Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.10.1998Versuchsballon der Leidenschaft
Seelen-Kartograph: Ian McEwan kennt nicht nur den "Liebeswahn"
Am Rande des Bewußtseins glimmt vieles, das unbeachtet im Strom der Zeit versinkt: Aggressionen, Träume, Ängste, Obsessionen. Der britische Schriftsteller Ian McEwan, der gestern für seinen noch nicht ins Deutsche übersetzten Roman "Amsterdam" mit dem Booker-Preis ausgezeichnet wurde, entwirft in seinen Romanen Szenarien, in denen sich solche Funken, durch die Umstände begünstigt, zu einem Flächenbrand ausweiten. Geschwister, die ihre Eltern verloren haben, werden über Nacht intim; eine Begegnung mit zwei schwarzen Hunden bekehrt eine Frau gegen Ende des Zweiten Weltkriegs zu Gott; ein Ehepaar, auf Urlaub in Venedig, verliert sich in sadomasochistischen Spielen.
"Liebeswahn", McEwans zuletzt ins Deutsche übertragener Roman, beginnt mit dem Versuch von fünf Männern, einen über eine Wiese nahe London treibenden Ballon mit Seilen festzuhalten. Plötzlich werden sie von einer Böe mit dem Heliumballon in die Höhe gerissen. Vier lassen sich fallen, obwohl in der Gondel ein verängstigtes Kind kauert. Der fünfte, ein Arzt, wird in die Weiten des Himmels getragen, bis ihn seine Kraft verläßt.
Doch erst das Nachbeben dieses Ballonunglücks wird zur eigentlichen Tragödie. Nachdem die Zurückgebliebenen den Arzt haben abstürzen sehen, kreuzten sich die Blicke des in einem nahegelegenen Dorf lebenden passionierten Christen Jed Parry und des Erzählers, des Journalisten Joe Rose. Jed genügt diese kurze Begegnung, um Joe zu verfallen. Der Roman erzählt von dieser bis zum Exzeß führenden Liebe, von Joes Versuch, dem Wahn zu entfliehen, und von dem zerstörerischen Keim, den sie in Joes kinderlose Ehe mit der Literaturwissenschaftlerin Clarissa streut.
Der Seelenvermesser McEwan kartographiert minutiös Sog und Flug menschlicher Gefühle, in den die drei Protagonisten nach dem Unfall geraten. Seine Hauptfigur Joe Rose, ein Jünger des kühlen Zergliederns, untermischt ihren Bericht mit schillernden Begriffen aus Biologie, Chaostheorie und Mathematik. Doch der Autor läßt seinen Helden daran scheitern, mit diesen Präzisionsinstrumenten die Rätsel des Zwischenmenschlichen zu lösen.
Statt dessen verschwimmen unter dem detailversessenen Blick Joe Roses die scheinbaren Grenzen zwischen leidenschaftlicher und krankhafter Liebe. Auch gleichen manche Sätze in den obsessiven Briefen des Erotomanen Jed Parry, die den Bericht unterbrechen, den von Clarissa an Joe geschriebenen Zeilen aufs Haar. So sieht der Leser beim Blick auf die Liebe dort, wo zuvor ein hehres Denkmal gestanden haben mag, dieses nun zwischen Begehren, Gewalt, Vertrauen, Zweifel, Zuneigung und Haß changieren, bis es kaum noch zu erkennen ist. Allein die Prosa McEwans gibt keinen Zentimeter ihrer Klarheit preis. Über das ganze Buch hinweg läßt McEwan Joe den hakenschlagenden Kapriolen der Seele nachjagen: "Am Mittwoch hatte Clarissa Geburtstag. Als ich ihr meine Glückwunschkarte gab, küßte sie mich mitten auf den Mund. Jetzt, nachdem für sie feststand, daß meine Nerven zerrüttet waren, jetzt, nachdem sie mir gesagt hatte, daß es aus sei zwischen uns, schien sie hochgestimmt und großmütig." Trotz aller Präzision im Stil, trotz aller Stringenz der Erzählhandlung, gestattet der Autor seinen Figuren immer wieder kontrollierte Abschweifungen. Da ist die Ehefrau des tödlich abgestürzten Oxforder Arztes, die in einem Haus lebt, in dem seit den sechziger Jahren die Zeit stillzustehen scheint. Wir lesen von Joes Herzschmerz über die aufgegebene Wissenschaftlerkarriere und über sein Hadern mit dem Journalismus, in dem er nichtsdestoweniger reüssiert. Clarissas Forschung über Keats werden ebenfalls ein paar Seiten gewidmet. Anläßlich einiger Besuche auf Polizeiwachen oder bei Hippies, die auf entlegenen Bauernhöfen ihr Dasein fristen, bewährt sich McEwans Gabe zu witzig-treffender Milieuschilderung. So erwächst aus dem Roman "Liebeswahn" inmitten der Wanderungen durch menschliche Gefühlslabyrinthe am Ende auch ein Miniatur-Panorama der südenglischen Gesellschaft zum Ende unseres Jahrhunderts. HUBERTUS BREUER
Ian McEwan: Liebeswahn. Aus dem Englischen übersetzt von Hans-Christian Oeser. Diogenes Verlag, Zürich 1998. 357 S., geb., 42,- DM.
