Produktdetails
- Verlag: Canongate Books / Import
- Seitenzahl: 319
- Englisch
- Abmessung: 215mm
- Gewicht: 420g
- ISBN-13: 9781841952833
- Artikelnr.: 24148708
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 17.02.2003Haarlose Christen, bärtige Hindus, Muslime mit Hut
Aber vor dem Herrn sind alle nackt: Yann Martels Roman „Schiffbruch mit Tiger”
Zunächst muss gesagt werden, dass dieses Buch wunderbar übersetzt worden ist. Keine Stelle, über die man stolpert, und wenn man stolpert, weiß man, dass man stolpern soll. Dazu die Recherche, von der man als Leser nichts ahnt, die aber zu jeder Übersetzung gehört und die in diesem Fall theologische, zoologische und nautische Fachbegriffe umfasst – womit wir auch schon beim Roman selbst wären, denn „Schiffbruch mit Tiger” kreist um den Glauben, die Tiere und das Meer.
Hierzulande ist der Autor, Yann Martel, Jahrgang 1963 und in Montreal ansässig, noch unbekannt, obgleich der vorliegende Roman, für den er 2002 den Booker Prize erhielt, bereits sein dritter ist. Der Klappentext weist darauf hin, dass Martel der Sohn von Diplomaten ist, was man dankbar zur Kenntnis nimmt, weil es den weltenbummelnden Lebenslauf erklärt, was aber zugleich befremdet, denn wäre er ein Beamten- oder Arbeitersohn, so hätte man dies wohl kaum einer Erwähnung für Wert befunden. Also: Yann Martel, ein Diplomatensohn mit Philosophiestudium, und „Schiffbruch mit Tiger”, sein Durchbruchsroman.
Der gut beginnt. In einer selbstironischen Vorbemerkung beschreibt der Autor, wie er nach Indien aufbricht, um dort seinen dritten Roman zu schreiben, ein Roman, der 1939 in Portugal spielen soll. Doch wie es beim Schreiben so ist, wird nichts aus dem anvisierten Werk. Statt dessen stößt der Autor auf einen alten indischen Herrn, der ihm sagt: „Ich habe eine Geschichte, die Ihnen den Glauben an Gott geben wird.” Und diese Geschichte lässt sich der Autor dann vom Protagonisten selbst erzählen – der altbewährte Trick fiktiver Authentizität. Der Name des Protagonisten lautet Pi Patel (trotzdem Inder!), und seine Geschichte handelt davon, dass er als Jugendlicher nach einem Schiffbruch gemeinsam mit einem Königstiger über den Pazifik treibt.
Um diese ungewöhnliche Situation zu erklären, ja überhaupt erst herbeizuführen, holt Martel hundert Seiten lang aus, und diese hundert Seiten sind in mancher Hinsicht ein Vergnügen, und in mancher Hinsicht sind sie Schwarzbrot. Wer sich über das Verhalten von Zootieren kundig machen möchte, kann das hier tun, und dasselbe gilt für Leser mit religiösen Interessen: Der Vater Pi Patels ist Zoobesitzer im indischen Pondicherry, und Pi selbst ist ein Junge mit Glaubensheißhunger. Ob Hinduismus, Islam oder Christentum, alles übt er aus, denn: „Hindus, in ihrer großen Liebe zu allen Geschöpfen, sind tatsächlich haarlose Christen, genau wie Muslims, die Gott in allen Dingen sehen, bärtige Hindus sind, und Christen in ihrer Gottesfürchtigkeit sind Muslims mit Hut.” In einer Zeit wie dieser hört man solche Botschaft gern, nur trägt Martel sie derart platt und aufdringlich vor, dass einem manchmal Sehen und Lesen vergeht. Jedoch: Nach diesen ersten hundert Seiten weiß man, dass Pi ein allumfassend gläubiger Junge ist, der sich gut mit Tieren auskennt, und letzteres wird er bitter nötig haben.
Allein auf dem Boot
Denn als sich der Vater entschließt, den Zoo aufzulösen und mit der Familie nach Kanada auszuwandern – und einen Teil der Tiere mitnimmt –, sinkt das Schiff, und mit ihm sinken Pi Patels Eltern und Bruder. Durch Zufall landet Pi als einziger auf einem Rettungsboot, auf dem allerdings auch ein Zebra, eine Tüpfelhyäne, ein Orang-Utan-Weibchen und der besagte Königstiger landen. Ein frisch gebackenes Waisenkind treibt also, jeglichen Schutzes beraubt und Raubtieren und Elementen ausgesetzt, über den Pazifik. Eine durchaus parabelhafte Situation, und natürlich kommte es, wie es kommen muss: Die Hyäne reißt Zebra und Orang-Utan, und der Tiger reißt die Hyäne, und dann ist Pi Patel mit dem Tiger allein. Auf dem Boot. Auf dem Meer.
