Die »deutsche Revolution« von 1848 konnte den einstigen Freiheitskriegspoeten Rückert nicht unberührt lassen; entsprechend tiefe Spuren hat sie im »Liedertagebuch«, dem Altersprotokoll seines Lebens, hinterlassen.In eher zufälliger Koinzidenz verließ er am Vorabend der Unruhen die preußische Residenzstadt, um sich im abgeschiedenen Neuses von der nur noch bedrückenden Lehrpflicht des Semesters zu erholen; es sollte sein letztes sein, und er kehrte nie mehr nach Berlin zurück. Aber aus der Beschaulichkeit der Provinz begleitete er in ungebrochener Teilnahme die Ereignisse, die Europa in seinen Grundfesten erschütterten: Die Berliner Barrikadenkämpfe erschienen ihm - wie die gesamte Revolution - als notwendiges, die politische Atmosphäre reinigendes Gewitter, um das zersplitterte Deutschland auf den Weg zur Einheit zu bringen. Hoch waren seine Erwartungen an Friedrich Wilhelm IV., in dem er enthusiastisch den künftigen deutschen Kaiser sah. Mit dessen Ablehnung der ihm von der Frankfurter Nationalversammlung angebotenen Kaiserkrone im April 1849 mußte aber auch er enttäuscht erkennen, daß mit den deutschen Fürsten weder Freiheit noch Einheit ins Land ziehen würden. Der alternde Rückert begrub in der Folge sämtliche politischen Hoffnungen und nahm gegenüber der politischen Kaste Deutschlands eine zunehmend feindselige Haltung ein, die sich im hohen Alter zum offenen Jakobinertum auswachsen sollte.Fast alle Texte erscheinen - nach über 150 Jahren - hier erstmals im Druck. Der editorische Bericht enthält die Entstehungsgeschichte und die Darstellung sämtlicher Quellen.Zur »Schweinfurter Edition«:In einer von der Rückert-Gesellschaft initiierten und sorgfältig edierten Ausgabe wird unter der Herausgeberschaft Hans Wollschlägers und Rudolf Kreutners Rückerts Hauptwerk nun wieder zugänglich gemacht.Preis bei Abnahme der ganzen Reihe: EUR (D) 52,-; EUR (A) 53,50
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.08.2005Weltgespräch beim Schmaus
Großtat: Friedrich Rückerts Werke in der Schweinfurter Edition
Hand aufs Herz, liebe Germanisten, Freunde des Kanons und der Klassiker, liebe Anhänger der Weltliteratur und Allesleser: Wann haben Sie zuletzt Rückert gelesen? Wenn der Rezensent raten darf: In den dreißiger und vierziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts! So lange liegt die große Zeit Rückerts nämlich zurück - wenn es sie denn je gab. Und doch haben wir vielleicht alle einmal Rückert gelesen: Wenn wir die Perser Rumi und Hafis lasen, die klassischen arabischen Dichter und die Makamen des Hariri, die dank Rückert eigenständige deutsche Werke sind, oder seine erst vor kurzem aus dem Nachlaß herausgegebene Koranübersetzung. Wir blättern in diesem Koran und entdecken Verse, wie für die Muslime von heute gesprochen: "Kein Antrieb soll euch sein der Haß von Leuten, / die euch wegdrängen vom geweihten Bethaus, / Daß ihr auch sie beleidigt. Helft einander / Zur Frömmigkeit und Gottesfurcht, doch helfet / Einander nicht zu Frevel und Feindseligkeit."
Als Wegbereiter des Multikulturalismus, als Anhänger einer wertindifferenten Durchmischung der Kulturen wird Rückert jedoch nicht herhalten können. Er war ein entschiedener Patriot, wie es sein "Liedertagebuch" auf vielen hundert Seiten belegt. Am 17. Mai 1848, einen Tag bevor die Nationalversammlung in der Paulskirche erstmals zusammenkam, schrieb er: "Oh ihr Volksvertreter, / die ihr heut in Frankfurt tagt / (...) Nicht an eigne Kleinheit, / An die Geister Deutschlands denkt! / Schenkt uns Deutschlands Einheit, / Und die Welt ist uns geschenkt." Das wäre, ersetzte man Frankfurt nur durch Berlin, auch in diesen Tagen einmal ein gutes Wahlprogramm, klänge die "uns geschenkte Welt" nicht ein wenig nach Weltmachtallüren. Doch Rückert dürfte es metaphorisch verstanden haben. Die geschenkte Welt war für ihn vor allem die Weltpoesie. Schon in seiner Dissertation von 1811, Rückert war damals dreiundzwanzig Jahre alt, findet sich die Vorstellung, daß die deutsche Sprache der ideale Träger der Weltliteratur sei, weil man ins Deutsche besonders gut übersetzen könne. "Es ist mein Volk, das große / Das sendet täglich aus / Die Söhn' aus seinem Schoße, / Zu führen in sein Haus / Die Völker aller Zungen, / Und wunderbar erklungen / ist da ein Weltgespräch beim Schmaus", heißt es in einem der Einleitungsgedichte zu Rückerts endlich wieder komplett greifbarer Übersetzung der altarabischen Heldenlieder, der Hamâsa.
