Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 12.09.2015Im Zeichen des Löwen
In ihrem Roman „Lila“ erzählt Marilynne Robinson von verlorenen Söhnen und versprengten Fremden, in einem
Amerika, in dem keiner der Einsamkeit entkommt. Sie gehört zu den Lieblingsautoren von Präsident Obama
VON LOTHAR MÜLLER
Als Barack Obama in diesem Sommer in Charleston, South Carolina die Trauerrede auf den Reverend Pinckney und die weiteren acht afroamerikanischen Opfer des Attentats hielt, das ein junger Weißer am 17. Juniwährend einer Bibelstunde verübt hatte, begann er mit dem Satz: „Giving all praise and honor to God.“ Seine Ansprache stellte die Sprache der Bibel in den Dienst der politischen, an die gesamte Nation adressierten Rhetorik der Überwindung des Rassenhasses. Eine der Hoffnungsformeln, die er dabei ins Spiel brachte, war das „reservoir of goodness“, das er einem Buch von Marilynne Robinson entnahm.
Seit Jahren ist der amerikanische Präsident ein erklärter Bewunderer dieser Autorin, die 1943 in der Provinz von Idaho geboren wurde und dort aufwuchs, seit Jahrzehnten in Iowa lebt und am Writers Workshop der University of Iowa lehrt. Marilynne Robinson verfolgt in ihren Romanen und Essays seit ihrem Debüt „Housekeeping“ (1980) an wechselnden Stoffen ein Projekt: die Sprache der Bibel und die Erfahrungswelt der Frommen – Prediger, Reverends, Kirchenbesucher – in die moderne amerikanische Literatur einzuschmelzen. Und zwar so, dass die Romane dabei nicht selber zu Predigten werden, sondern bleiben, was moderne Romane sind: anthropologische Sonden, Erkundungen und Darstellungen von Lebensmustern und Innenwelten.
Der Roman „Gilead“ (2004), fast ein Vierteljahrhundert nach dem Debüt erschienen und mit dem Pulitzer Preis ausgezeichnet, war der Beginn einer Trilogie, deren Bände sich gut für sich lesen lassen. Denn die einzelnen Lebensgeschichten werden darin nicht fortlaufend erzählt. Sie stehen nebeneinander, alle Zeitschichten sind an den zentralen Ort gebunden, an Gilead, das kleine Kaff in Iowa, das so heißt wie in der Bibel ein Landstrich östlich des Jordan. Man könnte es auf der Landkarte der amerikanischen Literatur etwa nördlich der Regionen ansiedeln, durch die in John Steinbecks Roman „Früchte des Zorns“ die von der Großen Depression entwurzelten „Oakies“ auf ihrem Weg ins gelobte Land Kalifornien ziehen.
Hier siedelt Marilynne Robinson den Reverend John Ames an und die Familie seines Freundes, Glaubensbruders und Namensvetters John Ames Boughton. Verlorene Söhne kehren auf verschlungenen Wegen ins Elternhaus zurück, Fahrende finden zu einer prekären Sesshaftigkeit, Gemeinden bestehen aus einer Summe von Einsamen. Die Trilogie führt in eine detailscharf gezeichnete Provinz der frommen Weißen des zwanzigsten Jahrhunderts. Wenn in „Gilead“ der alte Reverend, dem Tode nah, in dem langen Brief an seinen kleinen Sohn, aus dem der Roman besteht, am Ende von den aufkeimenden Rassenunruhen seiner Gegenwart, des Jahres 1956, berichtet, ahnt man, warum Obama es auf die Liste seiner Lieblingsbücher gesetzt hat.
Die Geschichte des verlorenen Sohnes steht im Zentrum des mittleren Bandes der Trilogie, „Home“ (2008). Nun hat der S. Fischer Verlag für das deutsche Publikum den Abschlussband herausgebracht, „Lila“. Die Titelheldin, eine der vielen stillen, erzählerisch ungemein reichen Frauenfiguren Robinsons, ist die junge Ehefrau des alten Reverend John Ames.
