"Wer in dem Römischen Volk die Kunst zu lieben nicht kennet, Lese nur mich, und belehrt lieb' er nach meinem Gedicht. Kunst regiert das hurtige Schiff mit Segel und Ruder; Kunst das leichte Gespann : Amor'n auch lenke die Kunst. Tauglich Autómedon war für Wagen und biegsame Zügel; Unter des Tiphys Befehl fuhr das Hämonische Schiff. Mich hat Venus bestellt dem zarten Amor zum Bildner; Amors Autómedon wird nennen und Tiphys man mich." Gröls-Klassiker (Edition Werke der Weltliteratur)
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.02.2018Hat der Evangelist Matthäus etwa Ovid gelesen?
Ist das die rechte Lektüre für den Valentinstag? Die neue prächtig gestaltete und üppig kommentierte deutsche Ausgabe der berühmten "Liebeskunst" des römischen Dichters liegt gut in der Hand und erfreut das Auge. Bis man sie aufschlägt. Der Erotikprofessor wird zugetextet.
Wer, der gescheit ist, mischt zu schmeichelnden Worten nicht Küsse? / Gibt sie dir keine, so nimm, was sie dir selber nicht gibt. / Möglich, sie wehrt sich zuerst und wird dich unverschämt nennen. / Während sie abwehrt, wünscht sie selber, sie werde besiegt." Der zeitgenössische Leser, erst recht die Leserin, hat den Schock noch nicht verdaut, da kommt es ein paar Zeilen weiter noch schlimmer: "Nenn es Gewalt, wenn du willst. Solche ist Mädchen willkommen. / Was sie ergötzt, dazu wollen gezwungen sie sein. / Sie, die durch plötzlichen Raub gewaltsam zur Liebe genötigt, / Freut sich doch, ein Geschenk ist die verwegene Tat."
Wer über den Autor sonst nichts weiß, wird ihn - das ist das mindeste - für einen üblen Macho halten, wenn nicht für einen Vergewaltiger. Doch stammen diese Verse aus dem ersten Buch der "Ars amatoria", zu Deutsch "Liebeskunst", des Römers Publius Ovidius Naso (43 vor Christus bis etwa 18 nach Christus), eines der am meisten gelesenen und gefeierten Dichter des Abendlandes. Seine Werke, auch die drei Bücher der "Ars", sind bis heute Schullektüre, denn die Sprache Ovids ist einmalig: klar, oft heiter und gerade im Falle der "Ars" voller lebendiger Details aus dem Alltag im Rom zur Zeit des Kaiser Augustus.
Nur: Etliches versteht man heute nicht mehr. Viele der mythologischen Anspielungen etwa oder was der Autor eigentlich bezweckte, als er im Versmaß elegischer Liebesdichtung Männer und Frauen darin berät, wie man das jeweils andere Geschlecht herumkriegt. Und man versteht nicht, wie Ovid Sätze wie die eben zitierten in die Welt setzen, an vielen anderen Stellen der "Ars" aber die Gleichberechtigung in allem Erotischen propagieren konnte - bis hin zum Lob des gleichzeitigen Orgasmus. Kein Zweifel: Ovids "Liebeskunst" bedarf eines auch für Zeitgenossen ohne Altphilologiestudium verständlichen, ausführlichen Kommentars.
Nun, ausführlich ist es, was die beiden Lyriker Tobias Roth und Asmus Trautsch sowie die Berliner Latinistin Melanie Möller kürzlich vorgelegt haben. Dazu in einer Gestaltung, in welcher die Erklärungen den farblich abgesetzten Ovidtext umfließen. Doch die Freude an dem schönen Layout währt nur so lange, bis man sich ans Lesen macht.
Die Probleme fangen mit dem Ovidtext an. Zwar gibt es hervorragende moderne Übersetzungen der "Ars" ins Deutsche, etwa die präzise Prosaversion des Heidelberger Altphilologen Michael von Albrecht bei Reclam oder die in der Sammlung Tusculum erschienene, kaum weniger genaue Versübertragung des ausgewiesenen Ovid-Experten Niklas Holzberg aus München. Doch im vorliegenden Band wird dem Leser die Übersetzung Wilhelm Hertzbergs aus dem Jahr 1854 vorgesetzt, in der ergänzenden Fassung Franz Burgers aus den frühen zwanziger Jahren, denn Hertzberg hatte die besonders expliziten Passagen am Schluss des zweiten und dritten Buches schamhaft weggelassen. Auch wenn die Kommentatoren nun die Burgersche Fassung noch einmal nachbearbeitet haben, bleibt das Ergebnis für heutige deutsche Leser hinter dem zurück, was man erwarten dürfte.