Die im Wallstein Verlag erscheinende historisch-kritische Ausgabe, die "Schweinfurter Edition", ist der erste Versuch überhaupt, Rückert so ernst zu nehmen, wie er es verdient. Die Auswahlausgaben, selbst die verdienstvolle zweibändige von Annemarie Schimmel bei Insel, und die hier und da verstreuten, oft willkürlich gekürzten Nachdrucke seiner Übersetzungen haben das Werk des gebürtigen Schweinfurters wie einen Steinbruch behandelt, aus dem man sich nach Belieben bedienen kann. Die literarischen Spolien sind hübsch, gewiß; doch von dem Gesamtgebäude, in dem sie einst standen und ihren spezifischen Zweck erfüllten, verraten sie nichts mehr.
Das von Hans Wollschläger und Rudolf Kreutner mit wechselnden Fachleuten herausgegebene Unternehmen ist deshalb eine philologische, historische und nicht zuletzt literarische Großtat, die von der "lieben Stadt mit dem garstigen Namen", wie Rückert Schweinfurt einmal nannte, klug und großzügig unterstützt wird. Zwar könnten Rückerts "Kindertotenlieder", heute fast nur durch die Vertonung Mahlers bekannt, und "Die Weisheit des Brahmanen" deutlich verbreiteter sein. Aber letztlich ist Rückert für große Jubiläen, wie man sie unlängst mit Schiller und Canetti erlebt hat, zu spröde. Er hat Wege im Umgang mit der deutschen Sprache beschritten, die nach ihm, von ein paar dichtenden Orientalisten abgesehen, leider kaum mehr jemand gegangen ist. Es sind die Traum-, nicht die Trampelpfade des Deutschen, die Rückert für seine Leser bahnt, Traumpfade auch insofern, als sie in traumhaft ferne und fremde Welten entführen.
Eine ausführliche Kostprobe dieser Kunst bieten die über tausend Seiten der von dem Erlanger Arabisten Wolfdietrich Fischer mustergültig betreuten Hamâsa-Edition. In seiner Beschäftigung mit dieser in der Blütezeit der arabischen Literatur von dem Dichter Abu Tammam (gestorben 845) zusammengestellten Anthologie früher arabischer Gedichte und Gedichtfragmente unternimmt Rückert es, aus dem Fremdesten das Eigenste zu machen, nämlich deutsche Gedichte. Vielfach gelingt dies, vor allem, was die sprachliche und formale Seite der Übersetzungen betrifft. Selbst wenn Rückert sich anschickt, die komplizierten arabischen Versmaße nachzuahmen (deren Schema er dann immer mit angibt), stimmen Reim und Rhythmus, beginnt es zu klingen: "Nie stör im Wolleben dich und in behaglicher Ruh / der Seele sehnsüchtiges Weh nach Volk und Heimatland! / An jedem Ort findest du, wo du dich niedergetan, / Hausvolk für Hausvolk, und Nachbarswand für Nachbarswand."
Allerdings sind nicht alle Hamâsa-Gedichte so eingängig wie diese hübsche Beduinenweisheit. Für Rückert kein Problem. In der Poesie, gleich was darinsteht, lebt für ihn der Keim der paradiesischen Ursprache fort: "Und ob sie dumpf im Wüstenglutwind stöne, / es sind auch hier des Paradieses Töne", heißt es in der selbstverfaßten "Ermutigung zur Übersetzung der Hamâsa". Folglich überträgt er ungeachtet des für unser Gefühl vielfach unpoetischen Inhalts: "Uns brodeln große Stücke Fleisch in Füll in Wolgedeihn; / manch andere kochen ihre Schmach in Kinderschüßelein." Diese Art des Selbstlobs, eines der in der arabischen Dichtung am häufigsten anzutreffenden Motive und für westliche Leser besonders befremdend, fängt Rückert durch die humorvolle Formulierung am Ende des Verses geschickt auf. Zwei Verse weiter endet dasselbe Gedicht martialisch: "Wir schirmen unsren eignen Hag, und unsere Lanze frägt / danach nicht, was ein andres Volk für sich hat eingehegt." Politisch korrekt dachten die alten Araber nicht, soviel ist klar. Zu Rückerts Zeiten ließen sich solche Verse jedoch vermutlich nationalistisch deuten, und es zählt zur Taktik von Rückerts Eindeutschung, mit einer solchen Lesart zu kokettieren. Nicht zuletzt diese Subtexte machen die Lektüre über das hinaus spannend, was über die alten Araber vermittelt wird.