Sie könnte einer alten Blues-Ballade (oder einer Steinbeck-Hommage wie Bruce Springsteens CD „The Goast of Tom
Joad“) entstammen, kennt die Landstraße und die Campfires so gut wie das Innere eines Bordells in St. Louis. Sie hat ihre Kindheit in den 1920er Jahren verbracht und ist in den Jahren der Großen Depression in der Dust Bowl der Wanderarbeiter umhergezogen. Die Einzelgängerin Doll hat sie als Kind gestohlen und in die Welt der Fahrenden geholt. Die Ruhelosigkeit wird sie in Gilead nicht ablegen, die Landstreicherin Doll nicht vergessen: „Ortsleute hielten sich für was Besseres. Das wussten sie alle und hassten sie dafür.“
Eine ehemalige Hure aus der Welt der homeless people heiratet einen alten, gütigen Reverend, schreibt auf dem Weg zur Taufe die Worte des Propheten Ezechiel ab, erhält einen Grundkurs in Bibellektüre und Erläuterungen zu den Predigten des Reverend – das klingt nach einer erbaulichen Legende. Es ist aber ein Roman, ganz von dieser Welt, der in einer gelassenen Prosa eher von Varianten der Einsamkeit erzählt als vom Ankommen in einer erlösungsgewissen Welt. Das Leben als Wander- und Pilgerschaft kann im Land der Pilgrim Fathers den religiösen Echoraum kaum verabschieden, aber erkennbar durch die historisch konkrete Welt führen, die „Vereinigten Staaten von Amerika“: so nennt der Roman ausdrücklich seinen Handlungsraum, er spielt zwischen Großer Depression und den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg.
Die Landstreicherin Doll steht im Zentrum der Erinnerungen Lilas an ihre Kindheit. Einer ihr nahen Erzählerstimme, die in der dritten Person berichtet, ist die Formung der Erinnerungen anvertraut. Durch die Sprache dieser Stimme wird das Messer der Landstreicherin, der stumme Zeuge eines Mordes, zu einer der Hauptfiguren des Romans. Ebenso das Wasser, der Gegenspieler des Staubs, als Element der Landschaft wie der Taufe.
Lilas Lebensstationen hat Marilynne Robinson kunstvoll ineinander geblendet. Die Kindheit, die Wanderjahre, die Ankunft in Gilead, zunächst in einer Hütte nahe der Stadt, dann in der Kirche, die rätselhafte Ehe mit dem Reverend, die Begegnung mit einem streunenden Jungen, in dem ihr ihre Heimatlosigkeit begegnet, schließlich Schwangerschaft und Geburt des Sohnes, alle diese Zeitschichten überlagern einander. Das ist nicht nur ein Tribut an die Erzähltechniken des modernen Romans. Es dient dazu, das Nicht-Ankommen der Figuren zu bewahren, ihre Einsamkeit. „Vielleicht bringe ich ihm eine neue Art Trauer bei“, denkt Lila über den Reverend. Diese Verlorenheit ist eingelassen in Landschaftsbilder, samt Brennnesseln, Löwenzahnblättern, Wildmöhren.
„Den Löwen hätte sie den lieben langen Tag brüllen sehen mögen.“ Der Metro-Goldwyn-Mayer-Löwe ist das Wappentier der wunderbaren Passagen über die Kino-Leidenschaft der Heldin. Er wacht über Lila im Etablissement in St. Louis und begleitet sie nach Gilead, wo es wundersamerweise ein Kino gibt. Lila sieht „To Have and Have Not“, „Der Schatz der Sierra Madre“, „The Postman Always Rings Twice“ und vieles andere: „Sie musste an die alten Zeiten denken, als sie nur für ihre paar Stunden im Kino gelebt hatte, wo alle im Saal über die schönen Gespenster an dem unerreichbaren Ort seufzten und weinten und lachten, wo Leute Leben lebten, an denen auch Fremden was liegen konnte.“ Das gilt auch für diesen Roman: er zeigt Leben, an denen auch Fremden liegen kann.
Die Übersetzung hat es nicht leicht angesichts der Spannweite des Originals, dessen Prosa blitzschnell zwischen Bibelton und Slang wechselt. Aber bis auf Kleinigkeiten – etwa eine windige Nacht „voll Baumgeräusche“ (statt „voller Baumgeräusche“) – ist „Lila“ im Deutschen angekommen. Die gesamte Trilogie sollte folgen.
Marilynne Robinson: Lila. Roman. Aus dem Englischen von Uda Strätling. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2015. 288 S., 21,99 Euro. E-Book 19,99 Euro.
Gilead, das kleine Kaff in
Iowa, heißt wie in der Bibel ein
Landstrich östlich des Jordan
Über das Leben der Heldin
wacht in schweren Zeiten der
Metro-Goldwyn-Mayer-Löwe
Marilynne Robinson.
