Die Begegnung mit Arie, einem alten Freund ihres Vaters, wirft das Leben der Ich-Erzählerin Ja'ara aus der Bahn. Vom ersten Moment an verfällt sie der erotischen Anziehungskraft des ebenso rätselhaften wie tyrannischen Egozentrikers. Ja'ara erlebt eine bedingungslose, obsessive und demütigende Liebesbeziehung, die sie dazu bringt, auf alles zu verzichten, was ihr Leben bisher ausgemacht hat: ihre Ehe, ihre Karriere, ihre Vorstellungen von Treue und Anstand.
"Das ist vermutlich die Wurzel der Liebe, allen möglichen Blödsinn zu erzählen, der einem passiert ist, in der Hoffnung, daß auf dem gewundenen Weg vom Mund des einen zum Ohr des anderen die Geschichte ihre Bedeutung bekommen wird, ihre Berechtigung." So zumindest die Hoffnung von Ja`ara, der Erzählerin dieses erotischen Romans. Ja`ara ist Dozentin an der Universität von Jerusalem. Ihr scheinbar geregeltes Leben kommt nach der Begegnung mit Arie, einem nach langen Jahren im Ausland nach Israeal zurückgekehrten Freund ihres Vaters, vollkommen durcheinander. Vom ersten Moment an verfällt sie der erotischen Anziehungskraft des ebenso rätselhaften wie tyrannischen Egozentrikers. Die bedingungslose Liebe zu Arie bringt sie dazu, auf alles zu verzichten, was ihr Leben bisher ausgemacht hat: die Zukunft mit einem liebevollen, doch harmlos-langweiligen Ehemann, ihre wissenschaftliche Karriere, selbst ihre Vorstellung von Treue und Anstand.Auf der Suche nach dem Sinn ihrer Geschichte, ihres "Liebeslebens", nimmt Ja`ara eine lange Kette von Demütigungen auf sich, erträgt standhaft Situationen von zum Teil grotesker Komik. Erst ganz zum Schluß eröffnet sich ihr ein überraschender, doch folgerichtiger Ausweg.
"Das ist vermutlich die Wurzel der Liebe, allen möglichen Blödsinn zu erzählen, der einem passiert ist, in der Hoffnung, daß auf dem gewundenen Weg vom Mund des einen zum Ohr des anderen die Geschichte ihre Bedeutung bekommen wird, ihre Berechtigung." So zumindest die Hoffnung von Ja`ara, der Erzählerin dieses erotischen Romans. Ja`ara ist Dozentin an der Universität von Jerusalem. Ihr scheinbar geregeltes Leben kommt nach der Begegnung mit Arie, einem nach langen Jahren im Ausland nach Israeal zurückgekehrten Freund ihres Vaters, vollkommen durcheinander. Vom ersten Moment an verfällt sie der erotischen Anziehungskraft des ebenso rätselhaften wie tyrannischen Egozentrikers. Die bedingungslose Liebe zu Arie bringt sie dazu, auf alles zu verzichten, was ihr Leben bisher ausgemacht hat: die Zukunft mit einem liebevollen, doch harmlos-langweiligen Ehemann, ihre wissenschaftliche Karriere, selbst ihre Vorstellung von Treue und Anstand.Auf der Suche nach dem Sinn ihrer Geschichte, ihres "Liebeslebens", nimmt Ja`ara eine lange Kette von Demütigungen auf sich, erträgt standhaft Situationen von zum Teil grotesker Komik. Erst ganz zum Schluß eröffnet sich ihr ein überraschender, doch folgerichtiger Ausweg.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.06.2000Japsen und Jammern
Zeruya Shalevs Roman "Liebesleben" · Von Eberhard Rathgeb
Man müsse, bemerkt der dem Katholizismus stark zugeneigte Schriftsteller Julien Green in seinem Tagebuch, streng zwischen dem Begehren und der Liebe unterscheiden. Wirkliche Erfüllung bringe dem Menschen nur die Liebe. Man schaue doch bitte einmal in die kalten und erloschenen Augen eines dieser hochgerühmten Lebemänner, dann werde man sich rasch von der Illusion, die sich hartnäckig am Leben im Illustriertenschein erhalte, kurieren, dass dem Begehren vor der Liebe der erste Platz gebühre. Julien Green wird zu dieser im katholischen Geiste getroffenen Unterscheidung durch eigene Erfahrungen gelangt sein. Wer in diesem Dilemma nicht nur einen, sondern seinen Weg gefunden hat, der kann auf ein erfülltes Liebesleben zurückblicken. Da Wörter manchmal Realitäten schaffen, führen die Liebe und das Begehren landauf, landab ein getrenntes Dasein, werden entweder miteinander verbunden oder zeigen sich die kalte Schulter. In Jerusalem ist das nicht anders als an anderen Orten.
Von diesen Schwierigkeiten eines Gefühls, erwachsen zu werden, handelt der Roman der hierzulande noch unbekannten Zeruya Shalev, die 1959 im Kibbutz Kinneret geboren wurde. Es ist, um das vorweg zu sagen, ein flirrender, freimütiger, intelligenter und anrührender Roman. Erzählt wird die Geschichte einer jungen, hübschen Dozentin für Theologie an der Jerusalemer Universität. Sie ist nicht übermäßig glücklich, aber auch nicht deprimierend unglücklich verheiratet mit einem nicht gerade aufregenden Computerfachmann, der vor allem eine Stupsnase hat und gerne Tennis spielt. Die Liebe der beiden ist mehr geschwisterlich als leidenschaftlich. Händchenhaltend schlafen sie ein. Sie heißt Ja'ara, er Joni. Sie plagt sich mit einem Thema für ihre Abschlussarbeit, er kümmert sich nebenbei um den Haushalt. Der Segen der Eltern schwebt über ihnen. Kann da noch etwas schiefgehen?
Es kann. Seit Albert Camus muss ein Mensch damit rechnen, dass etwas um die Ecke biegt, wenn er mit Einkaufstüten in der Hand die Straße entlangschlendert. Bei Camus hieß dieses Etwas "das Absurde". In Shalevs Roman ist es "das Begehren". Die landläufige Vorstellung schwelgt darin, dass das Begehren entzündet wird, wie man einen Gasherd anmacht, durch einen kessen Blick, eine Berührung, eine klasse Geste, ein Lachen, den James-Dean-Gang oder was es auch sein mag. Wie das Camus'sche Absurde einen Menschen eckenhart umhaut, so entriegelt ihn das Begehren und lässt ihn einen Blick in die reine Sinnlichkeit werfen. Das vergisst er nicht so leicht. Auch Ja'ara kommt darüber nicht hinweg, als sie ihn, den anderen, den Mann, erblickt. Das Begehren, erst einmal zum Rotieren gebracht, beginnt zu zerren und zu ziehen, es duldet keinen Aufschub.
Und dabei hatte Ja'ara doch geglaubt, die Liebe - und zwar nicht irgendeine, sondern die große Liebe - gefunden zu haben! Joni hatte sie über eine Freundin kennen gelernt, sie wusste von den Männern nicht viel, im Grunde genommen nichts. Joni war nett. Kann man noch mehr sagen? Er schien zuverlässig. Er versprach, sie bis zum Ende aller Tage zu lieben. Konnte etwas in ihren mädchenhaften Ohren schöner klingen und säuseln? Die landläufige Vorstellung drängelt sich vor, verbeugt sich und spricht: Hallo, ihr beiden. Ihr sollt zusammen alt werden, denn ihr habt einander und die Liebe gefunden. Und prompt wären sie auch, wenn nichts dazwischen gerasselt wäre, ein Herd und eine Gemeinschaft geblieben. Sie hätten eine Ehe geführt, ohne Trara, mit den üblichen Streitereien über den Abwasch und den Müll, und sie hätten ihre Träume in einen Topf geworfen, sich aneinandergelehnt und es sich noch einmal geflüstert, dass man gut zueinander passe. Ja'ara bemühte sich um ihre Studien, Joni um seine Programme. Kinder sollten irgendwann kommen. Die beiden hatten sich einander versprochen, über alles weitere hätte man immer miteinander reden können.
Wenn da nicht das Begehren gerufen hätte. Ja'ara rieselte ein schöner Schrecken über die Haut, als sie eines Tages ihre Eltern besuchte und statt ihres Vaters unvermutet ein fremder, schon älterer Mann - ein Mann in den Sechzigern - ihr die Tür öffnete, sie hereinließ und dabei leicht am Arm berührte. Leicht! Ist das nun das Salz auf der Haut? Dieser Männerarm war etwas Besonderes, er wies ihrem Leben noch an der elterlichen Haustür eine entschieden andere Richtung. Arie hieß der Alte und war ein Studienfreund des Vaters. Warum gerade der Türöffner die Flamme entfachte? So sah das Ja'ara: Hier stand auf der Schwelle eine männlich derbe Erscheinung, einnehmend, mit bestimmendem Tonfall, undurchsichtigem Blick, noch recht fest gebaut, mit groben Gesichtszügen und erregend schlanken Fingern. Begehren soll blind machen. Die junge Frau möchte den Alten haben. Warum? Weil sie Bruder Joni daheim sitzen hat, während sie sich einen Mann wünscht.
Das klingt ja schrecklich, und es wird daraus ein guter Roman. Das ist das Glück dieser Geschichte, dass Ja'ara an der Unmittelbarkeit der Liebe zweifeln muss, dass sie nicht einmal weiß, was das Begehren ist und dass daraus dann, als sie endlich etwas verstanden hat, als sie endlich davon erzählen kann, ihre "education sentimentale", ihr Liebesleben wird. Für Ja'ara stellt sich das so dar: Die geschwisterliche Liebe hier, das Begehren zwischen Mann und Frau dort. Das sind die Gefühle, in denen sich Ja'ara abwechselnd verheddert. Wäre nicht Arie aufgetaucht, sie wäre bei Joni geblieben. Hätte sie bei Joni nicht einen Mangel zugedeckt, sie hätte von Arie nicht die Erfüllung erhofft. Schicksal ist die Notwendigkeit, in Tautologien zu denken und zu handeln, in Begriffen und Gefühlen, die sich gegenseitig bedingen. Wer da nicht herauskommt, der kann sein Schicksal nur dann zurückweisen, wenn er sich selbst ablehnt. Mit beiden Händen aber greift sich Ja'ara das Schicksal von der Türschwelle, stiehlt sich aus ihrem gewohnten Dasein auf Stunden und Nächte weg, was nicht ohne Tränen und Vorwürfe einerseits, ohne Freuden und Jauchzern andererseits abläuft. Sie hat, wie der Camus'sche Mensch vor dem Absurden, etwas erfahren, was sich nicht mehr annullieren lässt. Halb zog er sie, halb sank sie hin: Auf jeden Fall fiel sie aus dem Rahmen.