Zum Glück ist Pi ein pfiffiges Bürschlein, und manchmal mag man kaum glauben, dass er erst sechzehn Jahre alt ist. Aus Schwimmwesten baut er sich ein Floß, das er hinten an das Boot hängt, um Fang und Krallen zu entgehen, geschickt geht er mit Angel und Solardestillen um und zeigt dem Tiger schließlich auch noch, wer das Alphatier an Bord ist. Martel spart nicht mit Schrecken: Hunger, Durst, Lebensgefahr durch Raubtiere, Kannibalismus, ja selbst fleischfressende Flora – alles muss Pi Patel erleiden (und vollziehen), bis er nach monatelanger Odyssee in Mexiko landet.
Nach dem relativ behaglichen Leben in Pondicherry, mit multikulturellem Glaubenshunger, liebevollem Elternhaus, Wohlstand und sicher verwahrten wilden Tieren, schickt der Autor seinen Protagonisten also in die Wasserwüste des Pazifik. Ganz auf sich selbst zurückgeworfen initiiert sich der Junge selbst in die Realität des täglichen Daseinskampfes. Seine tote Familie vergisst er rasch, und auch der Glaube, von Martel im ersten Teil des Romans zu einer Riesenkulisse aufgebaut, versinkt in den Fluten. Sicher: Pi Patel, der nach seiner Rettung bei Verwandten in Kanada lebt und Religionswissenschaften und Zoologie studiert, bleibt ein tief gläubiger Mensch, in dessen Wohnung Gebetsteppich, Marienbild und Hindugötter friedlich vereint sind. Doch nicht der Glaube hat ihn vor dem Tod auf See bewahrt, sondern sein praktischer Verstand. Er hat überlebt, und er ist derselbe geblieben, der er vor dem Unglück war. Kein Scheitern also und auch keine Veränderung. Da fragt man sich, warum ihn der Autor den Schrecken des Schiffbruchs aussetzt. Natürlich besteht der Reiz dieses Romans im Nebeneinander von Zoologie und Religion, der Kreatur und dem Göttlichen, von Fressen-und-Gefressen-werden und Gebet, aber leider bleibt es bei diesem Nebeneinander, das weder Spannung erzeugt noch Reibung bewirkt und letztendlich folgenlos bleibt. Martel belädt das Rettungsboot statt dessen mit Bedeutungslast: Pi Patel steht gleichsam (und irgendwann wortwörtlich) nackt vor dem Herrn – vor der schrecklichen Schönheit der Götter bzw. deren Schöpfung, die sich in ungebändigten Naturgewalten verkörpert. Vom Gotteshaus stürzt der indische Junge ins Chaos der Schöpfung selbst.
Ja, „Schiffbruch mit Tiger” ist ein Roman, an dem sich wunderbar heruminterpretieren lässt, doch fehlt ihm jene Dimension, die, um nur zwei Beispiele zu nennen, Conrads „Heart of Darkness” oder Goldings „Lord of the Flies” so eindrücklich sein lässt: die Dimension des Erschreckens und zwar sowohl das Erschrecken des Lesers als auch das der Protagonisten. Martel beschreibt weniger eindrücklich als genau, und trotz aller Gefahren, die dem Schiffbrüchigen drohen, hat man nie das Gefühl, als stünde wirklich etwas auf Messers Schneide.
Noch eine Odyssee
Ärgerlich ist der dritte und letzte Teil des Romans. Pi Patel, in Mexiko im Krankenhaus liegend, erzählt zwei japanischen Sachverständigen, die nach den Gründen für das Schiffsunglück forschen, die Geschichte mit dem Tiger für unglaubwürdig halten (und im übrigen für eine etwas plumpe Komik sorgen), eine zweite und ganz andere Version seiner Odyssee. Mit dieser Relativierung – einer Fiktion innerhalb einer Fiktion – wird dem Roman die letzte Spitze genommen. Ein Rätsel bleibt, was Martel hierzu veranlasst hat, denn das Schöne an „Schiffbruch mit Tiger” ist, dass man alles darin – ganz gleich wie seltsam es sei – akzeptiert.