Foto: S. Fischer
Kirchenorgel, Gestühl und Pult in Erwartung des abwesenden Reverend: Die Fotografie von Walker Evans entstand 1936.
Foto: Walker Evans/Library of Congress
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In ihrem Roman „Lila“ erzählt Marilynne Robinson von verlorenen Söhnen und versprengten Fremden, in einem
Amerika, in dem keiner der Einsamkeit entkommt. Sie gehört zu den Lieblingsautoren von Präsident Obama
VON LOTHAR MÜLLER
Als Barack Obama in diesem Sommer in Charleston, South Carolina die Trauerrede auf den Reverend Pinckney und die weiteren acht afroamerikanischen Opfer des Attentats hielt, das ein junger Weißer am 17. Juniwährend einer Bibelstunde verübt hatte, begann er mit dem Satz: „Giving all praise and honor to God.“ Seine Ansprache stellte die Sprache der Bibel in den Dienst der politischen, an die gesamte Nation adressierten Rhetorik der Überwindung des Rassenhasses. Eine der Hoffnungsformeln, die er dabei ins Spiel brachte, war das „reservoir of goodness“, das er einem Buch von Marilynne Robinson entnahm.
Seit Jahren ist der amerikanische Präsident ein erklärter Bewunderer dieser Autorin, die 1943 in der Provinz von Idaho geboren wurde und dort aufwuchs, seit Jahrzehnten in Iowa lebt und am Writers Workshop der University of Iowa lehrt. Marilynne Robinson verfolgt in ihren Romanen und Essays seit ihrem Debüt „Housekeeping“ (1980) an wechselnden Stoffen ein Projekt: die Sprache der Bibel und die Erfahrungswelt der Frommen – Prediger, Reverends, Kirchenbesucher – in die moderne amerikanische Literatur einzuschmelzen. Und zwar so, dass die Romane dabei nicht selber zu Predigten werden, sondern bleiben, was moderne Romane sind: anthropologische Sonden, Erkundungen und Darstellungen von Lebensmustern und Innenwelten.
Der Roman „Gilead“ (2004), fast ein Vierteljahrhundert nach dem Debüt erschienen und mit dem Pulitzer Preis ausgezeichnet, war der Beginn einer Trilogie, deren Bände sich gut für sich lesen lassen. Denn die einzelnen Lebensgeschichten werden darin nicht fortlaufend erzählt. Sie stehen nebeneinander, alle Zeitschichten sind an den zentralen Ort gebunden, an Gilead, das kleine Kaff in Iowa, das so heißt wie in der Bibel ein Landstrich östlich des Jordan. Man könnte es auf der Landkarte der amerikanischen Literatur etwa nördlich der Regionen ansiedeln, durch die in John Steinbecks Roman „Früchte des Zorns“ die von der Großen Depression entwurzelten „Oakies“ auf ihrem Weg ins gelobte Land Kalifornien ziehen.
Hier siedelt Marilynne Robinson den Reverend John Ames an und die Familie seines Freundes, Glaubensbruders und Namensvetters John Ames Boughton. Verlorene Söhne kehren auf verschlungenen Wegen ins Elternhaus zurück, Fahrende finden zu einer prekären Sesshaftigkeit, Gemeinden bestehen aus einer Summe von Einsamen. Die Trilogie führt in eine detailscharf gezeichnete Provinz der frommen Weißen des zwanzigsten Jahrhunderts. Wenn in „Gilead“ der alte Reverend, dem Tode nah, in dem langen Brief an seinen kleinen Sohn, aus dem der Roman besteht, am Ende von den aufkeimenden Rassenunruhen seiner Gegenwart, des Jahres 1956, berichtet, ahnt man, warum Obama es auf die Liste seiner Lieblingsbücher gesetzt hat.
Die Geschichte des verlorenen Sohnes steht im Zentrum des mittleren Bandes der Trilogie, „Home“ (2008). Nun hat der S. Fischer Verlag für das deutsche Publikum den Abschlussband herausgebracht, „Lila“. Die Titelheldin, eine der vielen stillen, erzählerisch ungemein reichen Frauenfiguren Robinsons, ist die junge Ehefrau des alten Reverend John Ames.
