Wenn man der großen Liebe über den Weg läuft, dann muss man sich entscheiden. Zumindest im wirklichen Leben. "Liebespaarungen", der virtuose neue Roman von Lionel Shriver, erzählt von Irina und ihren zwei Lebenswegen. Dem neuen mit Ramsey. Und dem anderen mit Lawrence. Ein Roman voller Möglichkeiten und Glück, Reue und überraschender Sehnsucht.
Lawrence ist ein ganz besonderer Mensch, klug, geistreich, verlässlich. Und ist es nicht ganz natürlich, dass die Leidenschaft seiner Liebe nach zehn Jahren nachgelassen hat? Ein Leben ohne ihn kann Irina sich jedenfalls nicht vorstellen. Auch an dem Abend nicht, an dem sie mit Ramsey, dem gemeinsamen Freund, ausgeht. Aber dann ist Ramseys Anziehungskraft überraschend groß, Irina verliert den Überblick und lässt sich zu einem leidenschaftlichen Kuss hinreißen. Mit einemmal tritt sie in ein neues Leben ein. Und mit Ramsey, dem professionellen Snooker-Spieler, verändert sich vieles, mit ihm wird Irina zu einer anderen Frau. Das Leben mit Lawrence, das Leben ohne diesen Kuss, wäre vorhersehbarer gewesen. Oder? Das ist eine andere Geschichte aber warum sollte sie deshalb nicht erzählt werden? Nur um zu erfahren, was gewesen wäre, wenn
Lawrence ist ein ganz besonderer Mensch, klug, geistreich, verlässlich. Und ist es nicht ganz natürlich, dass die Leidenschaft seiner Liebe nach zehn Jahren nachgelassen hat? Ein Leben ohne ihn kann Irina sich jedenfalls nicht vorstellen. Auch an dem Abend nicht, an dem sie mit Ramsey, dem gemeinsamen Freund, ausgeht. Aber dann ist Ramseys Anziehungskraft überraschend groß, Irina verliert den Überblick und lässt sich zu einem leidenschaftlichen Kuss hinreißen. Mit einemmal tritt sie in ein neues Leben ein. Und mit Ramsey, dem professionellen Snooker-Spieler, verändert sich vieles, mit ihm wird Irina zu einer anderen Frau. Das Leben mit Lawrence, das Leben ohne diesen Kuss, wäre vorhersehbarer gewesen. Oder? Das ist eine andere Geschichte aber warum sollte sie deshalb nicht erzählt werden? Nur um zu erfahren, was gewesen wäre, wenn
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.04.2011Snooker muss man lesen können
Dies ist der Roman zur Snooker-WM bei Eurosport: Lionel Shrivers "Liebespaarungen" schildern diesen Sport als eine Seinsweise und warten mit herrlichen Spielzügen und großen Triumphen auf.
Die beste Einstimmung auf die am Samstag beginnende 76. Snooker-Weltmeisterschaft besteht darin, einen Roman zu lesen. Er heißt "Liebespaarungen", ist im Original ("The Post-Birthday World") vor vier, auf Deutsch vor zwei Jahren erschienen und stammt von der 1957 geborenen Amerikanerin Lionel Shriver, die seit mehr als zwei Dekaden in London lebt. Das Buch hat fast sechshundert Seiten. Da es bis zum Wochenende nur schwer möglich ist, sie noch ganz zu bewältigen, und da es während der WM selbst wenig Lesezeit geben wird, kann man sich so manches Kapitel getrost auch für die snookerfreien Fernsehwochen nach dem Finale im Crucible Theatre von Sheffield aufsparen: Es beginnt am Nachmittag des 1. Mai, endet am späten Abend des folgenden Tages und wird, wie selbstredend das ganze Turnier, vom Spartensender Eurosport in epischer Wucht und Würde übertragen.
