In seinem neuen Buch Ligaturen setzt Wolfram Hogrebe sein Projekt einer informellen Erkenntnistheorie mit einer Analyse von Bindungen fort, die unterhalb von theoretisch ausgiebig diskutierten Normen, Gesetzen und institutionellen Regelungen für ein humanes Miteinander unentbehrlich sind. Auch Risiken, die mit solchen oft verborgenen Erkenntniskonstellationen einher gehen, werden diskutiert. Meisterdenker wie Schelling, Hegel, Heidegger, aber auch Randfiguren wie Felix Hausdorff alias Paul Mongré oder Künstler wie Beuys kommen zur Sprache. In seinem unnachahmlichen Stil knapper, doch prägnanter Skizzen bringt Hogrebe so das Denken vor dem nuancierten Sein zum Staunen.In this, his latest book, Wolfram Hogrebe continues to unfold his project of an informal epistemology with an analysis of ties ("ligatures") to be found below the level of theoretically discussed norms, laws, and institutional regulations and nevertheless indispensable for a humane coexistence. Risks associated with such often hidden constellations of knowledge are also discussed. Master thinkers such as Schelling, Hegel, Heidegger, but also more marginal figures such as Felix Hausdorff alias Paul Mongré or artists such as Beuys are discussed. In his inimitable style of concise yet succinct sketches, Hogrebe thus causes thinking to confront the often subtle nuances of being in a state of wonderment.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.09.2022Statt fester Punkte
Wolfram Hogrebe sondiert informelle Bindungen
"Ligaturen" hat der Soziologe Ralf Dahrendorf vor einigen Jahrzehnten jene Zugehörigkeiten und Bindungen genannt, die gesellschaftliches Zusammenleben allererst ermöglichen. Im Unterschied zu den miteinander verschmolzenen Buchstaben, die Typographen mit diesem Begriff bezeichnen, sind soziale Ligaturen nicht formbeständig. Sie können sich auflösen, zumal in Gesellschaften, die alles und jedes zu einer Sache individueller Optionen werden lassen. In einem Essaybändchen, das den lapidaren Titel "Ligaturen" trägt und eine bereits ansehnliche Reihe aus seiner Werkstatt gekommener philosophischer Skizzenbücher fortsetzt, spürt Wolfram Hogrebe verschiedensten solcher "informellen" Bindungen nach, die sich für gewöhnlich der Aufmerksamkeit entziehen und womöglich gerade darum umso wirksamer sind.
Der Autor, der die Abschweifung ebenso pflegt wie die assoziative Abkürzung, bezeichnet, was ihn interessiert, auch als "Protonormativität": Verbindungen und Verbindlichkeiten, die sich gleichsam unterhalb von Recht, Gesetz und institutionellen Regelungen, aber auch von strikt moralischen oder ethischen Verpflichtungen ergeben. In diesem Unterbau des Miteinanders sollen etwa Stimmigkeit, Nachsichtigkeit, Takt, Rücksichtnahme, sogar Zärtlichkeit zu Hause sein.
Derlei Phänomene beschreibt Hogrebe auf Exkursionen in die ältere und jüngere Geistesgeschichte in mancherlei Nuancen, ohne sie abschließend zu sortieren. Wer bei der Lektüre nach Bausteinen einer möglichen Theorie der Ligatur sucht, wird wohl am ehesten bei den Überlegungen zum "sensus communis" fündig. Den "Gemeinsinn" hat Kant zu einem Dreh- und Angelpunkt seiner Philosophie der Urteilskraft gemacht und andeutungsweise mit einem "übersinnlichen Substrat der Menschheit" in Zusammenhang gebracht. Von dieser gewissermaßen feinstofflichen, alles verwebenden Sozialität vermutet Hogrebe mit romantischem Zungenschlag, sie sei die "unsagbare Quelle aller Ligaturen".
Als Ligaturen gelten ihm allerdings und andererseits nicht nur die zarten Bande, die ins Universelle weisen und Menschen "protonormativ", zum Teil nicht sprachlich und doch kommunikativ miteinander verknüpfen, sondern ebenso Ideologien und Gerüchte. In diese Perspektive rückt Hogrebe auch Verschwörungserzählungen; das ist nachvollziehbar - anders als seine Behauptung, das "Konglomerat um die sog. Gender-Bewegung" bilde eine "besonders problematische Variante der Verschwörungstheorien". Man könnte mit Blick auf Ideologien und ähnliche weltanschauliche Borniertheiten auch von Verklebungen sprechen, um die kognitive Beeinträchtigung zu charakterisieren, die diese Art von Ligaturen mit sich bringt. Doch damit wäre die Frage noch nicht beantwortet, welcher belastbare Begriff von Ligatur - Hogrebe spricht lediglich von einem "halbwegs neutralen Ausdruck für Bindungen" - all die bunten Variationen seines Gebrauchs zu tragen vermöchte.