Die Liebe und das Begehren, wenn man einmal diese nicht nur katholisch inspirierte Trennung aufrechterhalten möchte, sind ohne ihre Geschichte nicht zu haben. Davon erzählt Shalev, deswegen hat sie diesen Roman geschrieben. Die Liebe und das Begehren sind nicht einfach da, sondern sie werden. Und zwar dort, wo alles beginnt: in der Familie, dem Minenfeld der Beziehungen, auf dem man das Laufen lernen muss. Keiner weiß vorneweg, was seine Familie ist und was sie für ihn werden kann. Man kommt aus der Familie heil heraus, wenn man auf eigenen Füßen, unter dem Dach der eigenen Gedanken, hinter dem Schild der eigenen Seele steht. Und man bleibt - das kann Ja'ara, zwischen Joni und Arie, Jung und Alt, Bruder und Vater, ergänzen - ein Kind, solange man kein, solange man nicht sein ganz persönliches Liebesleben durchgemacht hat. Die Familie ist ein Netz, das einen auffangen, aber auch gefangenhalten kann. Vor allem ist sie, so zeigt es Zeruya Shalev, ein Muster aus erfüllten oder unerfüllten Lieben und also aus erlöstem oder unerlöstem Begehren, das sich einem von Kindesbeinen an auf die Haut - von wegen Salz! - und in die Seele drückt. Und das gilt auch für die Familie Ja'aras.
Die psychologisch interessante Geschichte dieser Familie muss hier nicht erzählt werden. Nur so viel: Arie ist darin stärker verwickelt, als es auf den ersten Blick erschien. Er kann wegen einer Kriegsverletzung aus jungen Jahren keine Kinder zeugen. Seine Frau, die schwanger von einem anderen Mann war, als sie ihn kennen lernte, trieb ihm zuliebe ab und zog ein kinderloses einem kinderreichen Leben vor. Er nimmt das Opfer an und geht, als Beweis seiner so genannten Männlichkeit, immer wieder zu anderen Frauen. Während Ja'ara mit Arie ins Bett steigt, liegt Aries Frau im Krankenhaus und starrt den Tod an. Macht denn Begehren egoistisch? Ja'ara kennt keine wirkliche Scheu, Arie lügt sich Treue in die Tasche. Die alte Liebe dämmert, das junge Begehren japst. Wer möchte Zurückhaltung üben, Mitleid, Nachsicht? Ja'ara, Arie? Beineschwingend triumphiert die matte Lust über die lahme Alte, der Trieb zu zweit über den Tod allein. Die sterbensstarke Frau hat vor den beiden keine Rechte mehr, am wenigsten offensichtlich auf ein wenig Wahrheit und auf das, was Julien Green, christlich umweht, die Liebe nannte, und sei es nur für die letzten ein, zwei Monate. Dass Ja'ara von dem Kerl endlich loskommt, hat sie auch dem Kerl zu verdanken, der sich keine Mühe macht, sie zu halten. Zu Joni rennt sie nicht mehr zurück. Sie lässt beide stehen. Sie wird sich selbst an der Hand nehmen, statt sich an Väterchen Aries schlanken Fingern geduckt durchs Leben ziehen zu lassen. Die Erlösung winkt: Bloß weg von der fraulich-schwesterlichen Neigung zu Joni und dem weiblich-kindlichen Begehren nach Arie.
Ja'ara lässt sich am Abend des großen Verlassens in der Universitätsbibliothek einschließen. Das ist kein Ausweg, aber ein Anfang aus dem Schlamassel. Denn Lesen hat schon oft geholfen, Schreiben auch - Julien Green wusste, dass seine Sinnlichkeit sich in die Literatur auflöste. Ja'ara selbst erzählt ihre Geschichte - in einem Ton, dem man die Zuversicht anhört, dass ein Mensch in diesem Geflatter und Gedröhne der Gefühle erwachsen wurde, raus aus den Kinderschuhen der Liebe kam. Kann denn Liebe Unglück sein? Sie kann, weil gerade sie, entgegen der landläufigen Vorstellung, nicht vom Himmel fällt, sondern ein Bodengewächs, ein lebenslanges und also auch ein früh sich bildendes Muster ist. Wer das nicht erfahren, wer das nicht verstanden hat, der hängt sich an die kindliche und kindische Vorstellung vom errettenden höllischen Begehren. Deswegen, weil dieses Buch, die Geschichte einer jungen Frau, davon handelt, warum die schönste ferne Nähe so kinderschwierig ist und einen unglücklich macht, muss man es auch den Familienroman eines Gefühls nennen: seit Monika Marons "Animale Triste" der psychologisch klügste und ehrlichste Roman über die Schlingpflanze Liebe.
Zeruya Shalev: "Liebesleben". Roman. Aus dem Hebräischen übersetzt von Mirjam Pressler. Berlin Verlag 2000. 368 S., geb., 39,80 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Zeruya Shalevs Roman "Liebesleben" · Von Eberhard Rathgeb
Man müsse, bemerkt der dem Katholizismus stark zugeneigte Schriftsteller Julien Green in seinem Tagebuch, streng zwischen dem Begehren und der Liebe unterscheiden. Wirkliche Erfüllung bringe dem Menschen nur die Liebe. Man schaue doch bitte einmal in die kalten und erloschenen Augen eines dieser hochgerühmten Lebemänner, dann werde man sich rasch von der Illusion, die sich hartnäckig am Leben im Illustriertenschein erhalte, kurieren, dass dem Begehren vor der Liebe der erste Platz gebühre. Julien Green wird zu dieser im katholischen Geiste getroffenen Unterscheidung durch eigene Erfahrungen gelangt sein. Wer in diesem Dilemma nicht nur einen, sondern seinen Weg gefunden hat, der kann auf ein erfülltes Liebesleben zurückblicken. Da Wörter manchmal Realitäten schaffen, führen die Liebe und das Begehren landauf, landab ein getrenntes Dasein, werden entweder miteinander verbunden oder zeigen sich die kalte Schulter. In Jerusalem ist das nicht anders als an anderen Orten.
Von diesen Schwierigkeiten eines Gefühls, erwachsen zu werden, handelt der Roman der hierzulande noch unbekannten Zeruya Shalev, die 1959 im Kibbutz Kinneret geboren wurde. Es ist, um das vorweg zu sagen, ein flirrender, freimütiger, intelligenter und anrührender Roman. Erzählt wird die Geschichte einer jungen, hübschen Dozentin für Theologie an der Jerusalemer Universität. Sie ist nicht übermäßig glücklich, aber auch nicht deprimierend unglücklich verheiratet mit einem nicht gerade aufregenden Computerfachmann, der vor allem eine Stupsnase hat und gerne Tennis spielt. Die Liebe der beiden ist mehr geschwisterlich als leidenschaftlich. Händchenhaltend schlafen sie ein. Sie heißt Ja'ara, er Joni. Sie plagt sich mit einem Thema für ihre Abschlussarbeit, er kümmert sich nebenbei um den Haushalt. Der Segen der Eltern schwebt über ihnen. Kann da noch etwas schiefgehen?
Es kann. Seit Albert Camus muss ein Mensch damit rechnen, dass etwas um die Ecke biegt, wenn er mit Einkaufstüten in der Hand die Straße entlangschlendert. Bei Camus hieß dieses Etwas "das Absurde". In Shalevs Roman ist es "das Begehren". Die landläufige Vorstellung schwelgt darin, dass das Begehren entzündet wird, wie man einen Gasherd anmacht, durch einen kessen Blick, eine Berührung, eine klasse Geste, ein Lachen, den James-Dean-Gang oder was es auch sein mag. Wie das Camus'sche Absurde einen Menschen eckenhart umhaut, so entriegelt ihn das Begehren und lässt ihn einen Blick in die reine Sinnlichkeit werfen. Das vergisst er nicht so leicht. Auch Ja'ara kommt darüber nicht hinweg, als sie ihn, den anderen, den Mann, erblickt. Das Begehren, erst einmal zum Rotieren gebracht, beginnt zu zerren und zu ziehen, es duldet keinen Aufschub.
Und dabei hatte Ja'ara doch geglaubt, die Liebe - und zwar nicht irgendeine, sondern die große Liebe - gefunden zu haben! Joni hatte sie über eine Freundin kennen gelernt, sie wusste von den Männern nicht viel, im Grunde genommen nichts. Joni war nett. Kann man noch mehr sagen? Er schien zuverlässig. Er versprach, sie bis zum Ende aller Tage zu lieben. Konnte etwas in ihren mädchenhaften Ohren schöner klingen und säuseln? Die landläufige Vorstellung drängelt sich vor, verbeugt sich und spricht: Hallo, ihr beiden. Ihr sollt zusammen alt werden, denn ihr habt einander und die Liebe gefunden. Und prompt wären sie auch, wenn nichts dazwischen gerasselt wäre, ein Herd und eine Gemeinschaft geblieben. Sie hätten eine Ehe geführt, ohne Trara, mit den üblichen Streitereien über den Abwasch und den Müll, und sie hätten ihre Träume in einen Topf geworfen, sich aneinandergelehnt und es sich noch einmal geflüstert, dass man gut zueinander passe. Ja'ara bemühte sich um ihre Studien, Joni um seine Programme. Kinder sollten irgendwann kommen. Die beiden hatten sich einander versprochen, über alles weitere hätte man immer miteinander reden können.
Wenn da nicht das Begehren gerufen hätte. Ja'ara rieselte ein schöner Schrecken über die Haut, als sie eines Tages ihre Eltern besuchte und statt ihres Vaters unvermutet ein fremder, schon älterer Mann - ein Mann in den Sechzigern - ihr die Tür öffnete, sie hereinließ und dabei leicht am Arm berührte. Leicht! Ist das nun das Salz auf der Haut? Dieser Männerarm war etwas Besonderes, er wies ihrem Leben noch an der elterlichen Haustür eine entschieden andere Richtung. Arie hieß der Alte und war ein Studienfreund des Vaters. Warum gerade der Türöffner die Flamme entfachte? So sah das Ja'ara: Hier stand auf der Schwelle eine männlich derbe Erscheinung, einnehmend, mit bestimmendem Tonfall, undurchsichtigem Blick, noch recht fest gebaut, mit groben Gesichtszügen und erregend schlanken Fingern. Begehren soll blind machen. Die junge Frau möchte den Alten haben. Warum? Weil sie Bruder Joni daheim sitzen hat, während sie sich einen Mann wünscht.