"Liebespaarungen" muss jeder gelesen haben, den Snooker begeistert. Keineswegs schaden kann die Lektüre auch den Unverbildeten unter seinen Verächtern. Es mag sie hierzulande trotz der nun gut ein Jahrzehnt währenden Fernsehanstrengungen von Eurosport und des leidenschaftlichen Dauereinsatzes des Reporters Rolf Kalb immer noch geben, auch wenn der Sender zu Spitzenzeiten inzwischen weit mehr als eine Million Zuschauer vor die Bildschirme bannt. Gebildete und eingebildete Snooker-Verächter gibt es auch in Shrivers Roman, sie finden das Spiel entweder "zum Einschlafen" öde oder dessen Stars "zu prollig" und "halbseiden". Natürlich gehören solche Leute nicht zu den Hauptfiguren des Buchs.
Drei Helden sind es, die Lionel Shriver ins Existenzfeuer der Liebe und in die Abnutzungsschlachten des Ehe- und Beziehungsalltags schickt: die Kinderbuchillustratorin Irina McGovern, den Politologen Lawrence Trainer - und eben den Snooker-Star Ramsey Acton. Als sich die drei am 6. Juli 1992 im Londoner Savoy Grill erstmals begegnen, feiert Ramsey, der auf Nummer sechzehn der Weltrangliste abgerutscht ist, gerade und gleichwohl ungetrübt seinen zweiundvierzigsten Geburtstag - was erkennen lässt, dass dieser Sport auch auf höchstem Niveau kein exklusives Privileg junger Himmelsstürmer ist.
Wenn der Roman elf Jahre später endet, ist dank der professionellen Ad-hoc-Analysen von Lawrence Trainer und der Dialogkunst der Autorin auch das jüngstvergangene Weltgeschehen vom Aufstieg Tony Blairs über den ersten Tschetschenienkrieg und den 11. September 2001 bis zum Beginn des zweiten Irakkonflikts noch einmal an uns vorübergezogen. Neben der Liebe, dem einzigen Schlüssel zum richtigen Leben, steht Snooker dabei auf sehr unangestrengte Weise im Mittelpunkt des realen wie des symbolischen Geschehens. Man erfährt darüber alles, was nötig, wichtig, unverzichtbar ist. So lustvoll wie ironisch breitet der Roman auch beiläufiges "Anorak-Wissen" aus, das zur Schönheit des Spiels nicht wenig beiträgt. Besser als Lionel Shriver jedenfalls kann man von der als Sportart getarnten Seinsweise namens Snooker nicht erzählen.
Dass dieser Umstand in den amerikanischen und englischen Kritiken kaum eine Rolle spielte, ist erstaunlich, lässt sich aber erklären. In den Vereinigten Staaten ist, ganz im Gegensatz zum populären Pool, die Königsdisziplin des Billards in etwa so bekannt wie die Sozialpolitik von Grönland - weshalb sich der Kollege der "New York Times" im Jahr 2007 auch ganz auf die ästhetischen und psychologischen Valeurs des Buches konzentrierte.
Gepflegte Umgangsformen
Sehr anders liegt der Fall beim Kritiker Carrie O'Grady vom Londoner "Guardian": Er konnte bei seinen Lesern fachliches Wissen schlicht voraussetzen, ist Snooker doch nach dem Fußball und trotz aktuell etwas stagnierender Fernsehquoten immer noch die wichtigste Sportart auf der Insel. Mit leichter Hand also konnte O'Crady auf die metaphorische Ebene wechseln, indem er behauptete, die Autorin habe sich in den "Liebespaarungen" selbst "gesnookert", sich also durch eine übertrieben riskante oder komplizierte Schreibstrategie zu viele Hindernisse in den Weg gelegt und so den Literatursieg verpasst. Unmissverständlich gesagt: Mit diesem Urteil liegt O'Crady daneben.
Außer einer respektvollen Rezension in dieser Zeitung und einem Hinweis auf die gekürzte Hörfassung (F.A.Z. vom 16. Mai 2009 und vom 2. Januar 2010) hat Shrivers Roman in Deutschland bisher keinerlei Echo gefunden - alles spricht dafür, ihn über die Seiten- und Längsbanden des 3,60 mal 1,80 Meter großen Snookertisches noch einmal ins Spiel zu bringen.
