Rückerts »Liedertagebuch« aus dem Nachlaß - das größte Poesiewerk des 19. Jahrhunderts - wird in dieser Ausgabe erstmals gedruckt.Von Enttäuschungen und Mißerfolgen entkräftet, erbat Friedrich Rückert im Jahr 1846 vom König Friedrich Wilhelm IV. die Entpflichtung von seiner orientalistischen Professur in Berlin. In ländlicher Isolation stellte er schrittweise seinen Weltverkehr ein - und seine Publikationen, dies jedoch bei fortdauernder Produktion. Erstmals bekamen seine Tagespoesien programmatisch die Aufschrift »Altersverse«. Heute bilden Rückerts »kleine Gedichte« aus dem Nachlaß - es wurden fast 10 000 in 20 Jahren - das größte Poesie-Werk des 19. Jahrhunderts: ein Protokoll zuletzt einer ganzen Epoche und ihres Vergehens. »Liedertagebuch« war sein Ausdruck dafür; es wurde ein unvergleichliches Abbild einer menschlichen Tragödie. »Ging' es nach mir«, schrieb Felix Dahn, der nach Rückerts Tod die Manuskripte durchsah, »so wird der ganze Nachlaß gedruckt...nichts ist geringfügig.«Fast alle Texte erscheinen nun - nach 135 Jahren - erstmals im Druck. Der editorische Bericht enthält die Entstehungsgeschichte und die Darstellung sämtlicher Quellen.Zur »Schweinfurter Edition«:In einer von der Rückert-Gesellschaft initiierten und sorgfältig edierten Ausgabe wird unter der Herausgeberschaft Hans Wollschlägers und Rudolf Kreutners Rückerts Hauptwerk nun wieder zugänglich gemacht.Preis bei Abnahme der ganzen Reihe: EUR (D) 49,-; EUR (A) 50,40
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.03.2002Seufzendste der Kreaturen
Schlampig, aber herrlich frei: Friedrich Rückerts Liedertagebuch
Friedrich Rückert (1788-1866) hatte sich ein Wandregal mit einhundert Fächern bauen lassen, in denen er seine Produktion entstehungschronologisch ablegte. Das ist der erste der Gründe dafür, daß die große Schweinfurter Rückert-Ausgabe die zehntausend Gedichte der letzten zwanzig Lebensjahre (durchschnittlich fünfhundert Gedichte jährlich!) in zeitlicher Folge zu ordnen versucht und als "Liedertagebuch" abdruckt. Der zweite Grund ist ein handschriftliches Titelblatt "Altersverse. Neuseß 1846", dem sich eine größere Anzahl datierter Gedichte aus den Jahren 1846 und 1847 mehr oder weniger zwanglos zuordnen lassen. Der dritte ist das Wort "Liedertagebuch", das in einem einzigen der zehntausend Gedichte vorkommt.
Das sind, aufs Ganze gerechnet, nicht eben starke Gründe, und ob Rückert wirklich wollte, daß seine losen Blätter ein Loseblatt-Werk seien, wird wohl nie mit Sicherheit zu entscheiden sein. Dennoch ist das Unternehmen respektabel, die chronologische Anordnung noch die beste unter allen denkbaren Alternativen, die Texte bisher unbekannt und die Edition insgesamt philologisch sorgfältig gemacht und gut kommentiert.
Der erste Band des "Liedertagebuchs", der 420 Gedichte aus den Jahren 1846 und 1847 enthält, läßt den Tagebuchcharakter noch einigermaßen plausibel erscheinen, denn die Gedichte wurden vom Autor selbst datiert - und Rückert schrieb, abgesehen von zwei jeweils mehrmonatigen Lücken, Tag für Tag mehrere davon. Die Folgebände werden, da die Hundert-Fächer-Ordnung von früheren Nachlaßverwaltern durcheinandergebracht wurde, es hauptsächlich mit undatierten, von den Herausgebern erst chronologisch anzuordnenden Texten zu tun haben, die das Tagebuchkonzept doch ein wenig in Frage stellen. Am Ende soll das Liedertagebuch acht Bände umfassen. Nimmt man den jetzt erschienenen Band als Norm, so ergibt die Hochrechnung allerdings, daß für zehntausend Gedichte 25 Bände erforderlich sein werden. Rechnet man ab, daß im vorliegenden Band noch eine kleine Abteilung "Briefe" zu finden ist, die es nicht in jedem Lieder-Band geben wird, bleiben überschlagsmäßig immer noch zwanzig Bände übrig. Die Gesamtplanung der Ausgabe, von der bisher drei Bände (aus verschiedenen Lebensabschnitten und ohne Bandzählung) erschienen sind, scheint noch ziemlich nebulös zu sein. Der Verlag spricht von etwa vierzig Bänden, die zu erwarten seien, im Verlauf von wahrscheinlich nicht wenigen Jahren. Aber vielleicht werden es auch sechzig, wenn die Sponsoren mitmachen, deren eindrucksvolle Tafel die letzten Seiten der geschmackvoll ausgestatteten Bände ziert.