Und vielleicht gibt es ja sogar den einen oder anderen Leser, dem dieser Roman, wie Martel seinen alten, indischen Herrn in der Vorbemerkung verkünden lässt, den Glauben an Gott schenkt.
HENNING AHRENS
YANN MARTEL: Schiffbruch mit Tiger. Roman. Aus dem Englischen von Manfred Allié und Gabriele Kempf-Allié. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2003. 382 Seiten, 19,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Aber vor dem Herrn sind alle nackt: Yann Martels Roman „Schiffbruch mit Tiger”
Zunächst muss gesagt werden, dass dieses Buch wunderbar übersetzt worden ist. Keine Stelle, über die man stolpert, und wenn man stolpert, weiß man, dass man stolpern soll. Dazu die Recherche, von der man als Leser nichts ahnt, die aber zu jeder Übersetzung gehört und die in diesem Fall theologische, zoologische und nautische Fachbegriffe umfasst – womit wir auch schon beim Roman selbst wären, denn „Schiffbruch mit Tiger” kreist um den Glauben, die Tiere und das Meer.
Hierzulande ist der Autor, Yann Martel, Jahrgang 1963 und in Montreal ansässig, noch unbekannt, obgleich der vorliegende Roman, für den er 2002 den Booker Prize erhielt, bereits sein dritter ist. Der Klappentext weist darauf hin, dass Martel der Sohn von Diplomaten ist, was man dankbar zur Kenntnis nimmt, weil es den weltenbummelnden Lebenslauf erklärt, was aber zugleich befremdet, denn wäre er ein Beamten- oder Arbeitersohn, so hätte man dies wohl kaum einer Erwähnung für Wert befunden. Also: Yann Martel, ein Diplomatensohn mit Philosophiestudium, und „Schiffbruch mit Tiger”, sein Durchbruchsroman.
Der gut beginnt. In einer selbstironischen Vorbemerkung beschreibt der Autor, wie er nach Indien aufbricht, um dort seinen dritten Roman zu schreiben, ein Roman, der 1939 in Portugal spielen soll. Doch wie es beim Schreiben so ist, wird nichts aus dem anvisierten Werk. Statt dessen stößt der Autor auf einen alten indischen Herrn, der ihm sagt: „Ich habe eine Geschichte, die Ihnen den Glauben an Gott geben wird.” Und diese Geschichte lässt sich der Autor dann vom Protagonisten selbst erzählen – der altbewährte Trick fiktiver Authentizität. Der Name des Protagonisten lautet Pi Patel (trotzdem Inder!), und seine Geschichte handelt davon, dass er als Jugendlicher nach einem Schiffbruch gemeinsam mit einem Königstiger über den Pazifik treibt.
Um diese ungewöhnliche Situation zu erklären, ja überhaupt erst herbeizuführen, holt Martel hundert Seiten lang aus, und diese hundert Seiten sind in mancher Hinsicht ein Vergnügen, und in mancher Hinsicht sind sie Schwarzbrot. Wer sich über das Verhalten von Zootieren kundig machen möchte, kann das hier tun, und dasselbe gilt für Leser mit religiösen Interessen: Der Vater Pi Patels ist Zoobesitzer im indischen Pondicherry, und Pi selbst ist ein Junge mit Glaubensheißhunger. Ob Hinduismus, Islam oder Christentum, alles übt er aus, denn: „Hindus, in ihrer großen Liebe zu allen Geschöpfen, sind tatsächlich haarlose Christen, genau wie Muslims, die Gott in allen Dingen sehen, bärtige Hindus sind, und Christen in ihrer Gottesfürchtigkeit sind Muslims mit Hut.” In einer Zeit wie dieser hört man solche Botschaft gern, nur trägt Martel sie derart platt und aufdringlich vor, dass einem manchmal Sehen und Lesen vergeht. Jedoch: Nach diesen ersten hundert Seiten weiß man, dass Pi ein allumfassend gläubiger Junge ist, der sich gut mit Tieren auskennt, und letzteres wird er bitter nötig haben.