Gleich zu Beginn schildert die Autorin vollkommen verständlich die durchaus komplexen "Grundregeln", zumal das Wechselspiel zwischen den fünfzehn "scharlachroten" und den sechs verschiedenfarbigen Kugeln. Damit die Dinge aber bloß nicht zu technisch werden, ist auch sofort von der "Faszination" des Spiels die Rede, etwa von der "angenehmen Ruhe", die es ausstrahlt, von den "räumlichen und geometrischen Fähigkeiten" der Profis, "vor denen jeder Mathematiker den Hut ziehen würde", nicht zuletzt von den gepflegten "Umgangsformen, wie man sie eher mit dem Adel in Verbindung bringt".
Reisen zu Turnieren der sogenannten "Snooker Main Tour" bilden bei Lionel Shriver einen eigenen Handlungsstrang - und zwar, wie alles in diesem raffinierten Buch, gleich auf doppelte Weise. Dessen Ausgangssituation, das Treffen im Savoy Grill, weist schon auf eine klassische Dreiecksgeschichte voraus - eine Frau zwischen zwei Männern. So wird es auch kommen. Allerdings entfaltet die Autorin das Geschehen als radikale Variante zu Max Frischs Theaterstück "Biografie: Ein Spiel" aus dem Jahr 1968. Dessen Hauptfigur, der Verhaltensforscher Kürmann, malt sich im Rückblick lediglich aus, seine Existenz hätte von einem bestimmten Punkt an auch ganz anders verlaufen können - dieses "Leben im Konjunktiv" (Georg Hensel) spielt er dann durch und scheitert daran. Lionel Shriver hingegen schickt ihre Irina ganz indikativisch und in parallel geführten Kapiteln in zwei höchst verschiedene Lebensläufe.
Im ersten bleibt sie beständig beim so intellektuellen wie ein bisschen langweiligen Lawrence - und besucht mit ihm, eine rare Abwechslung im geordneten Alltag, einmal auch ein Snookerturnier in Bournemouth, bei dem Ramsey Acton lustlos spielt und gegen den gerade zweiundzwanzig Jahre alten Jungstar Ronnie O'Sullivan verliert. Ihr zweites Romanleben verbringt sie mit dem so attraktiven wie impulsiven Ramsey. Das Turnier in Bournemouth erlebt sie hier als dessen Geliebte, die überraschend anreist und den fast schon gescheiterten Altstar Acton zu einem hinreißenden Sieg über O'Sullivan motiviert.
Es ist brillant, wie Lionel Shriver über die gesamte Doppelstrecke hinweg ihre Kunstfigur Ramsey Acton in die reale Szene gegenwärtiger Snookerheroen zu integrieren vermag. Jimmy White, Stephen Hendry, Ken Doherty, Dominic Dale, John Higgins oder eben das so überragende wie oft nervtötende und seinerseits immer drogen- und depressionsgefährdete Genie Ronnie O'Sullivan: Gegen sie alle tritt der Romanheld an, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt. Gewiss, Acton hat einige Züge von Alex Higgins, dem jüngst gestorbenen Überflieger der achtziger Jahre, und er teilt mit Jimmy White den Fluch, mehrfach ein WM-Finale erreicht, aber nie gewonnen zu haben. Weshalb es zu einem Erzählmirakel gerät, wenn Shriver ihr höchst eigenes Snookergeschöpf ins Endspiel von 2001 schmuggelt und es dort triumphieren lässt, aufs Neue übrigens gegen O'Sullivan, der just diese WM, wie in jeder Chronik nachzulesen, gegen John Higgins gewann. Aber was ist eine Chronik schon im Angesicht des literarisch Wahren?
