Dieses Werk ist Teil der Buchreihe TREDITION CLASSICS. Der Verlag tredition aus Hamburg veröffentlicht in der Buchreihe TREDITION CLASSICS Werke aus mehr als zwei Jahrtausenden. Diese waren zu einem Großteil vergriffen oder nur noch antiquarisch erhältlich. Mit der Buchreihe TREDITION CLASSICS verfolgt tredition das Ziel, tausende Klassiker der Weltliteratur verschiedener Sprachen wieder als gedruckte Bücher zu verlegen und das weltweit! Die Buchreihe dient zur Bewahrung der Literatur und Förderung der Kultur. Sie trägt so dazu bei, dass viele tausend Werke nicht in Vergessenheit geraten.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 28.11.2017Amors Leichtfuß, eingezwängt
Ach, die deutschen Distichen: Ovids „Liebeskunst“, neu ediert zu seinem zweitausendsten Todestag
Kann man denn Liebe lernen? Und zwar nach einem regelrechten Handbuch, das beginnt mit Aufgabeln und Anbandeln und dann vorschreibt, wie man den Flirt in eine feste Beziehung überführt? Trotz aller Therapien und Ratgeberliteratur wäre die heutige Zeit geneigt zu sagen: Nein, das funktioniert nicht, denn Liebe ist doch etwas Spontanes und kein Schulstoff! Höchstens dass Erfahrung ein Lehrmeister sein kann, wird man einräumen; aber sie lehrt zuverlässig nur den, der sie selbst gemacht hat.
Die Antike dachte anders. Ovid, mit vollem Namen Publius Ovidius Naso, hielt es für aussichtsreich, seine Zeit- und Standesgenossen (und -genossinnen, damals eher eine Seltenheit) nicht nur in Handbuch-, sondern sogar, wie damals allgemein üblich, in Versform darüber zu unterrichten, wie sie sich benehmen sollten, wenn sie einen Partner suchen. Dreierlei leistet er dabei für seine Leser und Leserinnen: Er verheißt ihnen eine höchst konkrete Belohnung, wenn sie seinen Ratschlägen folgen; er unterweist sie in aller höheren Lebenskunst, denn wer charmant, witzig, umgänglich, kenntnis- und einfallsreich ist, steigert seine Chancen gewaltig; und er unterhält sie dabei aufs angenehmste mit einem leichtfüßigen Kunstwerk, das seinerseits ein hochklassiges Beispiel jener Tugenden ist, die es so dringend empfiehlt.
Sein aus drei Büchern bestehendes Werk (zwei für die Männer, eins für die Frauen) ist als „Ars Amatoria“, „Die Liebeskunst“, in die Literaturgeschichte eingegangen. Und er behandelt die Liebe darin wirklich wie eine Kunst – eine Kunst in jenem Sinn, wie sie auch etwa ein Arzt oder ein Architekt ausüben und worin sich Ausbildung, Praxis, Augenmaß und ein Gefühl für das, was die Leute brauchen, zu einer besonderen Mischung verbinden. Diese Liebeskunst hat in den rund sechzig Generationen, die seit ihrer Niederschrift vergangen sind, das Publikum immer gespalten: Die einen schätzten den hohen Begriff von Freiheit und Humanität, der sich darin ausspricht; die anderen attackierten, was sie als frivole, unmoralische Grundhaltung besonders in Fragen der Sexualität ansahen. (Zur letzten Gruppe gehörte schon der sittenstrenge Kaiser Augustus, der den Dichter aus Rom ans Schwarze Meer verbannte, wo er in tiefer Traurigkeit starb.) An Übersetzungen und Ausgaben der „Liebeskunst“ besteht kein Mangel. Und nun gibt es, rechtzeitig zu des Autors zweitausendstem Todestag, wiederum eine neue.
Sie kommt vom verdienstvollen Verlag Galiani. Es ist ein aufwendiges, liebevolles Projekt, das Achtung verdient. Aber es hat zwei falsche Entscheidungen getroffen, die seine Brauchbarkeit erheblich einschränken. Die erste besteht darin, eine Übersetzung heranzuziehen (von zwei Philologen des 19. Jahrhunderts, Hertzberg und Burger), die das lateinische Distichon, das heißt den Doppelvers aus Hexameter und Pentameter, im Deutschen nachzubilden unternimmt. Das lateinische Distichon verfährt nach einem System der silbischen Längen und Kürzen, das unserem modernen germanischen Ohr ganz unzugänglich ist; der deutsche Hexameter transformiert dieses System notwendig in eins aus Akzent und Nicht-Akzent. Dass das möglich wäre, hat Johann Heinrich Voß, Übersetzer von Homers Epen, den Deutschen eingeredet. Aber es geht nicht. Hexameter und Pentameter sind im Lateinischen und Griechischen sehr bewegliche Verse; doch das macht nichts, weil einem Lateiner niemals ungewiss ist, ob eine Silbe lang oder kurz sei.