Allein auf dem Boot
Denn als sich der Vater entschließt, den Zoo aufzulösen und mit der Familie nach Kanada auszuwandern – und einen Teil der Tiere mitnimmt –, sinkt das Schiff, und mit ihm sinken Pi Patels Eltern und Bruder. Durch Zufall landet Pi als einziger auf einem Rettungsboot, auf dem allerdings auch ein Zebra, eine Tüpfelhyäne, ein Orang-Utan-Weibchen und der besagte Königstiger landen. Ein frisch gebackenes Waisenkind treibt also, jeglichen Schutzes beraubt und Raubtieren und Elementen ausgesetzt, über den Pazifik. Eine durchaus parabelhafte Situation, und natürlich kommte es, wie es kommen muss: Die Hyäne reißt Zebra und Orang-Utan, und der Tiger reißt die Hyäne, und dann ist Pi Patel mit dem Tiger allein. Auf dem Boot. Auf dem Meer.
Zum Glück ist Pi ein pfiffiges Bürschlein, und manchmal mag man kaum glauben, dass er erst sechzehn Jahre alt ist. Aus Schwimmwesten baut er sich ein Floß, das er hinten an das Boot hängt, um Fang und Krallen zu entgehen, geschickt geht er mit Angel und Solardestillen um und zeigt dem Tiger schließlich auch noch, wer das Alphatier an Bord ist. Martel spart nicht mit Schrecken: Hunger, Durst, Lebensgefahr durch Raubtiere, Kannibalismus, ja selbst fleischfressende Flora – alles muss Pi Patel erleiden (und vollziehen), bis er nach monatelanger Odyssee in Mexiko landet.
Nach dem relativ behaglichen Leben in Pondicherry, mit multikulturellem Glaubenshunger, liebevollem Elternhaus, Wohlstand und sicher verwahrten wilden Tieren, schickt der Autor seinen Protagonisten also in die Wasserwüste des Pazifik. Ganz auf sich selbst zurückgeworfen initiiert sich der Junge selbst in die Realität des täglichen Daseinskampfes. Seine tote Familie vergisst er rasch, und auch der Glaube, von Martel im ersten Teil des Romans zu einer Riesenkulisse aufgebaut, versinkt in den Fluten. Sicher: Pi Patel, der nach seiner Rettung bei Verwandten in Kanada lebt und Religionswissenschaften und Zoologie studiert, bleibt ein tief gläubiger Mensch, in dessen Wohnung Gebetsteppich, Marienbild und Hindugötter friedlich vereint sind. Doch nicht der Glaube hat ihn vor dem Tod auf See bewahrt, sondern sein praktischer Verstand. Er hat überlebt, und er ist derselbe geblieben, der er vor dem Unglück war. Kein Scheitern also und auch keine Veränderung. Da fragt man sich, warum ihn der Autor den Schrecken des Schiffbruchs aussetzt. Natürlich besteht der Reiz dieses Romans im Nebeneinander von Zoologie und Religion, der Kreatur und dem Göttlichen, von Fressen-und-Gefressen-werden und Gebet, aber leider bleibt es bei diesem Nebeneinander, das weder Spannung erzeugt noch Reibung bewirkt und letztendlich folgenlos bleibt. Martel belädt das Rettungsboot statt dessen mit Bedeutungslast: Pi Patel steht gleichsam (und irgendwann wortwörtlich) nackt vor dem Herrn – vor der schrecklichen Schönheit der Götter bzw. deren Schöpfung, die sich in ungebändigten Naturgewalten verkörpert. Vom Gotteshaus stürzt der indische Junge ins Chaos der Schöpfung selbst.
Ja, „Schiffbruch mit Tiger” ist ein Roman, an dem sich wunderbar heruminterpretieren lässt, doch fehlt ihm jene Dimension, die, um nur zwei Beispiele zu nennen, Conrads „Heart of Darkness” oder Goldings „Lord of the Flies” so eindrücklich sein lässt: die Dimension des Erschreckens und zwar sowohl das Erschrecken des Lesers als auch das der Protagonisten. Martel beschreibt weniger eindrücklich als genau, und trotz aller Gefahren, die dem Schiffbrüchigen drohen, hat man nie das Gefühl, als stünde wirklich etwas auf Messers Schneide.
Noch eine Odyssee
Ärgerlich ist der dritte und letzte Teil des Romans. Pi Patel, in Mexiko im Krankenhaus liegend, erzählt zwei japanischen Sachverständigen, die nach den Gründen für das Schiffsunglück forschen, die Geschichte mit dem Tiger für unglaubwürdig halten (und im übrigen für eine etwas plumpe Komik sorgen), eine zweite und ganz andere Version seiner Odyssee. Mit dieser Relativierung – einer Fiktion innerhalb einer Fiktion – wird dem Roman die letzte Spitze genommen. Ein Rätsel bleibt, was Martel hierzu veranlasst hat, denn das Schöne an „Schiffbruch mit Tiger” ist, dass man alles darin – ganz gleich wie seltsam es sei – akzeptiert.