In ihrem Leben mit Lawrence sieht Irina das fiktive Finale bei der BBC. Und immer, wenn es um Snooker als Fernsehsport geht, läuft die Autorin zu Höchstform auf. Das beginnt bei den BBC-Kommentatoren und ihrem "Flüsterton": "Ihr Vokabular", heißt es, "war voller Andeutungen, ohne direkt schmutzig zu sein: ein langer Stoß, sanfte Berührung, eine Rote lochen, an die Schwarze kommen." Das setzt sich fort mit einer Bemerkung von Lawrence vom Fernsehsessel aus. "Beim Snooker", philosophiert er, "bleibt der Gegner immer eine abstrakte Größe ... Letztlich spielen alle Spieler immer nur gegen sich selbst." Der schönste aller Sätze aber bleibt Irina selbst vorbehalten: "Im Fernsehen", sinniert sie, "wirkten Snookerspiele immer so intim - die angestrahlten Tische in der Dunkelheit, auf denen die Bälle leuchteten wie auf einem Bild von Edward Hopper."
Das gläserne Klackern der Bälle
Rein sportlich dürfte die aktuelle WM vom kommenden Samstag an nicht viel Überraschendes bieten. Die Spitzenspieler bilden einen so elitären wie stabilen Kreis - auf den vorderen Plätzen der Rangliste finden sich über Jahre hinweg verlässlich dieselben Namen. Also wird auch dieses Mal der so biedere und ungemein präzise John Higgins wieder zu den Favoriten zählen, nachdem seine halbjährige Sperre wegen der Verwicklung in einen Wettskandal unlängst abgelaufen ist. Also wird wieder mit dem Australier Neil Robertson zu rechnen sein, der im vergangenen Jahr seinen ersten Titel holte. Einer Überraschung gleich käme lediglich ein chinesischer Sieg, auch wenn Marco Fu und Ding Junhui schon lange zu den Topleuten zählen. Und O'Sullivan ist, so er denn nicht wieder einmal in letzter Minute absagt, immer Favorit.
Nicht wenige der zweiunddreißig Finalisten gehören durch Lionel Shrivers formidable "Liebespaarungen" nun auch zum Figurenarsenal der Weltliteratur. Im Crucible Theatre stehen sie zudem im Rampenlicht des Realen. Nur Ramsey Acton bleibt ganz im Buch. Als Profi längst zurückgetreten, ist er am Ende unheilbar krank. Und doch gewinnt er ein letztes Mal - seine kindliche Freude am Snooker kehrt zurück. Er will und kann nun einfach nur zusehen, "wie die Bälle in die Taschen fallen" - und wird nicht müde, dabei ihrem "gläsernen Klackern" zu lauschen. So werden wir es von Samstag an auch halten.
JOCHEN HIEBER
Lionel Shrivers Roman "Liebespaarungen" ist als Hardcover und Taschenbuch bei Piper erschienen. Eurosport sendet die WM vom 16. April bis zum 2. Mai mehrmals täglich live. Im nicht frei empfangbaren Kanal von Eurosport2 gibt es zusätzliche Live-Einblendungen.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Dies ist der Roman zur Snooker-WM bei Eurosport: Lionel Shrivers "Liebespaarungen" schildern diesen Sport als eine Seinsweise und warten mit herrlichen Spielzügen und großen Triumphen auf.
Die beste Einstimmung auf die am Samstag beginnende 76. Snooker-Weltmeisterschaft besteht darin, einen Roman zu lesen. Er heißt "Liebespaarungen", ist im Original ("The Post-Birthday World") vor vier, auf Deutsch vor zwei Jahren erschienen und stammt von der 1957 geborenen Amerikanerin Lionel Shriver, die seit mehr als zwei Dekaden in London lebt. Das Buch hat fast sechshundert Seiten. Da es bis zum Wochenende nur schwer möglich ist, sie noch ganz zu bewältigen, und da es während der WM selbst wenig Lesezeit geben wird, kann man sich so manches Kapitel getrost auch für die snookerfreien Fernsehwochen nach dem Finale im Crucible Theatre von Sheffield aufsparen: Es beginnt am Nachmittag des 1. Mai, endet am späten Abend des folgenden Tages und wird, wie selbstredend das ganze Turnier, vom Spartensender Eurosport in epischer Wucht und Würde übertragen.