Daß die meisten Texte der Hamâsa nichtsdestoweniger gewöhnungsbedürftig sind, hat Rückert geahnt und entsprechend viele Anmerkungen beigefügt, oft hilfreiche, manches Mal kuriose. Aber als die verdeutschte Hamâsa 1846, nach zwanzig Jahren Beschäftigung mit der Anthologie, erschien, war Deutschland, selbst das literarische, viel zu sehr mit sich selber beschäftigt, um für die "Paradieses Töne" aus aller Welt noch ein Ohr zu haben. Die Übersetzung wurde kaum wahrgenommen. Rückert selbst war nicht unschuldig daran, hatte er doch die Fertigstellung des Projekts viel zu lange verzögert und darauf verzichtet, eine Einführung zu schreiben (was Wolfdietrich Fischer in der vorliegenden Ausgabe dankenswerterweise nachholt).
Trotz der beachtlichen philologischen (eben nicht nur dichterischen) Leistung Rückerts blieb sogar in der Fachwelt das Echo schwach, da die deutsche Orientalistik, anders als Rückert selbst, die alten arabischen Texte nie als Literatur, sondern nur als philologische Dokumente betrachtete. Mit der vorliegenden Ausgabe der Hamâsa dürfte sich auch das ändern. Wie sehr nämlich heute einer wie Rückert fehlt, mag man schon daran ablesen, daß die klassische arabische Poesie, anders übrigens als die moderne, derzeit in kaum einer deutschen Publikation greifbar ist. Und daß in Zeiten, in denen Terrorismus und Haßprediger das Mißtrauen zwischen Religionen und Ethnien wieder auflodern lassen wollen, emphatische Nachdichter und literarische Paradiesvögel dringender gebraucht werden denn je, wem brauchen wir das zu sagen?
STEFAN WEIDNER
Friedrich Rückert: "Hamâsa oder die ältesten arabischen Volkslieder". Schweinfurter Edition. Gesammelt von Abu Temmâm. Bearbeitet von Wolfdietrich Fischer. Wallstein Verlag, Göttingen 2004. 2 Bde., 1169 S., geb., 99,- [Euro].
Friedrich Rückert: "Liedertagebuch". Band III/IV (Werke 1848-1849), 560 S., geb., 62,- [Euro]. Band V/VI (Werke 1850-1851), 424 S., geb., 56,- [Euro]. Bearbeitet von Rudolf Kreutner und Hans Wollschläger. Beide Schweinfurter Edition. Wallstein Verlag, Göttingen 2002 und 2003.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Großtat: Friedrich Rückerts Werke in der Schweinfurter Edition
Hand aufs Herz, liebe Germanisten, Freunde des Kanons und der Klassiker, liebe Anhänger der Weltliteratur und Allesleser: Wann haben Sie zuletzt Rückert gelesen? Wenn der Rezensent raten darf: In den dreißiger und vierziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts! So lange liegt die große Zeit Rückerts nämlich zurück - wenn es sie denn je gab. Und doch haben wir vielleicht alle einmal Rückert gelesen: Wenn wir die Perser Rumi und Hafis lasen, die klassischen arabischen Dichter und die Makamen des Hariri, die dank Rückert eigenständige deutsche Werke sind, oder seine erst vor kurzem aus dem Nachlaß herausgegebene Koranübersetzung. Wir blättern in diesem Koran und entdecken Verse, wie für die Muslime von heute gesprochen: "Kein Antrieb soll euch sein der Haß von Leuten, / die euch wegdrängen vom geweihten Bethaus, / Daß ihr auch sie beleidigt. Helft einander / Zur Frömmigkeit und Gottesfurcht, doch helfet / Einander nicht zu Frevel und Feindseligkeit."