Das klingt ja schrecklich, und es wird daraus ein guter Roman. Das ist das Glück dieser Geschichte, dass Ja'ara an der Unmittelbarkeit der Liebe zweifeln muss, dass sie nicht einmal weiß, was das Begehren ist und dass daraus dann, als sie endlich etwas verstanden hat, als sie endlich davon erzählen kann, ihre "education sentimentale", ihr Liebesleben wird. Für Ja'ara stellt sich das so dar: Die geschwisterliche Liebe hier, das Begehren zwischen Mann und Frau dort. Das sind die Gefühle, in denen sich Ja'ara abwechselnd verheddert. Wäre nicht Arie aufgetaucht, sie wäre bei Joni geblieben. Hätte sie bei Joni nicht einen Mangel zugedeckt, sie hätte von Arie nicht die Erfüllung erhofft. Schicksal ist die Notwendigkeit, in Tautologien zu denken und zu handeln, in Begriffen und Gefühlen, die sich gegenseitig bedingen. Wer da nicht herauskommt, der kann sein Schicksal nur dann zurückweisen, wenn er sich selbst ablehnt. Mit beiden Händen aber greift sich Ja'ara das Schicksal von der Türschwelle, stiehlt sich aus ihrem gewohnten Dasein auf Stunden und Nächte weg, was nicht ohne Tränen und Vorwürfe einerseits, ohne Freuden und Jauchzern andererseits abläuft. Sie hat, wie der Camus'sche Mensch vor dem Absurden, etwas erfahren, was sich nicht mehr annullieren lässt. Halb zog er sie, halb sank sie hin: Auf jeden Fall fiel sie aus dem Rahmen.
Die Liebe und das Begehren, wenn man einmal diese nicht nur katholisch inspirierte Trennung aufrechterhalten möchte, sind ohne ihre Geschichte nicht zu haben. Davon erzählt Shalev, deswegen hat sie diesen Roman geschrieben. Die Liebe und das Begehren sind nicht einfach da, sondern sie werden. Und zwar dort, wo alles beginnt: in der Familie, dem Minenfeld der Beziehungen, auf dem man das Laufen lernen muss. Keiner weiß vorneweg, was seine Familie ist und was sie für ihn werden kann. Man kommt aus der Familie heil heraus, wenn man auf eigenen Füßen, unter dem Dach der eigenen Gedanken, hinter dem Schild der eigenen Seele steht. Und man bleibt - das kann Ja'ara, zwischen Joni und Arie, Jung und Alt, Bruder und Vater, ergänzen - ein Kind, solange man kein, solange man nicht sein ganz persönliches Liebesleben durchgemacht hat. Die Familie ist ein Netz, das einen auffangen, aber auch gefangenhalten kann. Vor allem ist sie, so zeigt es Zeruya Shalev, ein Muster aus erfüllten oder unerfüllten Lieben und also aus erlöstem oder unerlöstem Begehren, das sich einem von Kindesbeinen an auf die Haut - von wegen Salz! - und in die Seele drückt. Und das gilt auch für die Familie Ja'aras.
Die psychologisch interessante Geschichte dieser Familie muss hier nicht erzählt werden. Nur so viel: Arie ist darin stärker verwickelt, als es auf den ersten Blick erschien. Er kann wegen einer Kriegsverletzung aus jungen Jahren keine Kinder zeugen. Seine Frau, die schwanger von einem anderen Mann war, als sie ihn kennen lernte, trieb ihm zuliebe ab und zog ein kinderloses einem kinderreichen Leben vor. Er nimmt das Opfer an und geht, als Beweis seiner so genannten Männlichkeit, immer wieder zu anderen Frauen. Während Ja'ara mit Arie ins Bett steigt, liegt Aries Frau im Krankenhaus und starrt den Tod an. Macht denn Begehren egoistisch? Ja'ara kennt keine wirkliche Scheu, Arie lügt sich Treue in die Tasche. Die alte Liebe dämmert, das junge Begehren japst. Wer möchte Zurückhaltung üben, Mitleid, Nachsicht? Ja'ara, Arie? Beineschwingend triumphiert die matte Lust über die lahme Alte, der Trieb zu zweit über den Tod allein. Die sterbensstarke Frau hat vor den beiden keine Rechte mehr, am wenigsten offensichtlich auf ein wenig Wahrheit und auf das, was Julien Green, christlich umweht, die Liebe nannte, und sei es nur für die letzten ein, zwei Monate. Dass Ja'ara von dem Kerl endlich loskommt, hat sie auch dem Kerl zu verdanken, der sich keine Mühe macht, sie zu halten. Zu Joni rennt sie nicht mehr zurück. Sie lässt beide stehen. Sie wird sich selbst an der Hand nehmen, statt sich an Väterchen Aries schlanken Fingern geduckt durchs Leben ziehen zu lassen. Die Erlösung winkt: Bloß weg von der fraulich-schwesterlichen Neigung zu Joni und dem weiblich-kindlichen Begehren nach Arie.
Ja'ara lässt sich am Abend des großen Verlassens in der Universitätsbibliothek einschließen. Das ist kein Ausweg, aber ein Anfang aus dem Schlamassel. Denn Lesen hat schon oft geholfen, Schreiben auch - Julien Green wusste, dass seine Sinnlichkeit sich in die Literatur auflöste. Ja'ara selbst erzählt ihre Geschichte - in einem Ton, dem man die Zuversicht anhört, dass ein Mensch in diesem Geflatter und Gedröhne der Gefühle erwachsen wurde, raus aus den Kinderschuhen der Liebe kam. Kann denn Liebe Unglück sein? Sie kann, weil gerade sie, entgegen der landläufigen Vorstellung, nicht vom Himmel fällt, sondern ein Bodengewächs, ein lebenslanges und also auch ein früh sich bildendes Muster ist. Wer das nicht erfahren, wer das nicht verstanden hat, der hängt sich an die kindliche und kindische Vorstellung vom errettenden höllischen Begehren. Deswegen, weil dieses Buch, die Geschichte einer jungen Frau, davon handelt, warum die schönste ferne Nähe so kinderschwierig ist und einen unglücklich macht, muss man es auch den Familienroman eines Gefühls nennen: seit Monika Marons "Animale Triste" der psychologisch klügste und ehrlichste Roman über die Schlingpflanze Liebe.
Zeruya Shalev: "Liebesleben". Roman. Aus dem Hebräischen übersetzt von Mirjam Pressler. Berlin Verlag 2000. 368 S., geb., 39,80 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ja´ara geht es gut. Die Dozentin an der Universität Jerusalem arbeitet an ihrer Promotion und hat in Joni einen liebevollen, wenn auch wenig aufregenden Ehemann. Ihr geregeltes Leben fällt zusammen wie ein Kartenhaus, als sie Arie trifft, den Schulfreund ihres Vaters. Vom ersten Augenblick an verfällt sie dem gefühlskalten Egozentriker, der ihre Hingabe annimmt, ohne sie zu erwidern. Mit seiner lieblosen Art, der mechanisch abgespulten Sexualität bildet er einen eigenartigen Gegensatz zu dem sanften, zärtlichen Joni. Ja´ara erträgt immer neue Demütigungen durch den Mann, von dem sie sich gleichsam abgestoßen und angezogen fühlt. Stück für Stück demontiert sie ihre bisherige Existenz. Warum? Ihr scheinbar unsinniges Handeln lässt den Leser diese Frage erst leise, dann immer lauter stellen. Bis man irgendwann an den Punkt kommt, an dem man schreien möchte: Tu´s nicht! Ja´ara reicht es nicht, die eigenen Grenzen zu überschreiten, sie muss sie niederreißen. Nicht für, sondern durch Arie befreit sie sich von einem Leben, das ihr selbst nicht mehr entspricht. Ein schmerzhafter Selbstfindungsprozess, den Zeruya Shalev in langen, atemlosen Sätzen von bildhaft schöner Sprache erzählt. (www.parship.de)
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
""Das klingt schrecklich, und es wird daraus ein guter Roman," befindet Eberhard Rathgeb, nachdem er zuvor versucht hat, einen Einblick in die Handlung zu geben. "Seit Monika Marons `Animale Triste` der klügste und ehrlichste Roman über die Schlingpflanze Liebe". Flüchtig werfen wir ein paar Blicke auf die vier liebesverstrickten Protagonisten. Aber dazwischen muss man sich immer wieder durch lange Ausführungen des Kritikers über die Liebe und das Begehren kämpfen. Zum Beispiel: "wie das Camussche Absurde einen Menschen eckenhart umhaut, so entriegelt ihn das Begehren". .... oder "Die alte Liebe dämmert, das junge Begehren japst". Wir auch.
© Perlentaucher Medien GmbH"
© Perlentaucher Medien GmbH"
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 22.07.2023Die Bücher
des
Sommers
21 Romane, Sachbücher
und Lyrikbände
für die Wochen daheim oder am Strand.
Die Empfehlungen des
SZ-Feuilletons
Bitte gib mir
nur ein Wort
In diesem Buch geht es um Wörter, darum, was sie bedeuten und wer das überhaupt entscheidet. Hauptperson ist Esme Nicoll, Tochter eines der Editoren des ersten Oxford Dictionarys. Als Kind sitzt sie unter seinem Tisch und sammelt Wörter, die weggeschmissen wurden. Als Jugendliche fängt sie an zu hinterfragen, welche Wörter warum nicht hineinkommen – oft solche, die die Lebenswelt von Frauen beschreiben oder von der Unterschicht, oder gar von Frauen aus der Unterschicht („Fotze“). Zur selben Zeit kämpfen die Suffragetten ums Frauenwahlrecht. Esme ist dafür, doch ihre Magd Lizzie sagt dazu: „Das is nichts für Frauen wie sie und mich. Sondern nur was für Ladys mit Geld, und solche Ladys werden immer jemanden haben wollen, der ihnen die Böden schrubbt und die Bettpfannen leert.“ Ein wunderbarer Roman über Macht, Sprache und auch über Liebe. Aber nur ein bisschen, denn: Frauenleben sind voller wichtiger Dinge, und nicht alle davon haben etwas mit einem Mann zu tun.
BARBARA VORSAMER
Komm in
den Garten
Lange bevor „farm to table“ zum eskapistischen Traum für High Performer wurde und urbane Restaurants ihre Gerichte wortkarg ankündigten („Schwarzwurzel / Flusskrebse / Brunnenkresse“), hat Sally Schmitt schon so gekocht. Weil es nahelag, in Kalifornien, wo die Natur alles Köstliche hergibt, im Napa Valley, bevor das eine gefragte Weingegend wurde. Zwei Wochen nachdem sie 2022 mit 90 Jahren starb, erschien das Kochbuch, in dem sie ihr Frauenleben entlang verschiedener Küchen erzählt, etwa der ihres berühmten Familienbetriebs „The French Laundry“. Dass die französisch-mexikanisch-asiatische „California Cuisine“ längst auch in Europa groß ist, muss man nicht wissen, um genussvoll der Vorstellung nachzuhängen, mit Sally einen Kräutergarten am Pazifik zu bewirtschaften. Oder eine kalifornische Großmutter zu haben, die einen mahnt, das Geschirr vor dem Kochen zu waschen, und daran erinnert, dass im Leben alles besser wird, wenn genug Butter dran ist.