Und vielleicht gibt es ja sogar den einen oder anderen Leser, dem dieser Roman, wie Martel seinen alten, indischen Herrn in der Vorbemerkung verkünden lässt, den Glauben an Gott schenkt.
HENNING AHRENS
YANN MARTEL: Schiffbruch mit Tiger. Roman. Aus dem Englischen von Manfred Allié und Gabriele Kempf-Allié. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2003. 382 Seiten, 19,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.02.2003Der seekranke Tiger
Lebensform Schiffbruch: Yann Martel sucht Gott auf dem Meer
Acht Briefe schreibt Harry Parlington an Mrs. Barlow, achtmal spricht ihr der Gefängnisdirektor sein Beileid zum Tod ihres Sohnes Kevin aus, acht widersprüchliche Fassungen gibt er seiner Erzählung von den letzten Stunden des Häftlings. Mal ist der junge Mann gefaßt, mal verzweifelt, mal bricht er in einen hysterischen Lachkrampf aus, der erst im Moment des Todes abreißt, dann wieder kann es ihm mit dem Sterben nicht schnell genug gehen, oder er versucht zu fliehen, und einmal setzt die rasende Angst vor dem Galgen seinem Leben schon vorher ein Ende. Kevins Henkersmahlzeiten wechseln ebenso wie seine Empfänglichkeit für den Trost des Pfarrers; in einer Geschichte rührt er nichts an und will niemanden sehen, weil er hastig Berge von Papier mit seinen Notizen bedeckt.
In der Fülle dieser Varianten ist ein authentischer Bericht nicht zu haben. Statt dessen entsteht in Yann Martels früher Erzählung "Sterbearten" ein Panorama der Möglichkeiten, dem Tod zu begegnen und von ihm zu erzählen. Und es ist diese literarische Technik zur Verweigerung von inhaltlicher Gewißheit, die auch Martels jüngsten, mit dem Booker-Preis ausgezeichneten Roman "Schiffbruch mit Tiger" prägt: Da wird ein Indien-Reisender von einem Fremden angesprochen und hört die Geschichte eines unglaublichen Schiffbruchs im Pazifik. Später besucht er in Kanada den einzigen Überlebenden, der 227 Tage nach der Havarie in einem Rettungsboot an der mexikanischen Küste gefunden wurde, und befragt ihn intensiv. Die Geschichte dieses Pi Patel gibt der Erzähler nun wieder, "mit seiner eigenen Stimme, durch seine eigenen Augen gesehen. Alle Fehler oder Unstimmigkeiten gehen jedoch zu meinen Lasten." Doch für die größte Irritation sorgt Pi Patel selbst, indem er zu seinem Bericht auch eine Variante liefert, die diesem komplett zuwiderläuft.
Patels Geschichte, wie sie der Erzähler notiert, zerfällt in zwei Teile. Der Junge wächst im südindischen Pondicherry als Sohn eines Zoobesitzers auf. An ihm ist nichts Ungewöhnliches, außer seiner Leidenschaft für das Schwimmen und sein Interesse für die Religion, die so ausgeprägt ist, daß ihm ein einziger Glaube nicht genügt: Nacheinander wird er Hindu, Moslem und Christ, praktiziert fleißig die dazugehörigen Riten und stiftet Unfrieden unter seinen religiösen Führern, die sich, als sie einmal zufällig gemeinsam auf Pi treffen, heftig um die Seele des Jungen zanken.
Als er sechzehn ist, beschließen seine Eltern, mit den beiden Söhnen nach Kanada auszuwandern. Die Tiere nehmen sie mit. Doch das große Frachtschiff sinkt, und Pi findet sich nach dem Sturm in einem Rettungsboot wieder, gemeinsam mit einer Hyäne, einem Zebra, einem Orang-Utan und einem bengalischen Tiger. Im Lauf der ersten Tage dezimiert der Tiger die Gesellschaft der Schiffbrüchigen, bis er mit Pi allein an Bord ist. Der richtet sich, so gut es geht, auf ein Leben von Augenblick zu Augenblick ein, das von zwei Aufgaben beherrscht wird: den Tiger auf Abstand zu halten und Nahrung zu beschaffen.