Dann die Textaufteilung: Aus vielleicht gestalterischen, ansonsten aber unerfindlichen Gründen bilden die Ovid-Abschnitte auf jeder Seite trotz variabler Länge meist keine erkennbaren Sinnabschnitte. Schlimmer noch: Sehr oft zerreißt das Layout das antike Versmaß, indem es die beiden zusammengehörenden Teile des elegischen Distichons, Hexameter und Pentameter, auf verschiedenen, nicht notwendig gegenüberliegenden Seiten plaziert. Das wäre alles nicht so schlimm, wenn wenigstens der Kommentartext einer Seite auch immer mit dem Ovidtext auf derselben Seite korrespondieren würde, aber auch das ist längst nicht immer der Fall.
Selbst das wäre zu verschmerzen, hielte der Kommentartext, was die erste Anmutung seiner üppigen Textmasse verspricht. Nach Auskunft des Nachwortes wurde der Kommentar von Roth und Trautsch verfasst. Die Lateinprofessorin Melanie Möller habe ihn ergänzt, heißt es, was man vielleicht so verstehen kann, dass sie ihn weder korrigieren noch zusammenstreichen durfte. Beides wäre aber dringend notwendig gewesen.
Denn nicht genug damit, dass man hier auf Fehler stößt, die in der Antike sachkundigen Kommentatoren nicht passieren dürfen (Tertullian war kein Kirchenvater, Actium liegt nicht in Libyen). Nein, ganze Passagen des Kommentars tun schlicht nichts zur Sache. Etwa die zu einem Vers, den Hertzberg übersetzt "Sag', wenn sie Ja sagt, Ja. Nein, wenn sie etwas verneint." Im lateinischen Original steht da zwar wörtlich "was sie sagt, das sage, was sie verneint, verneine", aber das ignorieren die Kommentatoren, um sich an das Matthäusevangelium zu erinnern ("Und eure Rede wird sein Ja, ja; nein, nein") und die Möglichkeit anzudeuten, der Evangelist könnte Ovid gelesen haben. Sollte das ernst gemeint sein, ist das blühender Blödsinn, wenn nicht, fragt man sich, wo die Kommentatoren sich sonst noch überall für humorvoll gehalten haben.
Wie problematisch es ist, Hertzberg zu kommentieren statt Ovid, zeigt sich auch an einem Vers, in dem das Wort "gratia" auftaucht. Holzbergs moderne Versübersetzung gibt es, den Kontext treffend, mit "Gunst" wieder. Doch Hertzberg schrieb "Gnade", was - man ahnt es fast - die Kommentatoren zu einem diesmal offenbar völlig ernst gemeinten zwanzigzeiligen Exkurs über den Gnadenstreit in christlichen Konfessionen animiert. Der Erkenntniswert für Ovidleser ist gleich null.
Doch längst nicht immer ist Hertzberg schuld. Wenn zum Beispiel der Ortsname Methymna fällt, hat ein Kommentar natürlich zu erklären, dass es sich um eine Stadt auf Lesbos handelt. Doch dieser fügt noch elf Zeilen dazu, um darin die aktuelle Flüchtlingssituation auf dieser griechischen Insel anzuprangern. Als Verfremdungseffekt gegen antikenseligen Eskapismus kann das kaum gelten, denn wo die Kommentatoren sonst den vom Layout vorgegebenen Platz mit Überflüssigem füllen, wird oft nur gekalauert. Etwa an der Stelle, wo es um König Minos' Gemahlin Pasiphaë geht: "berühmt für ihre eigenwillige sexuelle Vorliebe für Stiere, die Ovid nun erzählen wird. Im Unterschied zur biblischen Verdammung durch Levitikus 18,23 beginge Pasiphaë im heutigen Deutschland nach Paragraph 3 S. 1 Nr. 13 Tierschutzgesetz in der Neufassung von 2013 mit ihrer Zoophilie nur eine Ordnungswidrigkeit", wird da erklärt und anschließend noch ein ähnlich flacher Tierschutzscherz über Minos nachgeschoben. Dass die Stierleidenschaft der armen Königin eine Strafe Poseidons an die Adresse ihres Gatten war und daraus der Minotaurus hervorging, wird dem Leser dagegen verschwiegen.