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Seelen-Kartograph: Ian McEwan kennt nicht nur den "Liebeswahn"
Am Rande des Bewußtseins glimmt vieles, das unbeachtet im Strom der Zeit versinkt: Aggressionen, Träume, Ängste, Obsessionen. Der britische Schriftsteller Ian McEwan, der gestern für seinen noch nicht ins Deutsche übersetzten Roman "Amsterdam" mit dem Booker-Preis ausgezeichnet wurde, entwirft in seinen Romanen Szenarien, in denen sich solche Funken, durch die Umstände begünstigt, zu einem Flächenbrand ausweiten. Geschwister, die ihre Eltern verloren haben, werden über Nacht intim; eine Begegnung mit zwei schwarzen Hunden bekehrt eine Frau gegen Ende des Zweiten Weltkriegs zu Gott; ein Ehepaar, auf Urlaub in Venedig, verliert sich in sadomasochistischen Spielen.
"Liebeswahn", McEwans zuletzt ins Deutsche übertragener Roman, beginnt mit dem Versuch von fünf Männern, einen über eine Wiese nahe London treibenden Ballon mit Seilen festzuhalten. Plötzlich werden sie von einer Böe mit dem Heliumballon in die Höhe gerissen. Vier lassen sich fallen, obwohl in der Gondel ein verängstigtes Kind kauert. Der fünfte, ein Arzt, wird in die Weiten des Himmels getragen, bis ihn seine Kraft verläßt.
Doch erst das Nachbeben dieses Ballonunglücks wird zur eigentlichen Tragödie. Nachdem die Zurückgebliebenen den Arzt haben abstürzen sehen, kreuzten sich die Blicke des in einem nahegelegenen Dorf lebenden passionierten Christen Jed Parry und des Erzählers, des Journalisten Joe Rose. Jed genügt diese kurze Begegnung, um Joe zu verfallen. Der Roman erzählt von dieser bis zum Exzeß führenden Liebe, von Joes Versuch, dem Wahn zu entfliehen, und von dem zerstörerischen Keim, den sie in Joes kinderlose Ehe mit der Literaturwissenschaftlerin Clarissa streut.
Der Seelenvermesser McEwan kartographiert minutiös Sog und Flug menschlicher Gefühle, in den die drei Protagonisten nach dem Unfall geraten. Seine Hauptfigur Joe Rose, ein Jünger des kühlen Zergliederns, untermischt ihren Bericht mit schillernden Begriffen aus Biologie, Chaostheorie und Mathematik. Doch der Autor läßt seinen Helden daran scheitern, mit diesen Präzisionsinstrumenten die Rätsel des Zwischenmenschlichen zu lösen.
Statt dessen verschwimmen unter dem detailversessenen Blick Joe Roses die scheinbaren Grenzen zwischen leidenschaftlicher und krankhafter Liebe. Auch gleichen manche Sätze in den obsessiven Briefen des Erotomanen Jed Parry, die den Bericht unterbrechen, den von Clarissa an Joe geschriebenen Zeilen aufs Haar. So sieht der Leser beim Blick auf die Liebe dort, wo zuvor ein hehres Denkmal gestanden haben mag, dieses nun zwischen Begehren, Gewalt, Vertrauen, Zweifel, Zuneigung und Haß changieren, bis es kaum noch zu erkennen ist. Allein die Prosa McEwans gibt keinen Zentimeter ihrer Klarheit preis. Über das ganze Buch hinweg läßt McEwan Joe den hakenschlagenden Kapriolen der Seele nachjagen: "Am Mittwoch hatte Clarissa Geburtstag. Als ich ihr meine Glückwunschkarte gab, küßte sie mich mitten auf den Mund. Jetzt, nachdem für sie feststand, daß meine Nerven zerrüttet waren, jetzt, nachdem sie mir gesagt hatte, daß es aus sei zwischen uns, schien sie hochgestimmt und großmütig." Trotz aller Präzision im Stil, trotz aller Stringenz der Erzählhandlung, gestattet der Autor seinen Figuren immer wieder kontrollierte Abschweifungen. Da ist die Ehefrau des tödlich abgestürzten Oxforder Arztes, die in einem Haus lebt, in dem seit den sechziger Jahren die Zeit stillzustehen scheint. Wir lesen von Joes Herzschmerz über die aufgegebene Wissenschaftlerkarriere und über sein Hadern mit dem Journalismus, in dem er nichtsdestoweniger reüssiert. Clarissas Forschung über Keats werden ebenfalls ein paar Seiten gewidmet. Anläßlich einiger Besuche auf Polizeiwachen oder bei Hippies, die auf entlegenen Bauernhöfen ihr Dasein fristen, bewährt sich McEwans Gabe zu witzig-treffender Milieuschilderung. So erwächst aus dem Roman "Liebeswahn" inmitten der Wanderungen durch menschliche Gefühlslabyrinthe am Ende auch ein Miniatur-Panorama der südenglischen Gesellschaft zum Ende unseres Jahrhunderts. HUBERTUS BREUER
Ian McEwan: Liebeswahn. Aus dem Englischen übersetzt von Hans-Christian Oeser. Diogenes Verlag, Zürich 1998. 357 S., geb., 42,- DM.
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»Ian McEwan gilt als einer der besten britischen Autoren der Gegenwart.« Thomas David / Stern Stern