Naturgemäß nimmt die Schilderung dieser Schiffahrt zwischen Todesangst und listigen Überlebensstrategien den wesentlichen Teil des Romans ein, und alle literarisch tradierten Elemente einer solchen Reise werden zitiert, anschaulich und souverän erzählt, ohne in allzu drastischen Schilderungen zu schwelgen - der Heißhunger, der Patel einmal beim Anblick frischen Tigerkots überkommt, ist schon das Äußerste, das Martel sich in dieser Hinsicht erlaubt. Dem Zusammenleben der beiden Schiffbrüchigen kommt eine ganze Reihe von Glücksfällen zugute: Da ist Patels Vertrautheit mit den Zootieren, die es ihm erleichtert, den Tiger einigermaßen zu zähmen; da ist des Tigers überaus friedliches Gemüt (er sei kein Alpha-, eher ein Omega-Tier, stellt Patel fest) und schließlich dessen Neigung zur Seekrankheit, die von seinem Reisegefährten skrupellos zur Disziplinierung eingesetzt wird: Wenn der Tiger nicht spurt, bringt Patel das Schiff so heftig ins Schlingern, daß das Tier alle Kampfeslust verliert. Außerdem ist das Rettungsboot bestens mit allem ausgestattet, was Havarierte benötigen, und da Patel auch seine Schwimmkünste einsetzen kann, um sich in schwierigen Situationen vor dem Tiger auf ein selbstgebautes Floß zu retten, erscheint sein Leben vor der Katastrophe insgesamt als perfekte Vorbereitung auf diese spezielle Form des Schiffbruchs.
All dies schildert Martel ohne allzu großen literarischen Anspruch, aber ihm gelingen einige bezaubernde Natur- und Tierschilderungen (das Faultier ist "nicht wirklich taub, es interessiert sich nur nicht für Geräusche"), und die letzte Gefahr der Schiffbrüchigen, die Begegnung mit einer schwimmenden Insel, verleiht dem zuvor eher sachlichen Erzählton unversehens eine unheimliche Schattierung, die den Text entschieden bereichert.
"Eine Geschichte, die einem den Glauben an Gott geben kann", hatte der indische Zufallsbekannte, Pi Patels Onkel Adirubasamy, dem Erzähler bei der ersten Begegnung versprochen, und wer mag, kann in der wundersamen Errettung des Jungen aus See-, Hungers- und Tigernot die waltende Hand Gottes sehen, der den dreifach Gläubigen auch in größter Gefahr nicht verläßt. Oder man kann die Verheißung des Inders auf das Zusammenleben zwischen Mensch und Tiger anwenden und trotz der Umstände, die eigentlich eher auf einen gewaltsamen Zusammenstoß hindeuten, das Rettungsboot als eine Art wiedergefundenes Paradies ansehen, in dem keine Kreatur der anderen ans Leben will. Aber Martel will mehr: Deshalb hat er viele Zeichen aufgestellt, um zu einer anderen Lesart einzuladen, die aller Esoterik fernsteht.
In seiner Einleitung gibt der Erzähler den ersten Hinweis: Daß diese Geschichte ihre Zuhörer zum Glauben führen könne, habe er in dem Moment gemerkt, als er sich die Tonbänder von der Befragung Patels im mexikanischen Krankenhaus angehört habe. Dort nämlich präsentiert der Gerettete zum einzigen Mal eine andere, wesentlich kürzere Version der Geschichte. Ein Tiger kommt dort nicht vor, kein Orang-Utan oder eine Hyäne, statt dessen ein sadistischer Schiffskoch, ein verwundeter Matrose und Patels Mutter. Auch hier überlebt Patel als einziger, nachdem er allerdings zum Mörder geworden ist und sich am Blut seines Opfers gelabt hat. Beide Versionen der Geschichte haben den gleichen Ursprung - den Schiffbruch - und das gleiche Ergebnis - das gestrandete Rettungsboot -, beide lassen sich nicht überprüfen, weil Patel der einzige Zeuge ist. "Welche von beiden", fragt er seine Besucher, "gefällt Ihnen besser, die mit den Tieren oder die ohne Tiere?" Als die Befragten sich für die Tiere entscheiden, erwidert Patel, genauso sei es mit Gott.