Und manchmal fragt man sich wirklich, wie gründlich die Kommentatoren den Text eigentlich gelesen haben. So behaupten sie zu einer Stelle im zweiten Buch: "Ovid wettert also nicht nur gegen Prahlhänse und Schwerenöter, sondern auch gegen Denuziantenschweine." Letztere Bezeichnung ist nicht nur belastet und stilistisch höchst fragwürdig, sondern geht an der betreffenden Textstelle komplett vorbei. Sofern Ovid hier überhaupt wettert, dann gegen Männer, die wahrheitswidrig behaupten, ein Mädchen verführt zu haben, um damit deren Ruf zu ruinieren.
Wie überhaupt das Treiben der Kommentatoren der Ovidlektüre nicht nur nicht hilft, sondern sie nicht selten geradezu behindert. Und zwar nicht nur durch die schiere Quantität an freien Assoziationen, welche die - durchaus auch vorhandenen - interessanten und wichtigen Erklärungen fast untergehen lassen. So erwähnt Ovid zum Beispiel an einer Stelle Vogelfänger, was hier zum Anlass genommen wird, aus dem Libretto der "Zauberflöte" zu zitieren und zu ergänzen: "Dass die Königin der Nacht aber ihre Angestellten nicht Ovid lesen lässt, leuchtet ein." Mit diesem Sparwitz aber verstellen sie dem Leser die Sicht auf den Humor Ovids, der mit seinen Bildern aus Jagd und Landwirtschaft Lehrgedichte wie die Georgica des Vergil persifliert, indem er damit Flirttipps gibt.
Aber so wollen die Kommentatoren die "Ars amatoria" offenbar nicht gelesen wissen. Nicht als unpolitische Dichtung, mit der Ovid seine Leser unterhält, indem er unentwegt auf Texte anspielt, die er bei seinen Zeitgenossen als bestens bekannt voraussetzen konnte: neben den Lehrgedichten vor allem die elegischen Dichtungen des Gallus, Tibull, Properz und nicht zuletzt seine, des Ovids, eigene Liebeselegien. Nein, scheinen die Kommentatoren zu glauben, Ovid muss ein Theoretiker und Vorkämpfer der sexuellen Befreiung gewesen sein. Wenn Ovid etwa schreibt "Nicht auf Gesetzes Befehl hat ein Bett euch vereinigt" (wieder ist Holzberg näher am Latein und zugleich lesbarer: "habt ihr im Bett euch vereinigt"), dann halten sie das für "ein flammendes Plädoyer für die wechselseitige Freiheit und Ungebundenheit der Liebe, zu Lasten einer Institution wie der Ehe". Oder sie glauben, Ovid halte ein Plädoyer für fröhliche Promiskuität (wie sie es ausdrücken: "für die rationale Maßlosigkeit erotischer Wiederholung"), wenn er den Frauen zuruft: "Verweigert die Lust nicht dem begierigen Mann. / Wenn er euch wirklich betrügt, was verliert ihr? Alles verbleibt euch. / Nähme er Tausende sich, wird es doch weniger nicht". Dabei stellt sich die Sache ganz anders dar, wenn man die Ars als ironisches Spiel mit der elegischen Liebesdichtung liest.
Nun ist man natürlich nicht verpflichtet, sie ausschließlich so zu lesen. Auch diese Kommentatoren räumen jedoch ein, dass der "Praeceptor amoris", wie sich das lyrische Ich nennt, der "Erzieher der Liebe" oder "Erotikprofessor", sich zuweilen der Ironie bedient. Doch sie lassen jeglichen hermeneutischen Rahmen vermissen, in dem sie begründen könnten, wann etwas ironisch ist und wann ein ernstgemeintes, vielleicht sogar gesellschaftskritisches Plädoyer. Letzteres wird einfach immer unterstellt, wenn man Ovid als Kritiker der augusteischen Familienpolitik oder des neuzeitlich-bürgerlichen Eheverständnisses interpretieren will - oder ihn gegen die als Leibfeindlichkeit wahrgenommene christliche Sexualmoral in Stellung bringen kann.