"Liebespaarungen" muss jeder gelesen haben, den Snooker begeistert. Keineswegs schaden kann die Lektüre auch den Unverbildeten unter seinen Verächtern. Es mag sie hierzulande trotz der nun gut ein Jahrzehnt währenden Fernsehanstrengungen von Eurosport und des leidenschaftlichen Dauereinsatzes des Reporters Rolf Kalb immer noch geben, auch wenn der Sender zu Spitzenzeiten inzwischen weit mehr als eine Million Zuschauer vor die Bildschirme bannt. Gebildete und eingebildete Snooker-Verächter gibt es auch in Shrivers Roman, sie finden das Spiel entweder "zum Einschlafen" öde oder dessen Stars "zu prollig" und "halbseiden". Natürlich gehören solche Leute nicht zu den Hauptfiguren des Buchs.
Drei Helden sind es, die Lionel Shriver ins Existenzfeuer der Liebe und in die Abnutzungsschlachten des Ehe- und Beziehungsalltags schickt: die Kinderbuchillustratorin Irina McGovern, den Politologen Lawrence Trainer - und eben den Snooker-Star Ramsey Acton. Als sich die drei am 6. Juli 1992 im Londoner Savoy Grill erstmals begegnen, feiert Ramsey, der auf Nummer sechzehn der Weltrangliste abgerutscht ist, gerade und gleichwohl ungetrübt seinen zweiundvierzigsten Geburtstag - was erkennen lässt, dass dieser Sport auch auf höchstem Niveau kein exklusives Privileg junger Himmelsstürmer ist.
Wenn der Roman elf Jahre später endet, ist dank der professionellen Ad-hoc-Analysen von Lawrence Trainer und der Dialogkunst der Autorin auch das jüngstvergangene Weltgeschehen vom Aufstieg Tony Blairs über den ersten Tschetschenienkrieg und den 11. September 2001 bis zum Beginn des zweiten Irakkonflikts noch einmal an uns vorübergezogen. Neben der Liebe, dem einzigen Schlüssel zum richtigen Leben, steht Snooker dabei auf sehr unangestrengte Weise im Mittelpunkt des realen wie des symbolischen Geschehens. Man erfährt darüber alles, was nötig, wichtig, unverzichtbar ist. So lustvoll wie ironisch breitet der Roman auch beiläufiges "Anorak-Wissen" aus, das zur Schönheit des Spiels nicht wenig beiträgt. Besser als Lionel Shriver jedenfalls kann man von der als Sportart getarnten Seinsweise namens Snooker nicht erzählen.
Dass dieser Umstand in den amerikanischen und englischen Kritiken kaum eine Rolle spielte, ist erstaunlich, lässt sich aber erklären. In den Vereinigten Staaten ist, ganz im Gegensatz zum populären Pool, die Königsdisziplin des Billards in etwa so bekannt wie die Sozialpolitik von Grönland - weshalb sich der Kollege der "New York Times" im Jahr 2007 auch ganz auf die ästhetischen und psychologischen Valeurs des Buches konzentrierte.
Gepflegte Umgangsformen
Sehr anders liegt der Fall beim Kritiker Carrie O'Grady vom Londoner "Guardian": Er konnte bei seinen Lesern fachliches Wissen schlicht voraussetzen, ist Snooker doch nach dem Fußball und trotz aktuell etwas stagnierender Fernsehquoten immer noch die wichtigste Sportart auf der Insel. Mit leichter Hand also konnte O'Crady auf die metaphorische Ebene wechseln, indem er behauptete, die Autorin habe sich in den "Liebespaarungen" selbst "gesnookert", sich also durch eine übertrieben riskante oder komplizierte Schreibstrategie zu viele Hindernisse in den Weg gelegt und so den Literatursieg verpasst. Unmissverständlich gesagt: Mit diesem Urteil liegt O'Crady daneben.
Außer einer respektvollen Rezension in dieser Zeitung und einem Hinweis auf die gekürzte Hörfassung (F.A.Z. vom 16. Mai 2009 und vom 2. Januar 2010) hat Shrivers Roman in Deutschland bisher keinerlei Echo gefunden - alles spricht dafür, ihn über die Seiten- und Längsbanden des 3,60 mal 1,80 Meter großen Snookertisches noch einmal ins Spiel zu bringen.
