem zweiten der drei Bücher der "Ars amatoria"; das Verhältnis von Text und Kommentar beträgt ungefähr eins zu dreißig. Ein Gesamt-Kommentar zu Ovid müßte demnach etwa 20000 Seiten umfassen. Das Prinzip "Kommentar" hat hier dazu verleitet, sich zu ausnahmslos jedem Vers zu äußern, auch wenn er sprachlich und sachlich sonnenklar ist; auf diese Weise gelangt viel überflüssige Paraphrase hinein. "Tenere" z. B. heißt, auch wenn es von einem Mädchen gesagt wird, so ziemlich dasselbe wie das deutsche "halten", und es vertieft das Verständnis kaum, wenn Janko hinzusetzt: "(,An-sich-binden') im emotionalen und sexuellen Bereich"; und wenn er bei "viridis palma" ("die grüne Palme") anfügt: ",viridis' bezeichnet das jugendlich-frische Grün des Palmzweigs", dann beginnt man seine Erläuterungen allmählich als intellektuelle Beleidigung zu empfinden. Einem Leser des Originals muß man nicht mit etlichen Belegstellen erklären, daß die Römer ihre Jahreszählung an die amtierenden Konsuln binden.
Überhaupt hat Janka allzu viele Belege gehäuft, ohne sich zu fragen, welche davon wirklich erhellende Wirkung haben; nicht jede "Junktur", d. h. Verbindung zweier Wörter, ist der Rede wert, auch wenn sie sonstwo vorkommt: "petita praeda", die "begehrte Beute", das kann jedem Dichter spontan einfallen und lohnt den Aufwand nicht, Parallelstellen aus dem Thesaurus Linguae Latinae herauszufischen. Anders läge der Fall womöglich, wenn es sich z. B. um eine unbegehrte Beute handeln würde - aber solche Unterscheidungen trifft Janka nicht, er fühlt sich einem ,Ethos der Komplettheit' verpflichtet.
Das soll nicht heißen, daß der Kommentator schlechte Arbeit geleistet hätte. Was er tut, ist solide, und nicht zu seinen geringsten Verdiensten gehört es, die Spitzfindigkeit anderer Interpreten auf eine vernünftige Weise zu stutzen. Nur werden einem Jankas Gründlichkeit und sein interpretatorisches Augenmaß dadurch verleidet, daß man das Verwendbare erst aus dem Geröll klauben und dort, wo man sich eine Hilfe erwartet hat, gelegentlich selbst Hand anlegen muß. Nützlich sind Jankas Ausführungen überall dort, wo es um Mythen und um Realien geht, etwa bei einem Vers wie "und es besitzt der chaonische Vogel Türme, die er bewohnt". Dazu muß man erstens wissen, daß die Taube dem Jupiter von Dodona heilig war, Dodona in Epirus liegt und Chaonien eine poetische Umschreibung für Epirus ist - solche über die Bande gespielten Metonymien machen einem heutigen Leser die Ovid-Lektüre nicht selten zu einer Art Kreuzworträtsel. Zweitens erfährt man an dieser Stelle von Janka viel über die antike Taubenzucht mit ihren speziellen turmartigen Schlägen, und man liest das gern und dankbar.
Markus Janka tritt mit dem Anspruch an, den Kommentar von P. Brandt aus dem Jahre 1902 abzulösen, der reif für die "Historisierung" sei. Er belegt das mit Zitaten wie "unzählige freundwillige Mädchen, die liebeheischend und gewährend sich in der Hauptstadt umhertreiben", was ihn überholt und leicht komisch dünkt. Aber es steht der Klassischen Philologie schlecht an, sich über die Zeiten erhaben zu fühlen, die ihre besten waren, und warum die "freundwilligen Mädchen" nicht mehr gehen sollen, wenn sich zugleich bei Janka immer noch die "reiferen Damen" tummeln, bleibt dunkel. Die Verwendung des Wortes "Dame", in tatsächlichen oder mitzudenkenden Anführungszeichen, bleibt eines der Hauptärgernisse des Fachs; an nichts zeigt sich deutlicher der Unterschied in den Temperaturen zwischen den Gelehrten und ihrem Gegenstand.
Vor allem aber wünscht man sich, daß Janka den Blick zuweilen ein wenig vom Einzelvers gehoben und auf das Ganze des Werks gerichtet hätte. Ganz beiläufig schreibt er: "natürlich ,glaubt' zu Ovids Zeiten niemand an die Historizität des fliegenden Mannes Daedalus" und will nicht wahrhaben, eine wie ernste und zentrale Frage durch solche Anführungszeichen vertagt wird. Welchen Stellenwert haben die ohne Unterlaß angeführten Mythen noch für einen aufgeklärten Mann wie Ovid? Sind sie wirklich nur beliebiges galantes Beispielmaterial? Oder steckt dahinter womöglich mehr römische "pietas", als es auf Anhieb scheint? Und wenn ja, wie verhält sie sich zu dem, was für uns heute Glauben heißt? Janka aber fährt unverzüglich mit der Zitierung einer Parallelstelle fort, er will im Unwesentlichen nicht durch Wesentliches gestört werden. BURKHARD MÜLLER
Ovid: "Ars amatoria". Buch 2. Kommentiert von Markus Janka. Universitätsverlag C. Winter, Heidelberg 1998. 514 S., geb., 98,- DM.
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Der sittenstrenge Augustus ließ das frivole Büchlein aus den öffentlichen Bibliotheken entfernen. Dem heutigen Leser ist es vielleicht gerade wegen einiger lasziver Freizügigkeiten lieb. Teuer ist die sorgfältig edierte zweisprachige Ausgabe mit den klugen Anmerkungen und dem lesenswerten Nachwort ohnehin nicht. Ein intelligenter Geschenktipp - nicht nur für Verliebte. Münchner Merkur