Als Wegbereiter des Multikulturalismus, als Anhänger einer wertindifferenten Durchmischung der Kulturen wird Rückert jedoch nicht herhalten können. Er war ein entschiedener Patriot, wie es sein "Liedertagebuch" auf vielen hundert Seiten belegt. Am 17. Mai 1848, einen Tag bevor die Nationalversammlung in der Paulskirche erstmals zusammenkam, schrieb er: "Oh ihr Volksvertreter, / die ihr heut in Frankfurt tagt / (...) Nicht an eigne Kleinheit, / An die Geister Deutschlands denkt! / Schenkt uns Deutschlands Einheit, / Und die Welt ist uns geschenkt." Das wäre, ersetzte man Frankfurt nur durch Berlin, auch in diesen Tagen einmal ein gutes Wahlprogramm, klänge die "uns geschenkte Welt" nicht ein wenig nach Weltmachtallüren. Doch Rückert dürfte es metaphorisch verstanden haben. Die geschenkte Welt war für ihn vor allem die Weltpoesie. Schon in seiner Dissertation von 1811, Rückert war damals dreiundzwanzig Jahre alt, findet sich die Vorstellung, daß die deutsche Sprache der ideale Träger der Weltliteratur sei, weil man ins Deutsche besonders gut übersetzen könne. "Es ist mein Volk, das große / Das sendet täglich aus / Die Söhn' aus seinem Schoße, / Zu führen in sein Haus / Die Völker aller Zungen, / Und wunderbar erklungen / ist da ein Weltgespräch beim Schmaus", heißt es in einem der Einleitungsgedichte zu Rückerts endlich wieder komplett greifbarer Übersetzung der altarabischen Heldenlieder, der Hamâsa.
Die im Wallstein Verlag erscheinende historisch-kritische Ausgabe, die "Schweinfurter Edition", ist der erste Versuch überhaupt, Rückert so ernst zu nehmen, wie er es verdient. Die Auswahlausgaben, selbst die verdienstvolle zweibändige von Annemarie Schimmel bei Insel, und die hier und da verstreuten, oft willkürlich gekürzten Nachdrucke seiner Übersetzungen haben das Werk des gebürtigen Schweinfurters wie einen Steinbruch behandelt, aus dem man sich nach Belieben bedienen kann. Die literarischen Spolien sind hübsch, gewiß; doch von dem Gesamtgebäude, in dem sie einst standen und ihren spezifischen Zweck erfüllten, verraten sie nichts mehr.
Das von Hans Wollschläger und Rudolf Kreutner mit wechselnden Fachleuten herausgegebene Unternehmen ist deshalb eine philologische, historische und nicht zuletzt literarische Großtat, die von der "lieben Stadt mit dem garstigen Namen", wie Rückert Schweinfurt einmal nannte, klug und großzügig unterstützt wird. Zwar könnten Rückerts "Kindertotenlieder", heute fast nur durch die Vertonung Mahlers bekannt, und "Die Weisheit des Brahmanen" deutlich verbreiteter sein. Aber letztlich ist Rückert für große Jubiläen, wie man sie unlängst mit Schiller und Canetti erlebt hat, zu spröde. Er hat Wege im Umgang mit der deutschen Sprache beschritten, die nach ihm, von ein paar dichtenden Orientalisten abgesehen, leider kaum mehr jemand gegangen ist. Es sind die Traum-, nicht die Trampelpfade des Deutschen, die Rückert für seine Leser bahnt, Traumpfade auch insofern, als sie in traumhaft ferne und fremde Welten entführen.
Eine ausführliche Kostprobe dieser Kunst bieten die über tausend Seiten der von dem Erlanger Arabisten Wolfdietrich Fischer mustergültig betreuten Hamâsa-Edition. In seiner Beschäftigung mit dieser in der Blütezeit der arabischen Literatur von dem Dichter Abu Tammam (gestorben 845) zusammengestellten Anthologie früher arabischer Gedichte und Gedichtfragmente unternimmt Rückert es, aus dem Fremdesten das Eigenste zu machen, nämlich deutsche Gedichte. Vielfach gelingt dies, vor allem, was die sprachliche und formale Seite der Übersetzungen betrifft. Selbst wenn Rückert sich anschickt, die komplizierten arabischen Versmaße nachzuahmen (deren Schema er dann immer mit angibt), stimmen Reim und Rhythmus, beginnt es zu klingen: "Nie stör im Wolleben dich und in behaglicher Ruh / der Seele sehnsüchtiges Weh nach Volk und Heimatland! / An jedem Ort findest du, wo du dich niedergetan, / Hausvolk für Hausvolk, und Nachbarswand für Nachbarswand."