Gleich zu Beginn schildert die Autorin vollkommen verständlich die durchaus komplexen "Grundregeln", zumal das Wechselspiel zwischen den fünfzehn "scharlachroten" und den sechs verschiedenfarbigen Kugeln. Damit die Dinge aber bloß nicht zu technisch werden, ist auch sofort von der "Faszination" des Spiels die Rede, etwa von der "angenehmen Ruhe", die es ausstrahlt, von den "räumlichen und geometrischen Fähigkeiten" der Profis, "vor denen jeder Mathematiker den Hut ziehen würde", nicht zuletzt von den gepflegten "Umgangsformen, wie man sie eher mit dem Adel in Verbindung bringt".
Reisen zu Turnieren der sogenannten "Snooker Main Tour" bilden bei Lionel Shriver einen eigenen Handlungsstrang - und zwar, wie alles in diesem raffinierten Buch, gleich auf doppelte Weise. Dessen Ausgangssituation, das Treffen im Savoy Grill, weist schon auf eine klassische Dreiecksgeschichte voraus - eine Frau zwischen zwei Männern. So wird es auch kommen. Allerdings entfaltet die Autorin das Geschehen als radikale Variante zu Max Frischs Theaterstück "Biografie: Ein Spiel" aus dem Jahr 1968. Dessen Hauptfigur, der Verhaltensforscher Kürmann, malt sich im Rückblick lediglich aus, seine Existenz hätte von einem bestimmten Punkt an auch ganz anders verlaufen können - dieses "Leben im Konjunktiv" (Georg Hensel) spielt er dann durch und scheitert daran. Lionel Shriver hingegen schickt ihre Irina ganz indikativisch und in parallel geführten Kapiteln in zwei höchst verschiedene Lebensläufe.
Im ersten bleibt sie beständig beim so intellektuellen wie ein bisschen langweiligen Lawrence - und besucht mit ihm, eine rare Abwechslung im geordneten Alltag, einmal auch ein Snookerturnier in Bournemouth, bei dem Ramsey Acton lustlos spielt und gegen den gerade zweiundzwanzig Jahre alten Jungstar Ronnie O'Sullivan verliert. Ihr zweites Romanleben verbringt sie mit dem so attraktiven wie impulsiven Ramsey. Das Turnier in Bournemouth erlebt sie hier als dessen Geliebte, die überraschend anreist und den fast schon gescheiterten Altstar Acton zu einem hinreißenden Sieg über O'Sullivan motiviert.
Es ist brillant, wie Lionel Shriver über die gesamte Doppelstrecke hinweg ihre Kunstfigur Ramsey Acton in die reale Szene gegenwärtiger Snookerheroen zu integrieren vermag. Jimmy White, Stephen Hendry, Ken Doherty, Dominic Dale, John Higgins oder eben das so überragende wie oft nervtötende und seinerseits immer drogen- und depressionsgefährdete Genie Ronnie O'Sullivan: Gegen sie alle tritt der Romanheld an, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt. Gewiss, Acton hat einige Züge von Alex Higgins, dem jüngst gestorbenen Überflieger der achtziger Jahre, und er teilt mit Jimmy White den Fluch, mehrfach ein WM-Finale erreicht, aber nie gewonnen zu haben. Weshalb es zu einem Erzählmirakel gerät, wenn Shriver ihr höchst eigenes Snookergeschöpf ins Endspiel von 2001 schmuggelt und es dort triumphieren lässt, aufs Neue übrigens gegen O'Sullivan, der just diese WM, wie in jeder Chronik nachzulesen, gegen John Higgins gewann. Aber was ist eine Chronik schon im Angesicht des literarisch Wahren?