Damit aber müssen Passagen wie die eingangs zitierten unverständlich bleiben. Tatsächlich wird der Leser im ersten Buch mit ihnen zunächst allein gelassen. Erst anlässlich einer Stelle im dritten Buch kommen die Kommentatoren darauf zu sprechen, eine Stelle, die heute vielleicht die Strafverfolgungsbehörden auf den Plan riefe, stünde sie in einem tatsächlich als Ratgeber gemeinten Erotik-Leitfaden: "Hässlich ist die Frau, die von zu vielem Weine triefend daliegt, / Sie ist es wert, dass an ihr sich der erstbeste vergeht." Die Kommentatoren winden sich hier sichtlich gequält, versuchen es mit der kaum überzeugenden Deutung, der Erotikprofessor habe hier die Frauen vor hinsichtlich der Liebeskunst ungebildeten Wüstlingen warnen wollen, doch letztlich bleiben ihnen diese und vergleichbare Stellen "hochproblematisch" und "irritierend".
In Wahrheit sind sie skandalös und verabscheuungswürdig - wenn man darin ernstgemeinte Maximen sieht anstatt frivole Inversionen elegischer Gefühle zur Unterhaltung eines in traditioneller römischer Liebesdichtung bewanderten Publikums. Ovids Humor muss uns heute an diesen Stellen sehr befremden, doch ihn als etwas anderes zu nehmen, wird dem Dichter nicht gerecht, der laut seiner selbstverfassten Grabinschrift als "tenerorum lusor amorum" in Erinnerung bleiben wollte: als Spieler mit zärtlichen Liebegeschichten.
ULF VON RAUCHHAUPT
Ovid: "Liebeskunst".
Aus dem Lateinischen von Friedrich Hertzberg. Mit einem Kommentar von Tobias Roth, Asmus Trautsch und Melanie Möller. Verlag Galiani Berlin, Berlin 2017. 384 S., geb., 39,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ist das die rechte Lektüre für den Valentinstag? Die neue prächtig gestaltete und üppig kommentierte deutsche Ausgabe der berühmten "Liebeskunst" des römischen Dichters liegt gut in der Hand und erfreut das Auge. Bis man sie aufschlägt. Der Erotikprofessor wird zugetextet.
Wer, der gescheit ist, mischt zu schmeichelnden Worten nicht Küsse? / Gibt sie dir keine, so nimm, was sie dir selber nicht gibt. / Möglich, sie wehrt sich zuerst und wird dich unverschämt nennen. / Während sie abwehrt, wünscht sie selber, sie werde besiegt." Der zeitgenössische Leser, erst recht die Leserin, hat den Schock noch nicht verdaut, da kommt es ein paar Zeilen weiter noch schlimmer: "Nenn es Gewalt, wenn du willst. Solche ist Mädchen willkommen. / Was sie ergötzt, dazu wollen gezwungen sie sein. / Sie, die durch plötzlichen Raub gewaltsam zur Liebe genötigt, / Freut sich doch, ein Geschenk ist die verwegene Tat."
Wer über den Autor sonst nichts weiß, wird ihn - das ist das mindeste - für einen üblen Macho halten, wenn nicht für einen Vergewaltiger. Doch stammen diese Verse aus dem ersten Buch der "Ars amatoria", zu Deutsch "Liebeskunst", des Römers Publius Ovidius Naso (43 vor Christus bis etwa 18 nach Christus), eines der am meisten gelesenen und gefeierten Dichter des Abendlandes. Seine Werke, auch die drei Bücher der "Ars", sind bis heute Schullektüre, denn die Sprache Ovids ist einmalig: klar, oft heiter und gerade im Falle der "Ars" voller lebendiger Details aus dem Alltag im Rom zur Zeit des Kaiser Augustus.