MARIE SCHMIDT
Sehen und
darüber schreiben
Eigentlich ist eine Generallobpreisung der Autorin Manja Präkels mehr als überfällig, aber das wäre ihr erstens mutmaßlich unangenehm, und es würde zweitens der Platz hier nicht reichen, also sei jetzt erst einmal locker vom Hocker „Welt im Widerhall oder war das eine Plastiktüte?“ empfohlen. Diesen Band durchaus politischer, dabei erstaunlich poetischer Essays gibt es im Grunde nur, weil Präkels’ Roman „Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß“ (erschienen ebenfalls im Verbrecher-Verlag) so erfolgreich war und sie deswegen so viel unterwegs. Man sitzt herum, an Bahnhöfen oder in Zügen, und das ist nun rückblickend ein Glück, weil Präkels es als eine der wenigen schafft, ohne jedes Geschrei und ohne jeden Selbstdarstellungseifer über den Osten zu schreiben, nicht nur den deutschen. Das klingt dann so wie in dem Essay „Hasshasenangst“, der beginnt mit dem fast erschütternd schlichten Satz „Was geschieht, das können alle sehen“ – und an dessen Ende man denkt: Schlimm genug, was alles so geschieht und gesehen wird; aber ein kleiner Segen immerhin, dass es auch aufgeschrieben nachzulesen steht wie bei Manja Präkels.
CORNELIUS POLLMER
Und dann verglüht
der Star
Wenn man 17 ist, wankt der Boden ja sowieso ganz grundsätzlich, und als sich herausstellt, dass Akaris Idol einen Fan geschlagen haben soll, darf man mit der Ich-Erzählerin 124 Seiten lang ins Bodenlose stürzen. Wie bitteschön Halt finden, wenn der Popstar ständig mit Blogeinträgen verteidigt, die Mutter beruhigt, die Schwester abgewehrt und die Kneipengäste bedient werden müssen? „Idol in Flammen“ von der japanischen Schriftstellerin Rin Usami, Jahrgang 1999, ist ein kleiner, rasanter und weiser Roman darüber, wie man sich möglichst stabil in der Welt einrichtet.
LAURA HERTREITER
Mehr Schatten als
glitzerndes Licht
Stadt der Träume? Stadt der Albträume. Nach einem blutigen Bandenkrieg in Teil eins von Don Winslows Gangstertrilogie („City on Fire“, 2022) bewahrheitet sich in Teil zwei: Geschichte wiederholt sich immer, erst als Tragödie, dann als Farce. Hollywood will einen Film über das Leben des Romanhelden Danny Ryan machen, seine blutigen Erlebnisse im Kampf gegen die italienische Mafia in Providence, Rhode Island, Mitte der Achtzigerjahre nacherzählen. Dannys Crew möchte gern mitmischen im Filmrummel, merkt aber schnell, dass es in Los Angeles mehr Schatten gibt als glitzerndes Licht. Eine Desillusionierungsgeschichte im typischen Stakkato-Ton Don Winslows, schnell, hart, erbarmungslos. In den schäbigen Motels rund um die großen Studios warten übermüdete Mütter darauf, ihre Kinder bei einem Casting unterzubringen, und auch ganz oben in Hollywood herrscht vor allem: Angst und Einsamkeit. Nächstes Jahr erscheint dann der letzte Teil: „City of Ashes“.
DAVID STEINITZ
Das Leben,
ungeschönt
Vergewaltigung und Magersucht, Fehlgeburten und Unfruchtbarkeit, das klingt nicht nach Sommerlektüre. Doch die so starken, weil bitter ehrlichen Essays, die Emilie Pine, Jahrgang 1977 und Professorin für „Modern Drama“ aus Dublin, in ihrem Band „Botschaften an mich“ zusammenbindet, erzählen aus dem Leben einer modernen Frau, ihrem eigenen Leben, und berühren den Leser, ohne dabei je ins Kitschwasser abzudriften. Das autobiografische Schreiben sei ein Kraftakt gewesen, so sagte es Pine 2021 der SZ; lange glaubte sie, das Manuskript ohnehin nie zu veröffentlichen. „Wir schweigen lieber, aus Scham und aus Taktgefühl, damit wir niemanden verletzen. Denn wir Frauen sind es gewohnt, die Gefühle von anderen wichtiger zu nehmen als unsere eigenen.“ Zu Recht wurde Pine 2018 mit diesem, ihrem ersten nicht akademischen Buch mit dem „Irish Book of the Year“ ausgezeichnet.
JULIA ROTHHAAS
Abschied von
Europa
Er hat schon über das besetzte Frankreich berichtet. 1947 schreibt Andrzej Bobkowski Feuilletons über den Frühling in Paris für die polnische Exilpresse. Er ist 34 Jahre alt, arbeitet in einer Fahrradwerkstatt. Sein leichter Ton enthält manchen Spott, dann wird er bitterer. Damit, dass Westeuropa sich mit dem in Jalta beschlossenen „Stummel-Europa“ abfindet, mag er sich nicht abfinden. Sein Abschied von Europa führt ihn nach Guatemala. Die Atlantik-Passage, die Ankunft, seine neue Welt beschreibt er, den Abschied begründet er. In Guatemala lebt er vom Modellflugzeugbau. Nur Autor wollte er nie sein. 1957 wird ein Tumor diagnostiziert, 1961 wird er ihm erliegen. Aufzeichnungen, in denen er über den Tod reflektiert, sind in diesen Band aufgenommen. Wer ihn nicht liest, dem entgeht viel.
LOTHAR MÜLLER
Bloß nicht anhalten,
nachdenken, reden
Ferien zu zweit, ein Mietwagen, Sizilien. Was nach besten Voraussetzungen für eine erholsame Zeit klingt, wird für Melvil und Luisa zum Albtraum. Und das, noch bevor ihr Luxusurlaub überhaupt begonnen hat. Auf der Fahrt vom Flughafen ins Hotel – es ist schon dunkel – ein kurzer Stop am Meer, dann kommt es zu einem dumpfen Aufprall. Was Melvil da genau gerammt hat, finden die beiden nicht heraus. Sie fahren nach einem kurzen Halt einfach weiter. Immer weiter.
Dieses Mantra verfolgt der Protagonist in Yves Raveys Roman „Taormina“ konsequent: bloß nicht anhalten, nachhaken, reden. Lieber ignorieren, schließlich will man ja Urlaub machen. In bester Krimi-noir-Art manövriert sich Melvil, ein grandioser Taugenichts, der von der wohlhabenden Familie seiner Frau schmarotzt, immer weiter ins Schlamassel. Und offenbart, wo das eigentliche Problem liegt. Das erinnert an das grauenvolle Idyll von „White Lotus“, nur dass Ravey kein Wort zu viel verliert, es ist ein ganz schmales Buch, nüchtern im Ton. Und genau deshalb verstörend gute Sommerlektüre.
CAROLIN GASTEIGER
Ein Tag in
Jerusalem
Ein Halbwaise, der fast ertrinkt, ein arabischer Müllmann, der vielleicht gar nicht so stumm ist, wie er tut. Eine Kanadierin, die sich von ihren Eltern emanzipieren möchte, ein deutscher Holocaust-Überlebender, der nicht mehr Hans heißen will, und ein Schreiner, der in einer Konditorei aushilft: Diese Geschichten webt Dori Pinto eher lose zusammen, eine Straße nahe dem alten Bahnhof Jerusalems und ein Tag müssen als Verbindung reichen: der 16. Juli 1969, an dem die Apollo 11 Richtung Mond startete. Doch was Halbwaise Charlie in einem Brief seines toten Vaters liest, gilt auch für Pintos Schnappschuss von Jerusalem kurz nach dem Sechstagekrieg: „Wie gerade die scheinbar marginalen Kleinigkeiten besonders wichtig sein können und wie gerade sie die großen Dinge verdeutlichen, die anders gar nicht zu begreifen sind.“
MORITZ BAUMSTIEGER
Das Unbegreifliche
klingt ganz nah
Stellen Sie sich vor, Sie sind auf der Suche nach einem Buch für den Sommer und ein etwas untertouriger Literaturredakteur drückt Ihnen ein Holocaust-Memoir in die Hand. In genauso einer Situation sind Sie hier gelandet, herzlich willkommen. Cordelia Edvardson wurde 1929 in München geboren und später nach Auschwitz deportiert. Sie überlebte das Vernichtungslager, weil sie für Joseph Mengele als Schreibkraft arbeiten konnte. Das Bestürzende an ihrem exzellent geschriebenen Rückblick auf ihre Zeit am Nullpunkt der Zivilisation sind aber gar nicht nur die Szenen im Lager selbst. Es sind zumindest auch die frühen Kontakte mit der Rassenbürokratie, die freundlichen Befragungen bezüglich der Frage, warum sie eigentlich ihren Judenstern nicht trage und ob sie bitte hier und da unterschreiben könne. Der Hanser-Verlag hat dieses überwältigende Buch jetzt von der glänzenden Ursel Allenstein neu übersetzen lassen, das Ferne und das Unbegreifliche klingen bei ihr nah und klar.
FELIX STEPHAN
Nichts als
Gedichte
„Der ewige Brunnen“ ist seit 1955 das poetische Hausbuch der Deutschen, immer wieder modernisiert und entnazifiziert. Jetzt hat der Dichter und Germanist Dirk von Petersdorff diesen Band neu und nach ewigmenschlichen Rubriken geordnet („Lebenskunst“, „Vergänglichkeit“, „Glauben und Zweifel“) und neues poetisches Leben neben das alte gepflanzt. Also darf Udo Lindenberg mit Neidhart von Reuental singen, Judith Holofernes mit Theodor Storm auftreten und Sven Regener sein Prenzlberg-Sommereis-Lied in der Nachbarschaft von Friederike Mayröcker anstimmen. Das ist ja der Reiz von Lyrik-Anthologien: Dichter, die man sonst nie miteinander vergleichen würde, stehen beieinander, weil sie das gleiche Lied haben. Das Hausinventar bleibt unberührt: die „Glocke“ ist drin, das Wichtigste von Rilke, der Radwechsel von Brecht, aber mit einer perspektivverschobenen Gegenstrophe von Yaak Karsunke hintendran. So ist das Buch, so ist die Poesie: Man findet zum Glück kein Ende.
HILMAR KLUTE
Zeitreise mit
Wwwusch
Dieses Buch spielt 1912 und 2020 auf der Erde, und 2401 auf dem Mond. Es geht um Straßenmusiker, eine obskure Behörde und britische Adelige. Zeitreise-Erzählungen zwirbeln Lesern ja oft Knoten ins Hirn. Diese Geschichte aber ist nicht nur meisterhaft in sich selbst gefaltet, sondern auch um die Autorin, die als Figur darin auftaucht: als Schriftstellerin, die mit einem Pandemie-Roman im Jahr 2203 einen Überraschungserfolg landet (genau wie Emily St. John Mandel 2014 mit ihrem postapokalyptischen Roman „Station Eleven“, der von HBO als Serie verfilmt wurde). Dieses Buch ist halb „Inception“, halb „Matrix“, einziger Special Effect ist die Erzählkunst der Autorin. Am Ende löst sich der Knoten zum „Wwwusch“ eines startenden Raumschiffs. Was für ein Vergnügen!