Mit einer solchen Frage wird aber kein Rezensent einen Autor in Verlegenheit bringen können, der in früheren Publikationen eine Lanze für Mantik als philosophische Disziplin gebrochen und auf anregende Weise die Erkenntnismöglichkeiten erschlossen hat, die Ahnungen innewohnen. Zudem hält Hogrebe es, und dies sogar in seinen Miniaturen zum Thema Bindungen, mit Novalis, der einst schrieb: "D[ie] Philosophie macht alles los - relativiert das Universum - Sie hebt . . . die festen Puncte auf - und macht aus dem Ruhenden ein Schwebendes." Gelingt dies und macht der Autor Denkerfahrungen, die ins Offene führen, dann kann an ihnen auch der Leser teilhaben.
Was im vorliegenden Falle die Teilhabe gelegentlich erschwert, sei nicht verschwiegen: Der Autor scheint einen Narren an Carl Schmitt gefressen zu haben. Weit über hundertmal fällt der Name des deutschen Staatsrechtlers und Geschichtsmetaphysikers, den "umstritten" zu nennen sich als Minimalentschuldigung für seine Zitierung eingebürgert hat. Nicht dass Hogrebe sich mit Kritik an Schmitts Antisemitismus und dessen Verteidigung des nazistischen Führerstaats zurückhielte. Aber es ist selten ersichtlich, was die einfühlsame Deutung von mehr oder minder verrätselten und raunenden Tagebuchnotizen Schmitts zum Thema beiträgt - außer vielleicht, dass Ligaturen oft nicht expliziter Natur sind und also auch etwas Geheimnisvolles an sich haben können.
Ein persönliches Faible kühn verallgemeinernd, taxiert Hogrebe Schmitt als "politisch extrem problematischen, aber intellektuell ebenso extrem inspirierenden Kopf, an dem niemand vorbeikommt". Doch, ist man zu sagen versucht, es geht: einfach einen Bogen um den Kopf machen und ihn links oder rechts liegen lassen. UWE JUSTUS WENZEL
Wolfram Hogrebe: "Ligaturen".
Vittorio Klostermann Verlag, Frankfurt am Main 2022. 152 S., br., 19,80 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wolfram Hogrebe sondiert informelle Bindungen
"Ligaturen" hat der Soziologe Ralf Dahrendorf vor einigen Jahrzehnten jene Zugehörigkeiten und Bindungen genannt, die gesellschaftliches Zusammenleben allererst ermöglichen. Im Unterschied zu den miteinander verschmolzenen Buchstaben, die Typographen mit diesem Begriff bezeichnen, sind soziale Ligaturen nicht formbeständig. Sie können sich auflösen, zumal in Gesellschaften, die alles und jedes zu einer Sache individueller Optionen werden lassen. In einem Essaybändchen, das den lapidaren Titel "Ligaturen" trägt und eine bereits ansehnliche Reihe aus seiner Werkstatt gekommener philosophischer Skizzenbücher fortsetzt, spürt Wolfram Hogrebe verschiedensten solcher "informellen" Bindungen nach, die sich für gewöhnlich der Aufmerksamkeit entziehen und womöglich gerade darum umso wirksamer sind.
Der Autor, der die Abschweifung ebenso pflegt wie die assoziative Abkürzung, bezeichnet, was ihn interessiert, auch als "Protonormativität": Verbindungen und Verbindlichkeiten, die sich gleichsam unterhalb von Recht, Gesetz und institutionellen Regelungen, aber auch von strikt moralischen oder ethischen Verpflichtungen ergeben. In diesem Unterbau des Miteinanders sollen etwa Stimmigkeit, Nachsichtigkeit, Takt, Rücksichtnahme, sogar Zärtlichkeit zu Hause sein.