Im Jahr 1846 ist Rückert Professor für Orientalistik in Berlin und hält vor drei Hörern ein Kolleg über die ältesten arabischen Volkslieder. Er ist berühmt, will aber von der Welt nichts wissen, meidet insbesondere den König von Preußen, der ihn ehrenhaft berufen hatte und seine Abendgeselligkeiten gern mit ihm geschmückt hätte. Kränklich und bedrückt, erbittet der Gefeierte Urlaub, erhält ihn und verbringt den Winter 1846/47 in Neusäß bei Coburg, wo die meisten Gedichte des Bandes entstehen. Eine Art Altersmelancholie hat ihn erfaßt. Die von ihr ausgehende Handlungshemmung erfaßt aber nur sein äußeres, nicht sein inneres Leben; er zieht sich aus der Gesellschaft fast völlig zurück, schreibt aber Gedicht um Gedicht. Freilich merkt man dieser Lyrik an, daß ihm das Publikum völlig gleichgültig geworden ist. Er dichtet vor sich hin, wo er geht und steht, zur eigenen Befriedigung, und genießt die Freiheit von Qualitätsansprüchen. Er dichtet viel Holpriges, Banales, unrein oder gewaltsam Gereimtes, voll von unreifen Halb-Ideen und unausgegorenen Reflexiönchen, freilich dazwischen auch Stücke mit strengstem, wenn auch gequältem Formanspruch:
"Du bist die seufzendste der Kreaturen, / Die je geseufzt in Lebens Todesreichen. / Die Morgen- und die Abendsegen fuhren / Zum Himmel als Erlösungsfragezeichen / In Seufzerform; Du seufzest, wenn an Huren / Du denkst, und seufzest, wenn du denkst an Leichen. / Die Atemzüge gehn auf Seufzerspuren, / Und auch die Winde seufzen, die dir streichen."
Rückert muß sehr einsam gewesen sein. Die Gedichte spiegeln so gut wie nie die Gesellschaft. Die meisten handeln der Jahreszeit folgend von Blumen, Vögeln oder Schnee. Des Sohnes Agrikulturstudien spiegeln sich in einigen Gedichten über Chemie, dazu kommt gelegentlich biedermeierlich Humoristisches über Berliner contra Neusäßer Öfen und über des Pfarrers Metzelsupp. Politisches ist ganz selten (ein Gedicht gegen die dänischen Ansprüche auf Schleswig-Holstein), Religiöses gibt es fast gar nicht, nicht einmal an Weihnachten. Rückert kam mit Festen nicht zurecht: "Auch wie andre Lebensgäste / Feiert' ich wohl meine Feste, / Aber selten auf den Tag, / Wo eins anberaumet lag. // Oft wie ungeduld'ge Gäste / Kam ich vor dem Fest zum Feste, / Oder kam zum Festnachtrag, / Niemals auf den rechten Tag" (Heiligabend 1846).
Ob die Sachen gut sind oder schlecht, ist umstritten seit anderthalb Jahrhunderten. Ab und zu ein Gulden in der Sahara, urteilte Peter von Matt über einen früheren Band. Die Herausgeber Rudolf Kreutner und Hans Wollschläger sind vom Gegenteil überzeugt, aber sie sprechen natürlich auch pro domo, wenn sie vorschlagen, das Liedertagebuch "als das größte geschlossene Poesiewerk des neunzehnten Jahrhunderts" und als "ein Alterswerk exemplarischer Art" zu erkennen. Die ersten Stippvisiten im Lande dieser Lyrik wirken befremdend, ein trivialer Reimeschmied scheint am Werk, der ohne Selbstkontrolle jeden Satz, der ihm durch den Kopf geht, zu Papier bringt. Er reimte schneller, als er denken konnte. Liest man länger, teilt sich jedoch noch etwas anderes, Tieferes mit - jene Verschlossenheit des Alternden, die zugleich Bedürfnislosigkeit und Lässigkeit ist, eine Gleichgültigkeit gegenüber dem Publikum, die etwas Souveränes hat, ein halb schlampiges, halb überlegenes Ist-doch-egal, eine Freiheit von jeglicher Ruhmsucht, ein Abschied von der Welt, der noch einmal das "Alles ist eitel" des Predigers Salomo orchestriert - und einem den brummigen Schwarzseher doch irgendwie sympathisch macht.