KAROLINE META BEISEL
Im Schloss mit
Journalisten
Was verbindet Markus Wolf mit Willy Brandt? Na klar, der eine hat als Chef der DDR-Auslandsaufklärung einen Spion, Günter Guillaume, auf den andren angesetzt und ihn damit als Bundeskanzler gestürzt. Aber es gibt noch mehr. Beide waren 1945/46 als Journalisten in Nürnberg, um über die Kriegsverbrecherprozesse gegen Rudolf Heß, Hermann Göring, Julius Streicher und andere Nazi-Größen zu berichten – Wolf für die Berliner Zeitung, Brandt für das Arbeiderbladet in Oslo. Beide lebten im Pressecamp Schloss Stein monatelang Seite an Seite. Uwe Neumahr erhellt dieses faszinierende Kapitel der Nürnberger Prozesse. Wie krass unterschiedlich Wolf, Brandt, John Dos Passos, Erika Mann oder Erich Kästner auf den Prozess blickten. Tagsüber konkurrierten sie um die schnellste Nachricht, den interessantesten Blick. Abends verzweifelten, tranken, feierten und liebten sie im Schloss Faber-Castell. Wer sonst keine Sachbücher liest, sollte hier eine Ausnahme machen.
WOLFGANG KRACH
Essen, lieben und
morden in Rom
Könnte man Rom auf Flaschen ziehen und zur Essenz verdichten, dann müsste am Ende ein Buch wie Carlo Emilio Gaddas Kriminalroman „Die grässliche Bescherung in der Via Merulana“ herauskommen. Jetzt, fünfzig Jahre nach dem Tod seines genialen Autors, hat der Wagenbach-Verlag dieses Hauptwerk der italienischen Moderne neu herausgebracht. Wie in archäologischen Schichten überlagern sich hier die Sprachen, Zeiten und sozialen Klassen der Stadt, vom Mythos bis zum Dialekt, vom Alten Rom bis zum Faschismus, vom Hungerleider bis zur Gräfin. In der Mitte ruht der träge, schlaue Kommissar Ingravallo, der diesen „Pasticciaccio“ kriminalistisch und philosophisch zu durchdringen versucht, mit Freud und Leibniz im Gepäck, mit Poe und Vergil, mit unnachsichtigem Blick auf einsame Frauen und noch einsamere Herren, die schönen Römern und Römerinnen verfallen. Augenlust, Körperlust, Lust am Essen und vor allem grenzenlose Lust an allen Formen der Sprache feiern hier ein üppiges Fest. Die Übersetzung von Toni Kienlechner behauptet sich glanzvoll. Es soll aber auch Menschen geben, die nur wegen dieses Buches angefangen haben, Italienisch zu lernen.
GUSTAV SEIBT
Pause vom
Wichtigtun
Wer für ein entspanntes Zwischen-den-Seiten-Versinken im Urlaub nicht genug Ruhe hat, wegen Kindern oder Weltschmerz oder beidem, neigt zum Kitsch. Möglichst doppelbödig und gebrochen sollte die Urlaubslektüre sein, aber bitte auch: tröstend. Ein solches Buch ist „Panikherz“, die Autobiografie von Benjamin von Stuckrad-Barre. Der schrieb zuletzt in „Noch wach?“ zum Beispiel, „MEINUNGSFREIHEIT“ bedeute eben auch „Deinungsfreiheit“, haha, aber weil es codiert um einen wichtigen Ex-Kumpelfreund des Autors ging, musste man das leider auch lesen. Was, fragte man sich bei der halbwachen Noch-Wach-Lektüre, würde Udo zu den geschilderten und schreiberisch performierten Wichtigtuereien sagen, Udo Lindenberg, die heimliche Hauptfigur, der wahre Freund, das schnodderig-cool säuselnde Erlösungs-Du von „Panikherz“? Besonders schön liest sich das Buch, wenn man es hört – also ihn, den Autor im Hörbuch, wie er seinen Udo imitiert, mit so viel Zärtlichkeit, dass man daraus mehr als ein Buch hätte machen können.
PHILIPP BOVERMANN
Urlaub im
Unterholz
Nein, handlich ist dieses Buch nicht und deshalb vielleicht eine ungewöhnliche Empfehlung für Sommer, Reisen, Rucksack, Strand. „Die verlorenen Wörter“ ist ein großformatiger, von der Künstlerin Jackie Morris farbig illustrierter Prachtband. Nicht dick, aber hoch, sperrig, und gerade deshalb vermittelt es schon physisch, was Robert Macfarlanes Gedichte wollen: erinnern, sich bemerkbar machen, Vergissmeinnicht rufen. Macfarlane, einer der Großen des Nature Writing, beschwört Naturnamen, die, so seine Sorge, aus dem Wortschatz der nachwachsenden Generationen verschwinden: Brombeere, Natter, Kastanie, Heidekraut, Otter, Wiesel, Star. Zu jedem steht hier ein Gedicht, toll aus dem Englischen übertragen von Daniela Seel, das längst nicht nur naturromantisch ist, sondern lautmalerisch, widerständig, witzig, wehmütig: „Natter ist, wie Natter zischt.“ Ein Buch, das den Blick fürs Kleine schärft, fürs Übersehene.
KATHLEEN HILDEBRAND
Flimmernd in
griechischer Hitze
Drei Schwestern, ein Dorf in der Nähe von Athen. Es sind die späten 1930er-Jahre, die Sommer sind lang und sie sind heiß, die Ziegen müssen gemolken werden, genauso dringend müssen die Schwestern ihre Zukunft diskutieren, die ihnen eigentlich so deutlich vorgezeichnet ist. Maria will heiraten, Infanta und Erzählerin Katerina träumen, es ihrer berüchtigten Großmutter gleichzutun, die einst mit einem Musiker durchbrannte. Schwer zu glauben, dass die griechische Autorin Margarita Liberaki „Drei Sommer“ schon 1946 veröffentlichte, denn diese Coming-of-Age-Geschichte ist voller schnellen Witzes und stürmischer Figuren, flirrend vor Sehnsucht. Kein bisschen kitschig, auch wenn das Cover anderes vermuten lässt.
CHRISTIANE LUTZ
Süchtig nach
der Sehnsucht
Diese Sommerdämmrigkeit, wenn die Sonne auf den Kopf knallt, die Menschen und Schirme vor den Augen zu flimmern beginnen, und sich das eigene Dasein allmählich im Schweiß auflöst, passt wie kein anderer Zustand zum Roman der israelischen Schriftstellerin Zeruya Shalev. Darin erzählt sie von einer jungen Frau, die eine Liebesbeziehung mit einem älteren Mann beginnt, die niemanden glücklich macht, nicht sie, nicht den Mann, nicht den Leser, aber die mit so viel Erotik, Schwung und Kommata geschrieben ist, dass man trotz aller Abgründe, trotz Kopfschüttel-Reflex mitgerissen wird in die Sehnsüchte eines jungen Lebens. Die Sehnsucht wird zur Sucht, von der die Protagonistin Ja’ara nicht mehr loskommt, „weil alles, was weniger war als das, mich nicht mehr begeistern würde“. Flirrend, unerhaben und poetisch rasen die Seiten vorbei und wie am Ende eines guten Sommers fragt man am Ende dieses Buchs: Was, schon vorbei?
MARLENE KNOBLOCH
Horror in
Hollywood
Im Los Angeles der Achtzigerjahre geht ein Serienkiller um. Der junge Bret Ellis, der gerade mit seinem Erstlingswerk „Unter Null“ begonnen hat, glaubt, diesen Killer in seinem neuen Mitschüler auf der Buckley Highschool erkannt zu haben – dem so dämonischen wie rasend gut aussehenden Robert Mallory. Für den Schriftsteller Bret Easton Ellis schließt sich mit diesem gewaltigen (auch gewaltig dicken) Roman ein Kreis: Fast 40 Jahre nach seinem gefeierten Debüt kehrt er zurück an den Ort des Geschehens, zu den Rich Kids von Beverly Hills, zu Kokain, Mercedes-Cabrios und innerer Leere, dem Soundtrack der Achtziger, zu homosexuellen und (irre lustlosen) heterosexuellen Begegnungen. Von einer Handlung kann nicht die Rede sein, das macht aber nichts, denn der Roman entwickelt einen dunklen Sog, der Thriller-Potenzial hat. All dies selbstverständlich mit klirrender Kälte erzählt. Fazit: Selten hat man so gerne viel Zeit mit wahnsinnig unangenehmen Menschen verbracht.
TANJA REST
Philosophieren
in der Sonne
Es ist eines der großen Missverständnisse, dass es unmöglich ist, etwas Anspruchsvolleres zu lesen, während einem im Urlaub die Sonne den Verstand ansengt. Bei philosophischen Büchern zum Beispiel, in denen es ja darum geht, neu und anders zu denken, kann es manchmal sogar ideal sein. In seinem letzten Buch „Pragmatismus als Antiautoritarismus“ plädiert der 2007 verstorbene amerikanische Philosoph Richard Rorty dafür, die Suche nach dem Unbedingten und Erhabenen von der Suche nach Gerechtigkeit und Glück streng zu trennen. Man darf ihn sich dabei aber auf keinen Fall als Kulturkämpfer vorstellen, von denen es gerade ja ein paar zu viele gibt, sondern eher als menschenfreundlichen Skeptiker, von denen es nie genug geben kann.
JENS-CHRISTIAN RABE
Bei höchstem
Wellengang
„Ein Schiff wird kommen, in welchem Schiffer sind, die du kennst.“ Diesen Trost bietet ein Geist, der Schlangenmann, vor 4500 Jahren einem ägyptischen Schiffbrüchigen auf einer unbekannten Insel. Der britische Historiker David Abulafia zitiert den alten Papyrustext in seiner monumentalen Weltgeschichte der Ozeane. Blendend geschrieben, ein Füllhorn des Wissens und durchweg spannend trotz seiner mehr als 1000 Seiten, wurde es deutsches Wissenschaftsbuch 2022. Abulafia vermeidet die übliche eurozentrische Sicht der Seefahrt und entwirft ein Bild vom Meer, das trotz aller Kriege die Kulturen weniger trennt als vielmehr verbindet. Dafür steht auch die Geschichte vom Schlangenmann samt Happy End: „Du umarmst deine Kinder und küsst deine Frau und siehst dein Haus wieder – sie sind das Beste von allem.“ Ideal für den Urlaub am Meer und viel Lesezeit – allerdings müssen Freunde des Analogen den ziegelsteinschweren Wälzer an den Strand schleppen.