Nur: Etliches versteht man heute nicht mehr. Viele der mythologischen Anspielungen etwa oder was der Autor eigentlich bezweckte, als er im Versmaß elegischer Liebesdichtung Männer und Frauen darin berät, wie man das jeweils andere Geschlecht herumkriegt. Und man versteht nicht, wie Ovid Sätze wie die eben zitierten in die Welt setzen, an vielen anderen Stellen der "Ars" aber die Gleichberechtigung in allem Erotischen propagieren konnte - bis hin zum Lob des gleichzeitigen Orgasmus. Kein Zweifel: Ovids "Liebeskunst" bedarf eines auch für Zeitgenossen ohne Altphilologiestudium verständlichen, ausführlichen Kommentars.
Nun, ausführlich ist es, was die beiden Lyriker Tobias Roth und Asmus Trautsch sowie die Berliner Latinistin Melanie Möller kürzlich vorgelegt haben. Dazu in einer Gestaltung, in welcher die Erklärungen den farblich abgesetzten Ovidtext umfließen. Doch die Freude an dem schönen Layout währt nur so lange, bis man sich ans Lesen macht.
Die Probleme fangen mit dem Ovidtext an. Zwar gibt es hervorragende moderne Übersetzungen der "Ars" ins Deutsche, etwa die präzise Prosaversion des Heidelberger Altphilologen Michael von Albrecht bei Reclam oder die in der Sammlung Tusculum erschienene, kaum weniger genaue Versübertragung des ausgewiesenen Ovid-Experten Niklas Holzberg aus München. Doch im vorliegenden Band wird dem Leser die Übersetzung Wilhelm Hertzbergs aus dem Jahr 1854 vorgesetzt, in der ergänzenden Fassung Franz Burgers aus den frühen zwanziger Jahren, denn Hertzberg hatte die besonders expliziten Passagen am Schluss des zweiten und dritten Buches schamhaft weggelassen. Auch wenn die Kommentatoren nun die Burgersche Fassung noch einmal nachbearbeitet haben, bleibt das Ergebnis für heutige deutsche Leser hinter dem zurück, was man erwarten dürfte.
Dann die Textaufteilung: Aus vielleicht gestalterischen, ansonsten aber unerfindlichen Gründen bilden die Ovid-Abschnitte auf jeder Seite trotz variabler Länge meist keine erkennbaren Sinnabschnitte. Schlimmer noch: Sehr oft zerreißt das Layout das antike Versmaß, indem es die beiden zusammengehörenden Teile des elegischen Distichons, Hexameter und Pentameter, auf verschiedenen, nicht notwendig gegenüberliegenden Seiten plaziert. Das wäre alles nicht so schlimm, wenn wenigstens der Kommentartext einer Seite auch immer mit dem Ovidtext auf derselben Seite korrespondieren würde, aber auch das ist längst nicht immer der Fall.
Selbst das wäre zu verschmerzen, hielte der Kommentartext, was die erste Anmutung seiner üppigen Textmasse verspricht. Nach Auskunft des Nachwortes wurde der Kommentar von Roth und Trautsch verfasst. Die Lateinprofessorin Melanie Möller habe ihn ergänzt, heißt es, was man vielleicht so verstehen kann, dass sie ihn weder korrigieren noch zusammenstreichen durfte. Beides wäre aber dringend notwendig gewesen.
Denn nicht genug damit, dass man hier auf Fehler stößt, die in der Antike sachkundigen Kommentatoren nicht passieren dürfen (Tertullian war kein Kirchenvater, Actium liegt nicht in Libyen). Nein, ganze Passagen des Kommentars tun schlicht nichts zur Sache. Etwa die zu einem Vers, den Hertzberg übersetzt "Sag', wenn sie Ja sagt, Ja. Nein, wenn sie etwas verneint." Im lateinischen Original steht da zwar wörtlich "was sie sagt, das sage, was sie verneint, verneine", aber das ignorieren die Kommentatoren, um sich an das Matthäusevangelium zu erinnern ("Und eure Rede wird sein Ja, ja; nein, nein") und die Möglichkeit anzudeuten, der Evangelist könnte Ovid gelesen haben. Sollte das ernst gemeint sein, ist das blühender Blödsinn, wenn nicht, fragt man sich, wo die Kommentatoren sich sonst noch überall für humorvoll gehalten haben.