HERMANN KURZKE
Friedrich Rückert: "Liedertagebuch". Werke der Jahre 1846-1847. Erster Band. Herausgegeben von Rudolf Kreutner und Hans Wollschläger. Wallstein Verlag, Göttingen 2001. 443 S., geb., 59,-.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Schlampig, aber herrlich frei: Friedrich Rückerts Liedertagebuch
Friedrich Rückert (1788-1866) hatte sich ein Wandregal mit einhundert Fächern bauen lassen, in denen er seine Produktion entstehungschronologisch ablegte. Das ist der erste der Gründe dafür, daß die große Schweinfurter Rückert-Ausgabe die zehntausend Gedichte der letzten zwanzig Lebensjahre (durchschnittlich fünfhundert Gedichte jährlich!) in zeitlicher Folge zu ordnen versucht und als "Liedertagebuch" abdruckt. Der zweite Grund ist ein handschriftliches Titelblatt "Altersverse. Neuseß 1846", dem sich eine größere Anzahl datierter Gedichte aus den Jahren 1846 und 1847 mehr oder weniger zwanglos zuordnen lassen. Der dritte ist das Wort "Liedertagebuch", das in einem einzigen der zehntausend Gedichte vorkommt.
Das sind, aufs Ganze gerechnet, nicht eben starke Gründe, und ob Rückert wirklich wollte, daß seine losen Blätter ein Loseblatt-Werk seien, wird wohl nie mit Sicherheit zu entscheiden sein. Dennoch ist das Unternehmen respektabel, die chronologische Anordnung noch die beste unter allen denkbaren Alternativen, die Texte bisher unbekannt und die Edition insgesamt philologisch sorgfältig gemacht und gut kommentiert.
Der erste Band des "Liedertagebuchs", der 420 Gedichte aus den Jahren 1846 und 1847 enthält, läßt den Tagebuchcharakter noch einigermaßen plausibel erscheinen, denn die Gedichte wurden vom Autor selbst datiert - und Rückert schrieb, abgesehen von zwei jeweils mehrmonatigen Lücken, Tag für Tag mehrere davon. Die Folgebände werden, da die Hundert-Fächer-Ordnung von früheren Nachlaßverwaltern durcheinandergebracht wurde, es hauptsächlich mit undatierten, von den Herausgebern erst chronologisch anzuordnenden Texten zu tun haben, die das Tagebuchkonzept doch ein wenig in Frage stellen. Am Ende soll das Liedertagebuch acht Bände umfassen. Nimmt man den jetzt erschienenen Band als Norm, so ergibt die Hochrechnung allerdings, daß für zehntausend Gedichte 25 Bände erforderlich sein werden. Rechnet man ab, daß im vorliegenden Band noch eine kleine Abteilung "Briefe" zu finden ist, die es nicht in jedem Lieder-Band geben wird, bleiben überschlagsmäßig immer noch zwanzig Bände übrig. Die Gesamtplanung der Ausgabe, von der bisher drei Bände (aus verschiedenen Lebensabschnitten und ohne Bandzählung) erschienen sind, scheint noch ziemlich nebulös zu sein. Der Verlag spricht von etwa vierzig Bänden, die zu erwarten seien, im Verlauf von wahrscheinlich nicht wenigen Jahren. Aber vielleicht werden es auch sechzig, wenn die Sponsoren mitmachen, deren eindrucksvolle Tafel die letzten Seiten der geschmackvoll ausgestatteten Bände ziert.
Im Jahr 1846 ist Rückert Professor für Orientalistik in Berlin und hält vor drei Hörern ein Kolleg über die ältesten arabischen Volkslieder. Er ist berühmt, will aber von der Welt nichts wissen, meidet insbesondere den König von Preußen, der ihn ehrenhaft berufen hatte und seine Abendgeselligkeiten gern mit ihm geschmückt hätte. Kränklich und bedrückt, erbittet der Gefeierte Urlaub, erhält ihn und verbringt den Winter 1846/47 in Neusäß bei Coburg, wo die meisten Gedichte des Bandes entstehen. Eine Art Altersmelancholie hat ihn erfaßt. Die von ihr ausgehende Handlungshemmung erfaßt aber nur sein äußeres, nicht sein inneres Leben; er zieht sich aus der Gesellschaft fast völlig zurück, schreibt aber Gedicht um Gedicht. Freilich merkt man dieser Lyrik an, daß ihm das Publikum völlig gleichgültig geworden ist. Er dichtet vor sich hin, wo er geht und steht, zur eigenen Befriedigung, und genießt die Freiheit von Qualitätsansprüchen. Er dichtet viel Holpriges, Banales, unrein oder gewaltsam Gereimtes, voll von unreifen Halb-Ideen und unausgegorenen Reflexiönchen, freilich dazwischen auch Stücke mit strengstem, wenn auch gequältem Formanspruch:
"Du bist die seufzendste der Kreaturen, / Die je geseufzt in Lebens Todesreichen. / Die Morgen- und die Abendsegen fuhren / Zum Himmel als Erlösungsfragezeichen / In Seufzerform; Du seufzest, wenn an Huren / Du denkst, und seufzest, wenn du denkst an Leichen. / Die Atemzüge gehn auf Seufzerspuren, / Und auch die Winde seufzen, die dir streichen."