JOACHIM KÄPPNER
Pip Williams:
Die Sammlerin der verlorenen Wörter;
aus dem Englischen von Christiane Burkhardt. Diana Verlag, 2022,
528 Seiten, 22 Euro.
Illustration: Lennart Menkhaus c/o kombinatrotweiss.de / Instagram: @lennartmenkhaus, @kombinatrotweiss_illustration
Sally Schmitt:
Six California
Kitchens. Chronicle Books, San Francisco 2022, 352 Seiten, 33,99 Euro.
Manja Präkels:
„Welt im Widerhall oder war das eine Plastiktüte?“ Essays. Verbrecher Verlag, Berlin 2022.
192 Seiten, 19 Euro.
Rin Usami:
Idol in Flammen. Roman. Aus dem Japanischen von
Luise Steggewentz. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2023.
128 Seiten, 18 Euro.
Don Winslow:
„City of Dreams“.
Aus dem Amerikanischen von Conny Lösch.
Harper Collins,
Hamburg, 2023.
368 Seiten, 24 Euro.
Emilie Pine:
Botschaften an mich selbst. Essays.
Aus dem Englischen von Cornelia Röser.
Btb, München 2022. 224 Seiten, 11 Euro.
Andrzej Bobkowski: Hinter dem
Wendekreis. Aus dem Polnischen von
Ron Mieczkowski.
Die Andere Bibliothek, Berlin 2023.
384 Seiten, 44 Euro.
Yves Ravey:
Taormina. Aus dem Französischen von Holger Fock und
Sabine Müller.
Liebeskind,
München 2023.
112 Seiten, 20 Euro.
Dori Pinto:
Der Mond über
Jerusalem. Roman.
Aus dem Hebräischen von Ruth Achlama. Kein und Aber,
Zürich 2022,
336 Seiten, 25 Euro.
Cordelia Edvardson: Gebranntes Kind
sucht das Feuer. Aus dem Schwedischen von Ursel Allenstein.
Carl Hanser Verlag, München 2023.
145 Seiten, 22 Euro.
Der ewige Brunnen. Deutsche Gedichte aus zwölf Jahrhunderten. Herausgegeben von
Dirk von Petersdorff.
C.H. Beck Verlag,
München 2023.
1167 Seiten, 28 Euro.
Emily St. John Mandel: Das Meer der
endlosen Ruhe. Aus dem Amerikanischen von Bernhard Robben. Ullstein Verlag,
Berlin 2023. 288 Seiten, 23 Euro. Erscheint
auf Deutsch am
27. Juli 2023.
Uwe Neumahr:
Das Schloss der
Schriftsteller.
Sachbuch. C.H. Beck, München 2023.
304 Seiten, 26 Euro.
Carlo Emilio Gadda:
Die grässliche Bescherung in der Via Merulana.
Krimi. Aus dem
Italienischen von Toni
Kienlechner.
Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2023. 352 Seiten,
26 Euro.
Benjamin von Stuckrad-Barre: Panikherz.
Roman. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2016.
576 Seiten, 22,99 Euro.
Robert Macfarlane und Jackie Morris:
Die verlorenen
Wörter. Aus dem Englischen von
Daniela Seel.
Matthes & Seitz,
Berlin 2018.
134 Seiten, 38 Euro.
Margarita Liberaki: Drei Sommer. Roman. Aus dem Griechischen von Michaela
Prinzinger. Arche
Literatur Verlag,
Hamburg 2021.
388 Seiten, 24 Euro.
Zeruya Shalev:
Liebesleben.
Aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler. Berliner Taschenbuchverlag, Berlin 2001.
384 Seiten, 12 Euro.
Bret Easton Ellis:
The Shards. Roman. Aus dem Englischen von Stephan Kleiner. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2023.
736 Seiten, 28 Euro.
Richard Rorty:
Pragmatismus als
Antiautoritarismus.
Aus dem Englischen
von Joachim Schulte. Suhrkamp, Berlin 2023. 454 Seiten, 34 Euro.
David Abulafia:
Das unendliche
Meer. Sachbuch. Aus dem Englischen von Michael Bischoff und Laura Su Bischoff. Fischer Verlag,
Frankfurt 2021. 1168
Seiten, 68 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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des
Sommers
21 Romane, Sachbücher
und Lyrikbände
für die Wochen daheim oder am Strand.
Die Empfehlungen des
SZ-Feuilletons
Bitte gib mir
nur ein Wort
In diesem Buch geht es um Wörter, darum, was sie bedeuten und wer das überhaupt entscheidet. Hauptperson ist Esme Nicoll, Tochter eines der Editoren des ersten Oxford Dictionarys. Als Kind sitzt sie unter seinem Tisch und sammelt Wörter, die weggeschmissen wurden. Als Jugendliche fängt sie an zu hinterfragen, welche Wörter warum nicht hineinkommen – oft solche, die die Lebenswelt von Frauen beschreiben oder von der Unterschicht, oder gar von Frauen aus der Unterschicht („Fotze“). Zur selben Zeit kämpfen die Suffragetten ums Frauenwahlrecht. Esme ist dafür, doch ihre Magd Lizzie sagt dazu: „Das is nichts für Frauen wie sie und mich. Sondern nur was für Ladys mit Geld, und solche Ladys werden immer jemanden haben wollen, der ihnen die Böden schrubbt und die Bettpfannen leert.“ Ein wunderbarer Roman über Macht, Sprache und auch über Liebe. Aber nur ein bisschen, denn: Frauenleben sind voller wichtiger Dinge, und nicht alle davon haben etwas mit einem Mann zu tun.
BARBARA VORSAMER
Komm in
den Garten
Lange bevor „farm to table“ zum eskapistischen Traum für High Performer wurde und urbane Restaurants ihre Gerichte wortkarg ankündigten („Schwarzwurzel / Flusskrebse / Brunnenkresse“), hat Sally Schmitt schon so gekocht. Weil es nahelag, in Kalifornien, wo die Natur alles Köstliche hergibt, im Napa Valley, bevor das eine gefragte Weingegend wurde. Zwei Wochen nachdem sie 2022 mit 90 Jahren starb, erschien das Kochbuch, in dem sie ihr Frauenleben entlang verschiedener Küchen erzählt, etwa der ihres berühmten Familienbetriebs „The French Laundry“. Dass die französisch-mexikanisch-asiatische „California Cuisine“ längst auch in Europa groß ist, muss man nicht wissen, um genussvoll der Vorstellung nachzuhängen, mit Sally einen Kräutergarten am Pazifik zu bewirtschaften. Oder eine kalifornische Großmutter zu haben, die einen mahnt, das Geschirr vor dem Kochen zu waschen, und daran erinnert, dass im Leben alles besser wird, wenn genug Butter dran ist.
MARIE SCHMIDT
Sehen und
darüber schreiben
Eigentlich ist eine Generallobpreisung der Autorin Manja Präkels mehr als überfällig, aber das wäre ihr erstens mutmaßlich unangenehm, und es würde zweitens der Platz hier nicht reichen, also sei jetzt erst einmal locker vom Hocker „Welt im Widerhall oder war das eine Plastiktüte?“ empfohlen. Diesen Band durchaus politischer, dabei erstaunlich poetischer Essays gibt es im Grunde nur, weil Präkels’ Roman „Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß“ (erschienen ebenfalls im Verbrecher-Verlag) so erfolgreich war und sie deswegen so viel unterwegs. Man sitzt herum, an Bahnhöfen oder in Zügen, und das ist nun rückblickend ein Glück, weil Präkels es als eine der wenigen schafft, ohne jedes Geschrei und ohne jeden Selbstdarstellungseifer über den Osten zu schreiben, nicht nur den deutschen. Das klingt dann so wie in dem Essay „Hasshasenangst“, der beginnt mit dem fast erschütternd schlichten Satz „Was geschieht, das können alle sehen“ – und an dessen Ende man denkt: Schlimm genug, was alles so geschieht und gesehen wird; aber ein kleiner Segen immerhin, dass es auch aufgeschrieben nachzulesen steht wie bei Manja Präkels.
CORNELIUS POLLMER
Und dann verglüht
der Star
Wenn man 17 ist, wankt der Boden ja sowieso ganz grundsätzlich, und als sich herausstellt, dass Akaris Idol einen Fan geschlagen haben soll, darf man mit der Ich-Erzählerin 124 Seiten lang ins Bodenlose stürzen. Wie bitteschön Halt finden, wenn der Popstar ständig mit Blogeinträgen verteidigt, die Mutter beruhigt, die Schwester abgewehrt und die Kneipengäste bedient werden müssen? „Idol in Flammen“ von der japanischen Schriftstellerin Rin Usami, Jahrgang 1999, ist ein kleiner, rasanter und weiser Roman darüber, wie man sich möglichst stabil in der Welt einrichtet.
LAURA HERTREITER
Mehr Schatten als
glitzerndes Licht
Stadt der Träume? Stadt der Albträume. Nach einem blutigen Bandenkrieg in Teil eins von Don Winslows Gangstertrilogie („City on Fire“, 2022) bewahrheitet sich in Teil zwei: Geschichte wiederholt sich immer, erst als Tragödie, dann als Farce. Hollywood will einen Film über das Leben des Romanhelden Danny Ryan machen, seine blutigen Erlebnisse im Kampf gegen die italienische Mafia in Providence, Rhode Island, Mitte der Achtzigerjahre nacherzählen. Dannys Crew möchte gern mitmischen im Filmrummel, merkt aber schnell, dass es in Los Angeles mehr Schatten gibt als glitzerndes Licht. Eine Desillusionierungsgeschichte im typischen Stakkato-Ton Don Winslows, schnell, hart, erbarmungslos. In den schäbigen Motels rund um die großen Studios warten übermüdete Mütter darauf, ihre Kinder bei einem Casting unterzubringen, und auch ganz oben in Hollywood herrscht vor allem: Angst und Einsamkeit. Nächstes Jahr erscheint dann der letzte Teil: „City of Ashes“.
DAVID STEINITZ
Das Leben,
ungeschönt
Vergewaltigung und Magersucht, Fehlgeburten und Unfruchtbarkeit, das klingt nicht nach Sommerlektüre. Doch die so starken, weil bitter ehrlichen Essays, die Emilie Pine, Jahrgang 1977 und Professorin für „Modern Drama“ aus Dublin, in ihrem Band „Botschaften an mich“ zusammenbindet, erzählen aus dem Leben einer modernen Frau, ihrem eigenen Leben, und berühren den Leser, ohne dabei je ins Kitschwasser abzudriften. Das autobiografische Schreiben sei ein Kraftakt gewesen, so sagte es Pine 2021 der SZ; lange glaubte sie, das Manuskript ohnehin nie zu veröffentlichen. „Wir schweigen lieber, aus Scham und aus Taktgefühl, damit wir niemanden verletzen. Denn wir Frauen sind es gewohnt, die Gefühle von anderen wichtiger zu nehmen als unsere eigenen.“ Zu Recht wurde Pine 2018 mit diesem, ihrem ersten nicht akademischen Buch mit dem „Irish Book of the Year“ ausgezeichnet.