Derlei Phänomene beschreibt Hogrebe auf Exkursionen in die ältere und jüngere Geistesgeschichte in mancherlei Nuancen, ohne sie abschließend zu sortieren. Wer bei der Lektüre nach Bausteinen einer möglichen Theorie der Ligatur sucht, wird wohl am ehesten bei den Überlegungen zum "sensus communis" fündig. Den "Gemeinsinn" hat Kant zu einem Dreh- und Angelpunkt seiner Philosophie der Urteilskraft gemacht und andeutungsweise mit einem "übersinnlichen Substrat der Menschheit" in Zusammenhang gebracht. Von dieser gewissermaßen feinstofflichen, alles verwebenden Sozialität vermutet Hogrebe mit romantischem Zungenschlag, sie sei die "unsagbare Quelle aller Ligaturen".
Als Ligaturen gelten ihm allerdings und andererseits nicht nur die zarten Bande, die ins Universelle weisen und Menschen "protonormativ", zum Teil nicht sprachlich und doch kommunikativ miteinander verknüpfen, sondern ebenso Ideologien und Gerüchte. In diese Perspektive rückt Hogrebe auch Verschwörungserzählungen; das ist nachvollziehbar - anders als seine Behauptung, das "Konglomerat um die sog. Gender-Bewegung" bilde eine "besonders problematische Variante der Verschwörungstheorien". Man könnte mit Blick auf Ideologien und ähnliche weltanschauliche Borniertheiten auch von Verklebungen sprechen, um die kognitive Beeinträchtigung zu charakterisieren, die diese Art von Ligaturen mit sich bringt. Doch damit wäre die Frage noch nicht beantwortet, welcher belastbare Begriff von Ligatur - Hogrebe spricht lediglich von einem "halbwegs neutralen Ausdruck für Bindungen" - all die bunten Variationen seines Gebrauchs zu tragen vermöchte.
Mit einer solchen Frage wird aber kein Rezensent einen Autor in Verlegenheit bringen können, der in früheren Publikationen eine Lanze für Mantik als philosophische Disziplin gebrochen und auf anregende Weise die Erkenntnismöglichkeiten erschlossen hat, die Ahnungen innewohnen. Zudem hält Hogrebe es, und dies sogar in seinen Miniaturen zum Thema Bindungen, mit Novalis, der einst schrieb: "D[ie] Philosophie macht alles los - relativiert das Universum - Sie hebt . . . die festen Puncte auf - und macht aus dem Ruhenden ein Schwebendes." Gelingt dies und macht der Autor Denkerfahrungen, die ins Offene führen, dann kann an ihnen auch der Leser teilhaben.
Was im vorliegenden Falle die Teilhabe gelegentlich erschwert, sei nicht verschwiegen: Der Autor scheint einen Narren an Carl Schmitt gefressen zu haben. Weit über hundertmal fällt der Name des deutschen Staatsrechtlers und Geschichtsmetaphysikers, den "umstritten" zu nennen sich als Minimalentschuldigung für seine Zitierung eingebürgert hat. Nicht dass Hogrebe sich mit Kritik an Schmitts Antisemitismus und dessen Verteidigung des nazistischen Führerstaats zurückhielte. Aber es ist selten ersichtlich, was die einfühlsame Deutung von mehr oder minder verrätselten und raunenden Tagebuchnotizen Schmitts zum Thema beiträgt - außer vielleicht, dass Ligaturen oft nicht expliziter Natur sind und also auch etwas Geheimnisvolles an sich haben können.
Ein persönliches Faible kühn verallgemeinernd, taxiert Hogrebe Schmitt als "politisch extrem problematischen, aber intellektuell ebenso extrem inspirierenden Kopf, an dem niemand vorbeikommt". Doch, ist man zu sagen versucht, es geht: einfach einen Bogen um den Kopf machen und ihn links oder rechts liegen lassen. UWE JUSTUS WENZEL
Wolfram Hogrebe: "Ligaturen".
Vittorio Klostermann Verlag, Frankfurt am Main 2022. 152 S., br., 19,80 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Uwe Justus Wenzel hätte Wolfram Hogrebes Überlegungen zu informellen sozialen Bindungen noch anregender gefunden, hätte der Autor nicht daunernd den raunenden Carl Schmitt zitiert. Für die Erkenntnis in Sachen der titelgebenden Ligaturen kann Schmitt ohnehin nichts beisteuern, findet Wenzel. Hogrebe selbst spürt seinem Thema hingegen schön assoziativ und abschweifend quer durch die Geistesgeschichte nach, streift Kant, die Gender-Bewegungen und Verschwörungserzählungen, so der Rezensent. Dass dabei keine tragfähige Theorie der Ligatur zustandekommt, kann Wenzel verschmerzen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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