Rückert muß sehr einsam gewesen sein. Die Gedichte spiegeln so gut wie nie die Gesellschaft. Die meisten handeln der Jahreszeit folgend von Blumen, Vögeln oder Schnee. Des Sohnes Agrikulturstudien spiegeln sich in einigen Gedichten über Chemie, dazu kommt gelegentlich biedermeierlich Humoristisches über Berliner contra Neusäßer Öfen und über des Pfarrers Metzelsupp. Politisches ist ganz selten (ein Gedicht gegen die dänischen Ansprüche auf Schleswig-Holstein), Religiöses gibt es fast gar nicht, nicht einmal an Weihnachten. Rückert kam mit Festen nicht zurecht: "Auch wie andre Lebensgäste / Feiert' ich wohl meine Feste, / Aber selten auf den Tag, / Wo eins anberaumet lag. // Oft wie ungeduld'ge Gäste / Kam ich vor dem Fest zum Feste, / Oder kam zum Festnachtrag, / Niemals auf den rechten Tag" (Heiligabend 1846).
Ob die Sachen gut sind oder schlecht, ist umstritten seit anderthalb Jahrhunderten. Ab und zu ein Gulden in der Sahara, urteilte Peter von Matt über einen früheren Band. Die Herausgeber Rudolf Kreutner und Hans Wollschläger sind vom Gegenteil überzeugt, aber sie sprechen natürlich auch pro domo, wenn sie vorschlagen, das Liedertagebuch "als das größte geschlossene Poesiewerk des neunzehnten Jahrhunderts" und als "ein Alterswerk exemplarischer Art" zu erkennen. Die ersten Stippvisiten im Lande dieser Lyrik wirken befremdend, ein trivialer Reimeschmied scheint am Werk, der ohne Selbstkontrolle jeden Satz, der ihm durch den Kopf geht, zu Papier bringt. Er reimte schneller, als er denken konnte. Liest man länger, teilt sich jedoch noch etwas anderes, Tieferes mit - jene Verschlossenheit des Alternden, die zugleich Bedürfnislosigkeit und Lässigkeit ist, eine Gleichgültigkeit gegenüber dem Publikum, die etwas Souveränes hat, ein halb schlampiges, halb überlegenes Ist-doch-egal, eine Freiheit von jeglicher Ruhmsucht, ein Abschied von der Welt, der noch einmal das "Alles ist eitel" des Predigers Salomo orchestriert - und einem den brummigen Schwarzseher doch irgendwie sympathisch macht.
HERMANN KURZKE
Friedrich Rückert: "Liedertagebuch". Werke der Jahre 1846-1847. Erster Band. Herausgegeben von Rudolf Kreutner und Hans Wollschläger. Wallstein Verlag, Göttingen 2001. 443 S., geb., 59,-
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Rolf Vollmann hält das nun verwirklichten Projekt (es ist wohl in erster Linie das des Mitherausgebers Hans Wollschläger) einer Gesamtausgabe von Friedrich Rückerts Werken, damit hält er nicht hinter dem Berg, für eine Art editorischer Schnapsidee. Und doch, meint er, lohnt sie sich für das zuvor unpublizierte, nun nach und nach veröffentlichte Alterswerk aus den letzten zwanzig Lebensjahren des da schon weitgehend zurückgezogen lebenden und eben unaufhörlich - und an der Mitwelt vorbei - dichtenden Autors. Dabei ist es, so Vollmann, gar nicht so, dass hier einzelne Perlen auf höchstem Niveau funkelten. Vielmehr sei es das so reizend Verrückte und Monomanische des Unternehmens, das Alles-Bedichten-Müssen (von der zu kurzen Bettdecke bis zum zahnlosen Gebiss), das zur reichen Bescherung dieses "wundervoll gelassenen Durcheinanders" führt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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