JULIA ROTHHAAS
Abschied von
Europa
Er hat schon über das besetzte Frankreich berichtet. 1947 schreibt Andrzej Bobkowski Feuilletons über den Frühling in Paris für die polnische Exilpresse. Er ist 34 Jahre alt, arbeitet in einer Fahrradwerkstatt. Sein leichter Ton enthält manchen Spott, dann wird er bitterer. Damit, dass Westeuropa sich mit dem in Jalta beschlossenen „Stummel-Europa“ abfindet, mag er sich nicht abfinden. Sein Abschied von Europa führt ihn nach Guatemala. Die Atlantik-Passage, die Ankunft, seine neue Welt beschreibt er, den Abschied begründet er. In Guatemala lebt er vom Modellflugzeugbau. Nur Autor wollte er nie sein. 1957 wird ein Tumor diagnostiziert, 1961 wird er ihm erliegen. Aufzeichnungen, in denen er über den Tod reflektiert, sind in diesen Band aufgenommen. Wer ihn nicht liest, dem entgeht viel.
LOTHAR MÜLLER
Bloß nicht anhalten,
nachdenken, reden
Ferien zu zweit, ein Mietwagen, Sizilien. Was nach besten Voraussetzungen für eine erholsame Zeit klingt, wird für Melvil und Luisa zum Albtraum. Und das, noch bevor ihr Luxusurlaub überhaupt begonnen hat. Auf der Fahrt vom Flughafen ins Hotel – es ist schon dunkel – ein kurzer Stop am Meer, dann kommt es zu einem dumpfen Aufprall. Was Melvil da genau gerammt hat, finden die beiden nicht heraus. Sie fahren nach einem kurzen Halt einfach weiter. Immer weiter.
Dieses Mantra verfolgt der Protagonist in Yves Raveys Roman „Taormina“ konsequent: bloß nicht anhalten, nachhaken, reden. Lieber ignorieren, schließlich will man ja Urlaub machen. In bester Krimi-noir-Art manövriert sich Melvil, ein grandioser Taugenichts, der von der wohlhabenden Familie seiner Frau schmarotzt, immer weiter ins Schlamassel. Und offenbart, wo das eigentliche Problem liegt. Das erinnert an das grauenvolle Idyll von „White Lotus“, nur dass Ravey kein Wort zu viel verliert, es ist ein ganz schmales Buch, nüchtern im Ton. Und genau deshalb verstörend gute Sommerlektüre.
CAROLIN GASTEIGER
Ein Tag in
Jerusalem
Ein Halbwaise, der fast ertrinkt, ein arabischer Müllmann, der vielleicht gar nicht so stumm ist, wie er tut. Eine Kanadierin, die sich von ihren Eltern emanzipieren möchte, ein deutscher Holocaust-Überlebender, der nicht mehr Hans heißen will, und ein Schreiner, der in einer Konditorei aushilft: Diese Geschichten webt Dori Pinto eher lose zusammen, eine Straße nahe dem alten Bahnhof Jerusalems und ein Tag müssen als Verbindung reichen: der 16. Juli 1969, an dem die Apollo 11 Richtung Mond startete. Doch was Halbwaise Charlie in einem Brief seines toten Vaters liest, gilt auch für Pintos Schnappschuss von Jerusalem kurz nach dem Sechstagekrieg: „Wie gerade die scheinbar marginalen Kleinigkeiten besonders wichtig sein können und wie gerade sie die großen Dinge verdeutlichen, die anders gar nicht zu begreifen sind.“
MORITZ BAUMSTIEGER
Das Unbegreifliche
klingt ganz nah
Stellen Sie sich vor, Sie sind auf der Suche nach einem Buch für den Sommer und ein etwas untertouriger Literaturredakteur drückt Ihnen ein Holocaust-Memoir in die Hand. In genauso einer Situation sind Sie hier gelandet, herzlich willkommen. Cordelia Edvardson wurde 1929 in München geboren und später nach Auschwitz deportiert. Sie überlebte das Vernichtungslager, weil sie für Joseph Mengele als Schreibkraft arbeiten konnte. Das Bestürzende an ihrem exzellent geschriebenen Rückblick auf ihre Zeit am Nullpunkt der Zivilisation sind aber gar nicht nur die Szenen im Lager selbst. Es sind zumindest auch die frühen Kontakte mit der Rassenbürokratie, die freundlichen Befragungen bezüglich der Frage, warum sie eigentlich ihren Judenstern nicht trage und ob sie bitte hier und da unterschreiben könne. Der Hanser-Verlag hat dieses überwältigende Buch jetzt von der glänzenden Ursel Allenstein neu übersetzen lassen, das Ferne und das Unbegreifliche klingen bei ihr nah und klar.
FELIX STEPHAN
Nichts als
Gedichte
„Der ewige Brunnen“ ist seit 1955 das poetische Hausbuch der Deutschen, immer wieder modernisiert und entnazifiziert. Jetzt hat der Dichter und Germanist Dirk von Petersdorff diesen Band neu und nach ewigmenschlichen Rubriken geordnet („Lebenskunst“, „Vergänglichkeit“, „Glauben und Zweifel“) und neues poetisches Leben neben das alte gepflanzt. Also darf Udo Lindenberg mit Neidhart von Reuental singen, Judith Holofernes mit Theodor Storm auftreten und Sven Regener sein Prenzlberg-Sommereis-Lied in der Nachbarschaft von Friederike Mayröcker anstimmen. Das ist ja der Reiz von Lyrik-Anthologien: Dichter, die man sonst nie miteinander vergleichen würde, stehen beieinander, weil sie das gleiche Lied haben. Das Hausinventar bleibt unberührt: die „Glocke“ ist drin, das Wichtigste von Rilke, der Radwechsel von Brecht, aber mit einer perspektivverschobenen Gegenstrophe von Yaak Karsunke hintendran. So ist das Buch, so ist die Poesie: Man findet zum Glück kein Ende.
HILMAR KLUTE
Zeitreise mit
Wwwusch
Dieses Buch spielt 1912 und 2020 auf der Erde, und 2401 auf dem Mond. Es geht um Straßenmusiker, eine obskure Behörde und britische Adelige. Zeitreise-Erzählungen zwirbeln Lesern ja oft Knoten ins Hirn. Diese Geschichte aber ist nicht nur meisterhaft in sich selbst gefaltet, sondern auch um die Autorin, die als Figur darin auftaucht: als Schriftstellerin, die mit einem Pandemie-Roman im Jahr 2203 einen Überraschungserfolg landet (genau wie Emily St. John Mandel 2014 mit ihrem postapokalyptischen Roman „Station Eleven“, der von HBO als Serie verfilmt wurde). Dieses Buch ist halb „Inception“, halb „Matrix“, einziger Special Effect ist die Erzählkunst der Autorin. Am Ende löst sich der Knoten zum „Wwwusch“ eines startenden Raumschiffs. Was für ein Vergnügen!
KAROLINE META BEISEL
Im Schloss mit
Journalisten
Was verbindet Markus Wolf mit Willy Brandt? Na klar, der eine hat als Chef der DDR-Auslandsaufklärung einen Spion, Günter Guillaume, auf den andren angesetzt und ihn damit als Bundeskanzler gestürzt. Aber es gibt noch mehr. Beide waren 1945/46 als Journalisten in Nürnberg, um über die Kriegsverbrecherprozesse gegen Rudolf Heß, Hermann Göring, Julius Streicher und andere Nazi-Größen zu berichten – Wolf für die Berliner Zeitung, Brandt für das Arbeiderbladet in Oslo. Beide lebten im Pressecamp Schloss Stein monatelang Seite an Seite. Uwe Neumahr erhellt dieses faszinierende Kapitel der Nürnberger Prozesse. Wie krass unterschiedlich Wolf, Brandt, John Dos Passos, Erika Mann oder Erich Kästner auf den Prozess blickten. Tagsüber konkurrierten sie um die schnellste Nachricht, den interessantesten Blick. Abends verzweifelten, tranken, feierten und liebten sie im Schloss Faber-Castell. Wer sonst keine Sachbücher liest, sollte hier eine Ausnahme machen.
WOLFGANG KRACH
Essen, lieben und
morden in Rom
Könnte man Rom auf Flaschen ziehen und zur Essenz verdichten, dann müsste am Ende ein Buch wie Carlo Emilio Gaddas Kriminalroman „Die grässliche Bescherung in der Via Merulana“ herauskommen. Jetzt, fünfzig Jahre nach dem Tod seines genialen Autors, hat der Wagenbach-Verlag dieses Hauptwerk der italienischen Moderne neu herausgebracht. Wie in archäologischen Schichten überlagern sich hier die Sprachen, Zeiten und sozialen Klassen der Stadt, vom Mythos bis zum Dialekt, vom Alten Rom bis zum Faschismus, vom Hungerleider bis zur Gräfin. In der Mitte ruht der träge, schlaue Kommissar Ingravallo, der diesen „Pasticciaccio“ kriminalistisch und philosophisch zu durchdringen versucht, mit Freud und Leibniz im Gepäck, mit Poe und Vergil, mit unnachsichtigem Blick auf einsame Frauen und noch einsamere Herren, die schönen Römern und Römerinnen verfallen. Augenlust, Körperlust, Lust am Essen und vor allem grenzenlose Lust an allen Formen der Sprache feiern hier ein üppiges Fest. Die Übersetzung von Toni Kienlechner behauptet sich glanzvoll. Es soll aber auch Menschen geben, die nur wegen dieses Buches angefangen haben, Italienisch zu lernen.
GUSTAV SEIBT
Pause vom
Wichtigtun
Wer für ein entspanntes Zwischen-den-Seiten-Versinken im Urlaub nicht genug Ruhe hat, wegen Kindern oder Weltschmerz oder beidem, neigt zum Kitsch. Möglichst doppelbödig und gebrochen sollte die Urlaubslektüre sein, aber bitte auch: tröstend. Ein solches Buch ist „Panikherz“, die Autobiografie von Benjamin von Stuckrad-Barre. Der schrieb zuletzt in „Noch wach?“ zum Beispiel, „MEINUNGSFREIHEIT“ bedeute eben auch „Deinungsfreiheit“, haha, aber weil es codiert um einen wichtigen Ex-Kumpelfreund des Autors ging, musste man das leider auch lesen. Was, fragte man sich bei der halbwachen Noch-Wach-Lektüre, würde Udo zu den geschilderten und schreiberisch performierten Wichtigtuereien sagen, Udo Lindenberg, die heimliche Hauptfigur, der wahre Freund, das schnodderig-cool säuselnde Erlösungs-Du von „Panikherz“? Besonders schön liest sich das Buch, wenn man es hört – also ihn, den Autor im Hörbuch, wie er seinen Udo imitiert, mit so viel Zärtlichkeit, dass man daraus mehr als ein Buch hätte machen können.