Wie problematisch es ist, Hertzberg zu kommentieren statt Ovid, zeigt sich auch an einem Vers, in dem das Wort "gratia" auftaucht. Holzbergs moderne Versübersetzung gibt es, den Kontext treffend, mit "Gunst" wieder. Doch Hertzberg schrieb "Gnade", was - man ahnt es fast - die Kommentatoren zu einem diesmal offenbar völlig ernst gemeinten zwanzigzeiligen Exkurs über den Gnadenstreit in christlichen Konfessionen animiert. Der Erkenntniswert für Ovidleser ist gleich null.
Doch längst nicht immer ist Hertzberg schuld. Wenn zum Beispiel der Ortsname Methymna fällt, hat ein Kommentar natürlich zu erklären, dass es sich um eine Stadt auf Lesbos handelt. Doch dieser fügt noch elf Zeilen dazu, um darin die aktuelle Flüchtlingssituation auf dieser griechischen Insel anzuprangern. Als Verfremdungseffekt gegen antikenseligen Eskapismus kann das kaum gelten, denn wo die Kommentatoren sonst den vom Layout vorgegebenen Platz mit Überflüssigem füllen, wird oft nur gekalauert. Etwa an der Stelle, wo es um König Minos' Gemahlin Pasiphaë geht: "berühmt für ihre eigenwillige sexuelle Vorliebe für Stiere, die Ovid nun erzählen wird. Im Unterschied zur biblischen Verdammung durch Levitikus 18,23 beginge Pasiphaë im heutigen Deutschland nach Paragraph 3 S. 1 Nr. 13 Tierschutzgesetz in der Neufassung von 2013 mit ihrer Zoophilie nur eine Ordnungswidrigkeit", wird da erklärt und anschließend noch ein ähnlich flacher Tierschutzscherz über Minos nachgeschoben. Dass die Stierleidenschaft der armen Königin eine Strafe Poseidons an die Adresse ihres Gatten war und daraus der Minotaurus hervorging, wird dem Leser dagegen verschwiegen.
Und manchmal fragt man sich wirklich, wie gründlich die Kommentatoren den Text eigentlich gelesen haben. So behaupten sie zu einer Stelle im zweiten Buch: "Ovid wettert also nicht nur gegen Prahlhänse und Schwerenöter, sondern auch gegen Denuziantenschweine." Letztere Bezeichnung ist nicht nur belastet und stilistisch höchst fragwürdig, sondern geht an der betreffenden Textstelle komplett vorbei. Sofern Ovid hier überhaupt wettert, dann gegen Männer, die wahrheitswidrig behaupten, ein Mädchen verführt zu haben, um damit deren Ruf zu ruinieren.
Wie überhaupt das Treiben der Kommentatoren der Ovidlektüre nicht nur nicht hilft, sondern sie nicht selten geradezu behindert. Und zwar nicht nur durch die schiere Quantität an freien Assoziationen, welche die - durchaus auch vorhandenen - interessanten und wichtigen Erklärungen fast untergehen lassen. So erwähnt Ovid zum Beispiel an einer Stelle Vogelfänger, was hier zum Anlass genommen wird, aus dem Libretto der "Zauberflöte" zu zitieren und zu ergänzen: "Dass die Königin der Nacht aber ihre Angestellten nicht Ovid lesen lässt, leuchtet ein." Mit diesem Sparwitz aber verstellen sie dem Leser die Sicht auf den Humor Ovids, der mit seinen Bildern aus Jagd und Landwirtschaft Lehrgedichte wie die Georgica des Vergil persifliert, indem er damit Flirttipps gibt.