In ihrem Leben mit Lawrence sieht Irina das fiktive Finale bei der BBC. Und immer, wenn es um Snooker als Fernsehsport geht, läuft die Autorin zu Höchstform auf. Das beginnt bei den BBC-Kommentatoren und ihrem "Flüsterton": "Ihr Vokabular", heißt es, "war voller Andeutungen, ohne direkt schmutzig zu sein: ein langer Stoß, sanfte Berührung, eine Rote lochen, an die Schwarze kommen." Das setzt sich fort mit einer Bemerkung von Lawrence vom Fernsehsessel aus. "Beim Snooker", philosophiert er, "bleibt der Gegner immer eine abstrakte Größe ... Letztlich spielen alle Spieler immer nur gegen sich selbst." Der schönste aller Sätze aber bleibt Irina selbst vorbehalten: "Im Fernsehen", sinniert sie, "wirkten Snookerspiele immer so intim - die angestrahlten Tische in der Dunkelheit, auf denen die Bälle leuchteten wie auf einem Bild von Edward Hopper."
Das gläserne Klackern der Bälle
Rein sportlich dürfte die aktuelle WM vom kommenden Samstag an nicht viel Überraschendes bieten. Die Spitzenspieler bilden einen so elitären wie stabilen Kreis - auf den vorderen Plätzen der Rangliste finden sich über Jahre hinweg verlässlich dieselben Namen. Also wird auch dieses Mal der so biedere und ungemein präzise John Higgins wieder zu den Favoriten zählen, nachdem seine halbjährige Sperre wegen der Verwicklung in einen Wettskandal unlängst abgelaufen ist. Also wird wieder mit dem Australier Neil Robertson zu rechnen sein, der im vergangenen Jahr seinen ersten Titel holte. Einer Überraschung gleich käme lediglich ein chinesischer Sieg, auch wenn Marco Fu und Ding Junhui schon lange zu den Topleuten zählen. Und O'Sullivan ist, so er denn nicht wieder einmal in letzter Minute absagt, immer Favorit.
Nicht wenige der zweiunddreißig Finalisten gehören durch Lionel Shrivers formidable "Liebespaarungen" nun auch zum Figurenarsenal der Weltliteratur. Im Crucible Theatre stehen sie zudem im Rampenlicht des Realen. Nur Ramsey Acton bleibt ganz im Buch. Als Profi längst zurückgetreten, ist er am Ende unheilbar krank. Und doch gewinnt er ein letztes Mal - seine kindliche Freude am Snooker kehrt zurück. Er will und kann nun einfach nur zusehen, "wie die Bälle in die Taschen fallen" - und wird nicht müde, dabei ihrem "gläsernen Klackern" zu lauschen. So werden wir es von Samstag an auch halten.
JOCHEN HIEBER
Lionel Shrivers Roman "Liebespaarungen" ist als Hardcover und Taschenbuch bei Piper erschienen. Eurosport sendet die WM vom 16. April bis zum 2. Mai mehrmals täglich live. Im nicht frei empfangbaren Kanal von Eurosport2 gibt es zusätzliche Live-Einblendungen.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Einen literarischen Kniff wendet die Autorin Lionel Shriver an, um in ihrem Roman "Liebespaarungen" Schicksal zu spielen. Im Zentrum steht die Kinderbuchautorin Irina McGovern und Shriver stellt sie zu Beginn ihres Romans an eine Verzweigung ihres Lebenswegs. Und sie erzählt, das ist die Pointe, zwei mögliche Entwicklungen weiter, die je nach getroffener Entscheidung ganz unterschiedlich ausgehen. Dem einen Leben mangelt es dabei keineswegs an Dramatik, dem anderen schon. Shriver erzählt stur abwechselnd immer beide Alternativen. Und mit dieser Sturheit hat sie die Rezensentin Ingeborg Harms bald für sich gewonnen. Ganz abgesehen davon, dass sie auch den "zwischen Selbstironie und Sarkasmus pendelnden Erzählton" sehr schätzt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Kurzweilig, mit Lebensweisheiten und einem Hauch Erotik angereichert, sorgt der Roman auf zwei Leseebenen für Unterhaltung.« Ostsee Zeitung 20130822