Allerdings sind nicht alle Hamâsa-Gedichte so eingängig wie diese hübsche Beduinenweisheit. Für Rückert kein Problem. In der Poesie, gleich was darinsteht, lebt für ihn der Keim der paradiesischen Ursprache fort: "Und ob sie dumpf im Wüstenglutwind stöne, / es sind auch hier des Paradieses Töne", heißt es in der selbstverfaßten "Ermutigung zur Übersetzung der Hamâsa". Folglich überträgt er ungeachtet des für unser Gefühl vielfach unpoetischen Inhalts: "Uns brodeln große Stücke Fleisch in Füll in Wolgedeihn; / manch andere kochen ihre Schmach in Kinderschüßelein." Diese Art des Selbstlobs, eines der in der arabischen Dichtung am häufigsten anzutreffenden Motive und für westliche Leser besonders befremdend, fängt Rückert durch die humorvolle Formulierung am Ende des Verses geschickt auf. Zwei Verse weiter endet dasselbe Gedicht martialisch: "Wir schirmen unsren eignen Hag, und unsere Lanze frägt / danach nicht, was ein andres Volk für sich hat eingehegt." Politisch korrekt dachten die alten Araber nicht, soviel ist klar. Zu Rückerts Zeiten ließen sich solche Verse jedoch vermutlich nationalistisch deuten, und es zählt zur Taktik von Rückerts Eindeutschung, mit einer solchen Lesart zu kokettieren. Nicht zuletzt diese Subtexte machen die Lektüre über das hinaus spannend, was über die alten Araber vermittelt wird.
Daß die meisten Texte der Hamâsa nichtsdestoweniger gewöhnungsbedürftig sind, hat Rückert geahnt und entsprechend viele Anmerkungen beigefügt, oft hilfreiche, manches Mal kuriose. Aber als die verdeutschte Hamâsa 1846, nach zwanzig Jahren Beschäftigung mit der Anthologie, erschien, war Deutschland, selbst das literarische, viel zu sehr mit sich selber beschäftigt, um für die "Paradieses Töne" aus aller Welt noch ein Ohr zu haben. Die Übersetzung wurde kaum wahrgenommen. Rückert selbst war nicht unschuldig daran, hatte er doch die Fertigstellung des Projekts viel zu lange verzögert und darauf verzichtet, eine Einführung zu schreiben (was Wolfdietrich Fischer in der vorliegenden Ausgabe dankenswerterweise nachholt).
Trotz der beachtlichen philologischen (eben nicht nur dichterischen) Leistung Rückerts blieb sogar in der Fachwelt das Echo schwach, da die deutsche Orientalistik, anders als Rückert selbst, die alten arabischen Texte nie als Literatur, sondern nur als philologische Dokumente betrachtete. Mit der vorliegenden Ausgabe der Hamâsa dürfte sich auch das ändern. Wie sehr nämlich heute einer wie Rückert fehlt, mag man schon daran ablesen, daß die klassische arabische Poesie, anders übrigens als die moderne, derzeit in kaum einer deutschen Publikation greifbar ist. Und daß in Zeiten, in denen Terrorismus und Haßprediger das Mißtrauen zwischen Religionen und Ethnien wieder auflodern lassen wollen, emphatische Nachdichter und literarische Paradiesvögel dringender gebraucht werden denn je, wem brauchen wir das zu sagen?
STEFAN WEIDNER
Friedrich Rückert: "Hamâsa oder die ältesten arabischen Volkslieder". Schweinfurter Edition. Gesammelt von Abu Temmâm. Bearbeitet von Wolfdietrich Fischer. Wallstein Verlag, Göttingen 2004. 2 Bde., 1169 S., geb., 99,- [Euro].
Friedrich Rückert: "Liedertagebuch". Band III/IV (Werke 1848-1849), 560 S., geb., 62,- [Euro]. Band V/VI (Werke 1850-1851), 424 S., geb., 56,- [Euro]. Bearbeitet von Rudolf Kreutner und Hans Wollschläger. Beide Schweinfurter Edition. Wallstein Verlag, Göttingen 2002 und 2003.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Als "philologische, historische und nicht zuletzt literarische Großtat" ehrt Rezensent Stefan Weidner die historisch-kritische Ausgabe der Schweinfurther Edition von Friedrich Rückerts Werken. Außerdem stellt er fest, dass es sich bei dieser Edition um den "ersten Versuch überhaupt" handelt, Friedrich Rückert ernst zu nehmen. Denn statt in Auswahlausgaben Rückerts Werk "wie einen Steinbruch" zu behandeln, gebe sie den Blick auf dessen Gesamtgebäude frei. In Rückerts Literatur sieht der Rezensent die "Traumpfade" des Deutschen gebahnt, der den Leser "in traumhaft ferne und fremde Welten entführt" habe. Auch hat ihm Rückert "auf vielen hundert Seiten" belegt, dass er ein "entschiedener Patriot" gewesen ist.
© Perlentaucher Medien GmbH
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