Den leeren Himmel, so kann man diesen Hinweis verstehen, läßt der eine leer, der andere stattet ihn mit höheren Mächten aus, beweisen läßt sich die jeweilige Vorstellung sowenig wie Patels Geschichte in der einen oder anderen Fassung. In dieser Lesart aber wäre Religion keinem metaphysischen Bedürfnis geschuldet, sondern der Entscheidung für die bessere Geschichte: die mit den Tieren.
Yann Martel: "Schiffbruch mit Tiger". Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Manfred Allié und Gabriele Kempf-Allié. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2003. 384 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Lebensform Schiffbruch: Yann Martel sucht Gott auf dem Meer
Acht Briefe schreibt Harry Parlington an Mrs. Barlow, achtmal spricht ihr der Gefängnisdirektor sein Beileid zum Tod ihres Sohnes Kevin aus, acht widersprüchliche Fassungen gibt er seiner Erzählung von den letzten Stunden des Häftlings. Mal ist der junge Mann gefaßt, mal verzweifelt, mal bricht er in einen hysterischen Lachkrampf aus, der erst im Moment des Todes abreißt, dann wieder kann es ihm mit dem Sterben nicht schnell genug gehen, oder er versucht zu fliehen, und einmal setzt die rasende Angst vor dem Galgen seinem Leben schon vorher ein Ende. Kevins Henkersmahlzeiten wechseln ebenso wie seine Empfänglichkeit für den Trost des Pfarrers; in einer Geschichte rührt er nichts an und will niemanden sehen, weil er hastig Berge von Papier mit seinen Notizen bedeckt.
In der Fülle dieser Varianten ist ein authentischer Bericht nicht zu haben. Statt dessen entsteht in Yann Martels früher Erzählung "Sterbearten" ein Panorama der Möglichkeiten, dem Tod zu begegnen und von ihm zu erzählen. Und es ist diese literarische Technik zur Verweigerung von inhaltlicher Gewißheit, die auch Martels jüngsten, mit dem Booker-Preis ausgezeichneten Roman "Schiffbruch mit Tiger" prägt: Da wird ein Indien-Reisender von einem Fremden angesprochen und hört die Geschichte eines unglaublichen Schiffbruchs im Pazifik. Später besucht er in Kanada den einzigen Überlebenden, der 227 Tage nach der Havarie in einem Rettungsboot an der mexikanischen Küste gefunden wurde, und befragt ihn intensiv. Die Geschichte dieses Pi Patel gibt der Erzähler nun wieder, "mit seiner eigenen Stimme, durch seine eigenen Augen gesehen. Alle Fehler oder Unstimmigkeiten gehen jedoch zu meinen Lasten." Doch für die größte Irritation sorgt Pi Patel selbst, indem er zu seinem Bericht auch eine Variante liefert, die diesem komplett zuwiderläuft.
Patels Geschichte, wie sie der Erzähler notiert, zerfällt in zwei Teile. Der Junge wächst im südindischen Pondicherry als Sohn eines Zoobesitzers auf. An ihm ist nichts Ungewöhnliches, außer seiner Leidenschaft für das Schwimmen und sein Interesse für die Religion, die so ausgeprägt ist, daß ihm ein einziger Glaube nicht genügt: Nacheinander wird er Hindu, Moslem und Christ, praktiziert fleißig die dazugehörigen Riten und stiftet Unfrieden unter seinen religiösen Führern, die sich, als sie einmal zufällig gemeinsam auf Pi treffen, heftig um die Seele des Jungen zanken.
Als er sechzehn ist, beschließen seine Eltern, mit den beiden Söhnen nach Kanada auszuwandern. Die Tiere nehmen sie mit. Doch das große Frachtschiff sinkt, und Pi findet sich nach dem Sturm in einem Rettungsboot wieder, gemeinsam mit einer Hyäne, einem Zebra, einem Orang-Utan und einem bengalischen Tiger. Im Lauf der ersten Tage dezimiert der Tiger die Gesellschaft der Schiffbrüchigen, bis er mit Pi allein an Bord ist. Der richtet sich, so gut es geht, auf ein Leben von Augenblick zu Augenblick ein, das von zwei Aufgaben beherrscht wird: den Tiger auf Abstand zu halten und Nahrung zu beschaffen.