Das kann man vom deutschen Druckakzent nicht sagen, der nicht in den Wörtern wohnt, sondern sich von außen im Verskontext erst auf sie legt. Wie soll man die Verszeile vortragen: „Aber je gewaltsamer Cupido mich traf und versengte“? Die Spielregel besagt, es müsse hier sechs Akzente geben. Aber wo um Himmelswillen sitzen sie? Probieren sie es aus! Man muss das nicht so machen; Michael von Albrecht hat eine wunderbare Übersetzung der „Liebeskunst“ in Prosa vorgelegt, und jeder Schüler, der sich die Reclam-Ausgabe zulegt, hat es mit ihr zu tun.
Die zweite falsche Entscheidung war es, den Kommentar derart überhandnehmen zu lassen. Auf jeder Seite dieses großformatigen Buchs finden nur jeweils vier bis dreizehn Verszeilen von Ovid selbst Platz; sie stehen als rote kursive Insel in einem klein gedruckten schwarzen Meer von Anmerkungen. Was dort steht, ist nie verkehrt und, da statt im üblichen verkniffenen Fußnoten-Jargon als wirklicher Text abgefasst, sogar unterhaltsam. Dennoch erstickt diese Dornenhecke, was sie umschließt: Wer immer nur so kleine Häppchen vom Ganzen vorgesetzt bekommt, dem geht das große Ganze verloren. Eine wissenschaftliche Ausgabe kann man so gestalten. Aber nie und nie nimmer ein Buch, dessen Zweck darin besteht, dass es gelesen wird.
Wie muss man es anstellen, damit ein sehr alter und sehr voraussetzungsreicher Autor, der aber wirklich was zu bieten hat, wieder in die lesende Gegenwart zurückkehrt? Kurt Flasch hat sich diese Frage vor einiger Zeit bei Dante vorgelegt und eine Edition der „Göttlichen Komödie“ veranstaltet, der er einen Band vorausschickte: „Einladung, Dante zu lesen“. Er hatte sich genau überlegt, wie man es anstellen muss, um ein Publikum, das von alldem keine Ahnung hat, an das Werk heranzuführen.
Ovid, obwohl dreimal so alt wie Dante, ist nicht annähernd so schwierig; in Ovid reichen sich die beiden säkularen Zeitalter, die Antike und die Neuzeit, verschmitzt die Hand hinweg über den Abgrund des humorlosen metaphysischen Mittelalters. Eine Einladung, Ovid zu lesen, wäre weitaus leichter auszusprechen gewesen als bei Dante. Sie ist bei dieser Edition leider nicht erfolgt.
BURKHARD MÜLLER
Als kleine rote Inseln
stehen die Verszeilen im
schwarzen Meer des Kommentars
Ovid: Liebeskunst.
Aus dem Lateinischen von Wilhelm Hertzberg und Franz Burger. Herausgegeben und kommentiert von Tobias Roth, Asmus Trautsch und Melanie Möller. Galiani-Berlin-
Verlag, Berlin 2017.
378 Seiten, 39,90 Euro.
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Ach, die deutschen Distichen: Ovids „Liebeskunst“, neu ediert zu seinem zweitausendsten Todestag
Kann man denn Liebe lernen? Und zwar nach einem regelrechten Handbuch, das beginnt mit Aufgabeln und Anbandeln und dann vorschreibt, wie man den Flirt in eine feste Beziehung überführt? Trotz aller Therapien und Ratgeberliteratur wäre die heutige Zeit geneigt zu sagen: Nein, das funktioniert nicht, denn Liebe ist doch etwas Spontanes und kein Schulstoff! Höchstens dass Erfahrung ein Lehrmeister sein kann, wird man einräumen; aber sie lehrt zuverlässig nur den, der sie selbst gemacht hat.
Die Antike dachte anders. Ovid, mit vollem Namen Publius Ovidius Naso, hielt es für aussichtsreich, seine Zeit- und Standesgenossen (und -genossinnen, damals eher eine Seltenheit) nicht nur in Handbuch-, sondern sogar, wie damals allgemein üblich, in Versform darüber zu unterrichten, wie sie sich benehmen sollten, wenn sie einen Partner suchen. Dreierlei leistet er dabei für seine Leser und Leserinnen: Er verheißt ihnen eine höchst konkrete Belohnung, wenn sie seinen Ratschlägen folgen; er unterweist sie in aller höheren Lebenskunst, denn wer charmant, witzig, umgänglich, kenntnis- und einfallsreich ist, steigert seine Chancen gewaltig; und er unterhält sie dabei aufs angenehmste mit einem leichtfüßigen Kunstwerk, das seinerseits ein hochklassiges Beispiel jener Tugenden ist, die es so dringend empfiehlt.