Aber so wollen die Kommentatoren die "Ars amatoria" offenbar nicht gelesen wissen. Nicht als unpolitische Dichtung, mit der Ovid seine Leser unterhält, indem er unentwegt auf Texte anspielt, die er bei seinen Zeitgenossen als bestens bekannt voraussetzen konnte: neben den Lehrgedichten vor allem die elegischen Dichtungen des Gallus, Tibull, Properz und nicht zuletzt seine, des Ovids, eigene Liebeselegien. Nein, scheinen die Kommentatoren zu glauben, Ovid muss ein Theoretiker und Vorkämpfer der sexuellen Befreiung gewesen sein. Wenn Ovid etwa schreibt "Nicht auf Gesetzes Befehl hat ein Bett euch vereinigt" (wieder ist Holzberg näher am Latein und zugleich lesbarer: "habt ihr im Bett euch vereinigt"), dann halten sie das für "ein flammendes Plädoyer für die wechselseitige Freiheit und Ungebundenheit der Liebe, zu Lasten einer Institution wie der Ehe". Oder sie glauben, Ovid halte ein Plädoyer für fröhliche Promiskuität (wie sie es ausdrücken: "für die rationale Maßlosigkeit erotischer Wiederholung"), wenn er den Frauen zuruft: "Verweigert die Lust nicht dem begierigen Mann. / Wenn er euch wirklich betrügt, was verliert ihr? Alles verbleibt euch. / Nähme er Tausende sich, wird es doch weniger nicht". Dabei stellt sich die Sache ganz anders dar, wenn man die Ars als ironisches Spiel mit der elegischen Liebesdichtung liest.
Nun ist man natürlich nicht verpflichtet, sie ausschließlich so zu lesen. Auch diese Kommentatoren räumen jedoch ein, dass der "Praeceptor amoris", wie sich das lyrische Ich nennt, der "Erzieher der Liebe" oder "Erotikprofessor", sich zuweilen der Ironie bedient. Doch sie lassen jeglichen hermeneutischen Rahmen vermissen, in dem sie begründen könnten, wann etwas ironisch ist und wann ein ernstgemeintes, vielleicht sogar gesellschaftskritisches Plädoyer. Letzteres wird einfach immer unterstellt, wenn man Ovid als Kritiker der augusteischen Familienpolitik oder des neuzeitlich-bürgerlichen Eheverständnisses interpretieren will - oder ihn gegen die als Leibfeindlichkeit wahrgenommene christliche Sexualmoral in Stellung bringen kann.
Damit aber müssen Passagen wie die eingangs zitierten unverständlich bleiben. Tatsächlich wird der Leser im ersten Buch mit ihnen zunächst allein gelassen. Erst anlässlich einer Stelle im dritten Buch kommen die Kommentatoren darauf zu sprechen, eine Stelle, die heute vielleicht die Strafverfolgungsbehörden auf den Plan riefe, stünde sie in einem tatsächlich als Ratgeber gemeinten Erotik-Leitfaden: "Hässlich ist die Frau, die von zu vielem Weine triefend daliegt, / Sie ist es wert, dass an ihr sich der erstbeste vergeht." Die Kommentatoren winden sich hier sichtlich gequält, versuchen es mit der kaum überzeugenden Deutung, der Erotikprofessor habe hier die Frauen vor hinsichtlich der Liebeskunst ungebildeten Wüstlingen warnen wollen, doch letztlich bleiben ihnen diese und vergleichbare Stellen "hochproblematisch" und "irritierend".
In Wahrheit sind sie skandalös und verabscheuungswürdig - wenn man darin ernstgemeinte Maximen sieht anstatt frivole Inversionen elegischer Gefühle zur Unterhaltung eines in traditioneller römischer Liebesdichtung bewanderten Publikums. Ovids Humor muss uns heute an diesen Stellen sehr befremden, doch ihn als etwas anderes zu nehmen, wird dem Dichter nicht gerecht, der laut seiner selbstverfassten Grabinschrift als "tenerorum lusor amorum" in Erinnerung bleiben wollte: als Spieler mit zärtlichen Liebegeschichten.
ULF VON RAUCHHAUPT
Ovid: "Liebeskunst".
Aus dem Lateinischen von Friedrich Hertzberg. Mit einem Kommentar von Tobias Roth, Asmus Trautsch und Melanie Möller. Verlag Galiani Berlin, Berlin 2017. 384 S., geb., 39,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die in rotes Leinen gehüllte Prachtausgabe der Liebeskunst, die der Galiani Verlag nun herausgebracht hat, erinnert in E-Book-Zeiten daran, dass man nicht nur mit allen Sinnen lieben, sondern auch lesen kann. Und sie passt zur fröhlichen und dabei so formschönen Sinnlichkeit von Ovids Text. Anne-Catherine Simon Die Presse