PHILIPP BOVERMANN
Urlaub im
Unterholz
Nein, handlich ist dieses Buch nicht und deshalb vielleicht eine ungewöhnliche Empfehlung für Sommer, Reisen, Rucksack, Strand. „Die verlorenen Wörter“ ist ein großformatiger, von der Künstlerin Jackie Morris farbig illustrierter Prachtband. Nicht dick, aber hoch, sperrig, und gerade deshalb vermittelt es schon physisch, was Robert Macfarlanes Gedichte wollen: erinnern, sich bemerkbar machen, Vergissmeinnicht rufen. Macfarlane, einer der Großen des Nature Writing, beschwört Naturnamen, die, so seine Sorge, aus dem Wortschatz der nachwachsenden Generationen verschwinden: Brombeere, Natter, Kastanie, Heidekraut, Otter, Wiesel, Star. Zu jedem steht hier ein Gedicht, toll aus dem Englischen übertragen von Daniela Seel, das längst nicht nur naturromantisch ist, sondern lautmalerisch, widerständig, witzig, wehmütig: „Natter ist, wie Natter zischt.“ Ein Buch, das den Blick fürs Kleine schärft, fürs Übersehene.
KATHLEEN HILDEBRAND
Flimmernd in
griechischer Hitze
Drei Schwestern, ein Dorf in der Nähe von Athen. Es sind die späten 1930er-Jahre, die Sommer sind lang und sie sind heiß, die Ziegen müssen gemolken werden, genauso dringend müssen die Schwestern ihre Zukunft diskutieren, die ihnen eigentlich so deutlich vorgezeichnet ist. Maria will heiraten, Infanta und Erzählerin Katerina träumen, es ihrer berüchtigten Großmutter gleichzutun, die einst mit einem Musiker durchbrannte. Schwer zu glauben, dass die griechische Autorin Margarita Liberaki „Drei Sommer“ schon 1946 veröffentlichte, denn diese Coming-of-Age-Geschichte ist voller schnellen Witzes und stürmischer Figuren, flirrend vor Sehnsucht. Kein bisschen kitschig, auch wenn das Cover anderes vermuten lässt.
CHRISTIANE LUTZ
Süchtig nach
der Sehnsucht
Diese Sommerdämmrigkeit, wenn die Sonne auf den Kopf knallt, die Menschen und Schirme vor den Augen zu flimmern beginnen, und sich das eigene Dasein allmählich im Schweiß auflöst, passt wie kein anderer Zustand zum Roman der israelischen Schriftstellerin Zeruya Shalev. Darin erzählt sie von einer jungen Frau, die eine Liebesbeziehung mit einem älteren Mann beginnt, die niemanden glücklich macht, nicht sie, nicht den Mann, nicht den Leser, aber die mit so viel Erotik, Schwung und Kommata geschrieben ist, dass man trotz aller Abgründe, trotz Kopfschüttel-Reflex mitgerissen wird in die Sehnsüchte eines jungen Lebens. Die Sehnsucht wird zur Sucht, von der die Protagonistin Ja’ara nicht mehr loskommt, „weil alles, was weniger war als das, mich nicht mehr begeistern würde“. Flirrend, unerhaben und poetisch rasen die Seiten vorbei und wie am Ende eines guten Sommers fragt man am Ende dieses Buchs: Was, schon vorbei?
MARLENE KNOBLOCH
Horror in
Hollywood
Im Los Angeles der Achtzigerjahre geht ein Serienkiller um. Der junge Bret Ellis, der gerade mit seinem Erstlingswerk „Unter Null“ begonnen hat, glaubt, diesen Killer in seinem neuen Mitschüler auf der Buckley Highschool erkannt zu haben – dem so dämonischen wie rasend gut aussehenden Robert Mallory. Für den Schriftsteller Bret Easton Ellis schließt sich mit diesem gewaltigen (auch gewaltig dicken) Roman ein Kreis: Fast 40 Jahre nach seinem gefeierten Debüt kehrt er zurück an den Ort des Geschehens, zu den Rich Kids von Beverly Hills, zu Kokain, Mercedes-Cabrios und innerer Leere, dem Soundtrack der Achtziger, zu homosexuellen und (irre lustlosen) heterosexuellen Begegnungen. Von einer Handlung kann nicht die Rede sein, das macht aber nichts, denn der Roman entwickelt einen dunklen Sog, der Thriller-Potenzial hat. All dies selbstverständlich mit klirrender Kälte erzählt. Fazit: Selten hat man so gerne viel Zeit mit wahnsinnig unangenehmen Menschen verbracht.
TANJA REST
Philosophieren
in der Sonne
Es ist eines der großen Missverständnisse, dass es unmöglich ist, etwas Anspruchsvolleres zu lesen, während einem im Urlaub die Sonne den Verstand ansengt. Bei philosophischen Büchern zum Beispiel, in denen es ja darum geht, neu und anders zu denken, kann es manchmal sogar ideal sein. In seinem letzten Buch „Pragmatismus als Antiautoritarismus“ plädiert der 2007 verstorbene amerikanische Philosoph Richard Rorty dafür, die Suche nach dem Unbedingten und Erhabenen von der Suche nach Gerechtigkeit und Glück streng zu trennen. Man darf ihn sich dabei aber auf keinen Fall als Kulturkämpfer vorstellen, von denen es gerade ja ein paar zu viele gibt, sondern eher als menschenfreundlichen Skeptiker, von denen es nie genug geben kann.
JENS-CHRISTIAN RABE
Bei höchstem
Wellengang
„Ein Schiff wird kommen, in welchem Schiffer sind, die du kennst.“ Diesen Trost bietet ein Geist, der Schlangenmann, vor 4500 Jahren einem ägyptischen Schiffbrüchigen auf einer unbekannten Insel. Der britische Historiker David Abulafia zitiert den alten Papyrustext in seiner monumentalen Weltgeschichte der Ozeane. Blendend geschrieben, ein Füllhorn des Wissens und durchweg spannend trotz seiner mehr als 1000 Seiten, wurde es deutsches Wissenschaftsbuch 2022. Abulafia vermeidet die übliche eurozentrische Sicht der Seefahrt und entwirft ein Bild vom Meer, das trotz aller Kriege die Kulturen weniger trennt als vielmehr verbindet. Dafür steht auch die Geschichte vom Schlangenmann samt Happy End: „Du umarmst deine Kinder und küsst deine Frau und siehst dein Haus wieder – sie sind das Beste von allem.“ Ideal für den Urlaub am Meer und viel Lesezeit – allerdings müssen Freunde des Analogen den ziegelsteinschweren Wälzer an den Strand schleppen.
JOACHIM KÄPPNER
Pip Williams:
Die Sammlerin der verlorenen Wörter;
aus dem Englischen von Christiane Burkhardt. Diana Verlag, 2022,
528 Seiten, 22 Euro.
Illustration: Lennart Menkhaus c/o kombinatrotweiss.de / Instagram: @lennartmenkhaus, @kombinatrotweiss_illustration
Sally Schmitt:
Six California
Kitchens. Chronicle Books, San Francisco 2022, 352 Seiten, 33,99 Euro.
Manja Präkels:
„Welt im Widerhall oder war das eine Plastiktüte?“ Essays. Verbrecher Verlag, Berlin 2022.
192 Seiten, 19 Euro.
Rin Usami:
Idol in Flammen. Roman. Aus dem Japanischen von
Luise Steggewentz. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2023.
128 Seiten, 18 Euro.
Don Winslow:
„City of Dreams“.
Aus dem Amerikanischen von Conny Lösch.
Harper Collins,
Hamburg, 2023.
368 Seiten, 24 Euro.
Emilie Pine:
Botschaften an mich selbst. Essays.
Aus dem Englischen von Cornelia Röser.
Btb, München 2022. 224 Seiten, 11 Euro.
Andrzej Bobkowski: Hinter dem
Wendekreis. Aus dem Polnischen von
Ron Mieczkowski.
Die Andere Bibliothek, Berlin 2023.
384 Seiten, 44 Euro.
Yves Ravey:
Taormina. Aus dem Französischen von Holger Fock und
Sabine Müller.
Liebeskind,
München 2023.
112 Seiten, 20 Euro.
Dori Pinto:
Der Mond über
Jerusalem. Roman.
Aus dem Hebräischen von Ruth Achlama. Kein und Aber,
Zürich 2022,
336 Seiten, 25 Euro.
Cordelia Edvardson: Gebranntes Kind
sucht das Feuer. Aus dem Schwedischen von Ursel Allenstein.
Carl Hanser Verlag, München 2023.
145 Seiten, 22 Euro.
Der ewige Brunnen. Deutsche Gedichte aus zwölf Jahrhunderten. Herausgegeben von
Dirk von Petersdorff.
C.H. Beck Verlag,
München 2023.
1167 Seiten, 28 Euro.
Emily St. John Mandel: Das Meer der
endlosen Ruhe. Aus dem Amerikanischen von Bernhard Robben. Ullstein Verlag,
Berlin 2023. 288 Seiten, 23 Euro. Erscheint
auf Deutsch am
27. Juli 2023.
Uwe Neumahr:
Das Schloss der
Schriftsteller.
Sachbuch. C.H. Beck, München 2023.
304 Seiten, 26 Euro.
Carlo Emilio Gadda:
Die grässliche Bescherung in der Via Merulana.
Krimi. Aus dem
Italienischen von Toni
Kienlechner.
Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2023. 352 Seiten,
26 Euro.
Benjamin von Stuckrad-Barre: Panikherz.
Roman. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2016.
576 Seiten, 22,99 Euro.
Robert Macfarlane und Jackie Morris:
Die verlorenen
Wörter. Aus dem Englischen von
Daniela Seel.
Matthes & Seitz,
Berlin 2018.
134 Seiten, 38 Euro.
Margarita Liberaki: Drei Sommer. Roman. Aus dem Griechischen von Michaela
Prinzinger. Arche
Literatur Verlag,
Hamburg 2021.
388 Seiten, 24 Euro.
Zeruya Shalev:
Liebesleben.
Aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler. Berliner Taschenbuchverlag, Berlin 2001.
384 Seiten, 12 Euro.
Bret Easton Ellis:
The Shards. Roman. Aus dem Englischen von Stephan Kleiner. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2023.
736 Seiten, 28 Euro.
Richard Rorty:
Pragmatismus als
Antiautoritarismus.
Aus dem Englischen
von Joachim Schulte. Suhrkamp, Berlin 2023. 454 Seiten, 34 Euro.
David Abulafia:
Das unendliche
Meer. Sachbuch. Aus dem Englischen von Michael Bischoff und Laura Su Bischoff. Fischer Verlag,
Frankfurt 2021. 1168
Seiten, 68 Euro.
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»Ich bewundere die israelische Bestsellerautorin Zeruya Shalev. Ihre Sprache ist atemlos, fast wie ein Rauscherlebnis - Dialoge jagen Monologe, brechen in Erzählsituationen ein. Ihre Figuren berühren und verstören den Leser zugleich.« Margarita Kinstner Maxi 20140201