Sein aus drei Büchern bestehendes Werk (zwei für die Männer, eins für die Frauen) ist als „Ars Amatoria“, „Die Liebeskunst“, in die Literaturgeschichte eingegangen. Und er behandelt die Liebe darin wirklich wie eine Kunst – eine Kunst in jenem Sinn, wie sie auch etwa ein Arzt oder ein Architekt ausüben und worin sich Ausbildung, Praxis, Augenmaß und ein Gefühl für das, was die Leute brauchen, zu einer besonderen Mischung verbinden. Diese Liebeskunst hat in den rund sechzig Generationen, die seit ihrer Niederschrift vergangen sind, das Publikum immer gespalten: Die einen schätzten den hohen Begriff von Freiheit und Humanität, der sich darin ausspricht; die anderen attackierten, was sie als frivole, unmoralische Grundhaltung besonders in Fragen der Sexualität ansahen. (Zur letzten Gruppe gehörte schon der sittenstrenge Kaiser Augustus, der den Dichter aus Rom ans Schwarze Meer verbannte, wo er in tiefer Traurigkeit starb.) An Übersetzungen und Ausgaben der „Liebeskunst“ besteht kein Mangel. Und nun gibt es, rechtzeitig zu des Autors zweitausendstem Todestag, wiederum eine neue.
Sie kommt vom verdienstvollen Verlag Galiani. Es ist ein aufwendiges, liebevolles Projekt, das Achtung verdient. Aber es hat zwei falsche Entscheidungen getroffen, die seine Brauchbarkeit erheblich einschränken. Die erste besteht darin, eine Übersetzung heranzuziehen (von zwei Philologen des 19. Jahrhunderts, Hertzberg und Burger), die das lateinische Distichon, das heißt den Doppelvers aus Hexameter und Pentameter, im Deutschen nachzubilden unternimmt. Das lateinische Distichon verfährt nach einem System der silbischen Längen und Kürzen, das unserem modernen germanischen Ohr ganz unzugänglich ist; der deutsche Hexameter transformiert dieses System notwendig in eins aus Akzent und Nicht-Akzent. Dass das möglich wäre, hat Johann Heinrich Voß, Übersetzer von Homers Epen, den Deutschen eingeredet. Aber es geht nicht. Hexameter und Pentameter sind im Lateinischen und Griechischen sehr bewegliche Verse; doch das macht nichts, weil einem Lateiner niemals ungewiss ist, ob eine Silbe lang oder kurz sei.
Das kann man vom deutschen Druckakzent nicht sagen, der nicht in den Wörtern wohnt, sondern sich von außen im Verskontext erst auf sie legt. Wie soll man die Verszeile vortragen: „Aber je gewaltsamer Cupido mich traf und versengte“? Die Spielregel besagt, es müsse hier sechs Akzente geben. Aber wo um Himmelswillen sitzen sie? Probieren sie es aus! Man muss das nicht so machen; Michael von Albrecht hat eine wunderbare Übersetzung der „Liebeskunst“ in Prosa vorgelegt, und jeder Schüler, der sich die Reclam-Ausgabe zulegt, hat es mit ihr zu tun.
Die zweite falsche Entscheidung war es, den Kommentar derart überhandnehmen zu lassen. Auf jeder Seite dieses großformatigen Buchs finden nur jeweils vier bis dreizehn Verszeilen von Ovid selbst Platz; sie stehen als rote kursive Insel in einem klein gedruckten schwarzen Meer von Anmerkungen. Was dort steht, ist nie verkehrt und, da statt im üblichen verkniffenen Fußnoten-Jargon als wirklicher Text abgefasst, sogar unterhaltsam. Dennoch erstickt diese Dornenhecke, was sie umschließt: Wer immer nur so kleine Häppchen vom Ganzen vorgesetzt bekommt, dem geht das große Ganze verloren. Eine wissenschaftliche Ausgabe kann man so gestalten. Aber nie und nie nimmer ein Buch, dessen Zweck darin besteht, dass es gelesen wird.
Wie muss man es anstellen, damit ein sehr alter und sehr voraussetzungsreicher Autor, der aber wirklich was zu bieten hat, wieder in die lesende Gegenwart zurückkehrt? Kurt Flasch hat sich diese Frage vor einiger Zeit bei Dante vorgelegt und eine Edition der „Göttlichen Komödie“ veranstaltet, der er einen Band vorausschickte: „Einladung, Dante zu lesen“. Er hatte sich genau überlegt, wie man es anstellen muss, um ein Publikum, das von alldem keine Ahnung hat, an das Werk heranzuführen.
Ovid, obwohl dreimal so alt wie Dante, ist nicht annähernd so schwierig; in Ovid reichen sich die beiden säkularen Zeitalter, die Antike und die Neuzeit, verschmitzt die Hand hinweg über den Abgrund des humorlosen metaphysischen Mittelalters. Eine Einladung, Ovid zu lesen, wäre weitaus leichter auszusprechen gewesen als bei Dante. Sie ist bei dieser Edition leider nicht erfolgt.
BURKHARD MÜLLER
Als kleine rote Inseln
stehen die Verszeilen im
schwarzen Meer des Kommentars
Ovid: Liebeskunst.
Aus dem Lateinischen von Wilhelm Hertzberg und Franz Burger. Herausgegeben und kommentiert von Tobias Roth, Asmus Trautsch und Melanie Möller. Galiani-Berlin-
Verlag, Berlin 2017.
378 Seiten, 39,90 Euro.
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