Naturgemäß nimmt die Schilderung dieser Schiffahrt zwischen Todesangst und listigen Überlebensstrategien den wesentlichen Teil des Romans ein, und alle literarisch tradierten Elemente einer solchen Reise werden zitiert, anschaulich und souverän erzählt, ohne in allzu drastischen Schilderungen zu schwelgen - der Heißhunger, der Patel einmal beim Anblick frischen Tigerkots überkommt, ist schon das Äußerste, das Martel sich in dieser Hinsicht erlaubt. Dem Zusammenleben der beiden Schiffbrüchigen kommt eine ganze Reihe von Glücksfällen zugute: Da ist Patels Vertrautheit mit den Zootieren, die es ihm erleichtert, den Tiger einigermaßen zu zähmen; da ist des Tigers überaus friedliches Gemüt (er sei kein Alpha-, eher ein Omega-Tier, stellt Patel fest) und schließlich dessen Neigung zur Seekrankheit, die von seinem Reisegefährten skrupellos zur Disziplinierung eingesetzt wird: Wenn der Tiger nicht spurt, bringt Patel das Schiff so heftig ins Schlingern, daß das Tier alle Kampfeslust verliert. Außerdem ist das Rettungsboot bestens mit allem ausgestattet, was Havarierte benötigen, und da Patel auch seine Schwimmkünste einsetzen kann, um sich in schwierigen Situationen vor dem Tiger auf ein selbstgebautes Floß zu retten, erscheint sein Leben vor der Katastrophe insgesamt als perfekte Vorbereitung auf diese spezielle Form des Schiffbruchs.
All dies schildert Martel ohne allzu großen literarischen Anspruch, aber ihm gelingen einige bezaubernde Natur- und Tierschilderungen (das Faultier ist "nicht wirklich taub, es interessiert sich nur nicht für Geräusche"), und die letzte Gefahr der Schiffbrüchigen, die Begegnung mit einer schwimmenden Insel, verleiht dem zuvor eher sachlichen Erzählton unversehens eine unheimliche Schattierung, die den Text entschieden bereichert.
"Eine Geschichte, die einem den Glauben an Gott geben kann", hatte der indische Zufallsbekannte, Pi Patels Onkel Adirubasamy, dem Erzähler bei der ersten Begegnung versprochen, und wer mag, kann in der wundersamen Errettung des Jungen aus See-, Hungers- und Tigernot die waltende Hand Gottes sehen, der den dreifach Gläubigen auch in größter Gefahr nicht verläßt. Oder man kann die Verheißung des Inders auf das Zusammenleben zwischen Mensch und Tiger anwenden und trotz der Umstände, die eigentlich eher auf einen gewaltsamen Zusammenstoß hindeuten, das Rettungsboot als eine Art wiedergefundenes Paradies ansehen, in dem keine Kreatur der anderen ans Leben will. Aber Martel will mehr: Deshalb hat er viele Zeichen aufgestellt, um zu einer anderen Lesart einzuladen, die aller Esoterik fernsteht.
In seiner Einleitung gibt der Erzähler den ersten Hinweis: Daß diese Geschichte ihre Zuhörer zum Glauben führen könne, habe er in dem Moment gemerkt, als er sich die Tonbänder von der Befragung Patels im mexikanischen Krankenhaus angehört habe. Dort nämlich präsentiert der Gerettete zum einzigen Mal eine andere, wesentlich kürzere Version der Geschichte. Ein Tiger kommt dort nicht vor, kein Orang-Utan oder eine Hyäne, statt dessen ein sadistischer Schiffskoch, ein verwundeter Matrose und Patels Mutter. Auch hier überlebt Patel als einziger, nachdem er allerdings zum Mörder geworden ist und sich am Blut seines Opfers gelabt hat. Beide Versionen der Geschichte haben den gleichen Ursprung - den Schiffbruch - und das gleiche Ergebnis - das gestrandete Rettungsboot -, beide lassen sich nicht überprüfen, weil Patel der einzige Zeuge ist. "Welche von beiden", fragt er seine Besucher, "gefällt Ihnen besser, die mit den Tieren oder die ohne Tiere?" Als die Befragten sich für die Tiere entscheiden, erwidert Patel, genauso sei es mit Gott.
Den leeren Himmel, so kann man diesen Hinweis verstehen, läßt der eine leer, der andere stattet ihn mit höheren Mächten aus, beweisen läßt sich die jeweilige Vorstellung sowenig wie Patels Geschichte in der einen oder anderen Fassung. In dieser Lesart aber wäre Religion keinem metaphysischen Bedürfnis geschuldet, sondern der Entscheidung für die bessere Geschichte: die mit den Tieren.
Yann Martel: "Schiffbruch mit Tiger". Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Manfred Allié und Gabriele Kempf-Allié. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2003. 384 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main