Sie könnte einer alten Blues-Ballade (oder einer Steinbeck-Hommage wie Bruce Springsteens CD „The Goast of Tom
Joad“) entstammen, kennt die Landstraße und die Campfires so gut wie das Innere eines Bordells in St. Louis. Sie hat ihre Kindheit in den 1920er Jahren verbracht und ist in den Jahren der Großen Depression in der Dust Bowl der Wanderarbeiter umhergezogen. Die Einzelgängerin Doll hat sie als Kind gestohlen und in die Welt der Fahrenden geholt. Die Ruhelosigkeit wird sie in Gilead nicht ablegen, die Landstreicherin Doll nicht vergessen: „Ortsleute hielten sich für was Besseres. Das wussten sie alle und hassten sie dafür.“
Eine ehemalige Hure aus der Welt der homeless people heiratet einen alten, gütigen Reverend, schreibt auf dem Weg zur Taufe die Worte des Propheten Ezechiel ab, erhält einen Grundkurs in Bibellektüre und Erläuterungen zu den Predigten des Reverend – das klingt nach einer erbaulichen Legende. Es ist aber ein Roman, ganz von dieser Welt, der in einer gelassenen Prosa eher von Varianten der Einsamkeit erzählt als vom Ankommen in einer erlösungsgewissen Welt. Das Leben als Wander- und Pilgerschaft kann im Land der Pilgrim Fathers den religiösen Echoraum kaum verabschieden, aber erkennbar durch die historisch konkrete Welt führen, die „Vereinigten Staaten von Amerika“: so nennt der Roman ausdrücklich seinen Handlungsraum, er spielt zwischen Großer Depression und den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg.
Die Landstreicherin Doll steht im Zentrum der Erinnerungen Lilas an ihre Kindheit. Einer ihr nahen Erzählerstimme, die in der dritten Person berichtet, ist die Formung der Erinnerungen anvertraut. Durch die Sprache dieser Stimme wird das Messer der Landstreicherin, der stumme Zeuge eines Mordes, zu einer der Hauptfiguren des Romans. Ebenso das Wasser, der Gegenspieler des Staubs, als Element der Landschaft wie der Taufe.
Lilas Lebensstationen hat Marilynne Robinson kunstvoll ineinander geblendet. Die Kindheit, die Wanderjahre, die Ankunft in Gilead, zunächst in einer Hütte nahe der Stadt, dann in der Kirche, die rätselhafte Ehe mit dem Reverend, die Begegnung mit einem streunenden Jungen, in dem ihr ihre Heimatlosigkeit begegnet, schließlich Schwangerschaft und Geburt des Sohnes, alle diese Zeitschichten überlagern einander. Das ist nicht nur ein Tribut an die Erzähltechniken des modernen Romans. Es dient dazu, das Nicht-Ankommen der Figuren zu bewahren, ihre Einsamkeit. „Vielleicht bringe ich ihm eine neue Art Trauer bei“, denkt Lila über den Reverend. Diese Verlorenheit ist eingelassen in Landschaftsbilder, samt Brennnesseln, Löwenzahnblättern, Wildmöhren.
„Den Löwen hätte sie den lieben langen Tag brüllen sehen mögen.“ Der Metro-Goldwyn-Mayer-Löwe ist das Wappentier der wunderbaren Passagen über die Kino-Leidenschaft der Heldin. Er wacht über Lila im Etablissement in St. Louis und begleitet sie nach Gilead, wo es wundersamerweise ein Kino gibt. Lila sieht „To Have and Have Not“, „Der Schatz der Sierra Madre“, „The Postman Always Rings Twice“ und vieles andere: „Sie musste an die alten Zeiten denken, als sie nur für ihre paar Stunden im Kino gelebt hatte, wo alle im Saal über die schönen Gespenster an dem unerreichbaren Ort seufzten und weinten und lachten, wo Leute Leben lebten, an denen auch Fremden was liegen konnte.“ Das gilt auch für diesen Roman: er zeigt Leben, an denen auch Fremden liegen kann.
Die Übersetzung hat es nicht leicht angesichts der Spannweite des Originals, dessen Prosa blitzschnell zwischen Bibelton und Slang wechselt. Aber bis auf Kleinigkeiten – etwa eine windige Nacht „voll Baumgeräusche“ (statt „voller Baumgeräusche“) – ist „Lila“ im Deutschen angekommen. Die gesamte Trilogie sollte folgen.
Marilynne Robinson: Lila. Roman. Aus dem Englischen von Uda Strätling. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2015. 288 S., 21,99 Euro. E-Book 19,99 Euro.
Gilead, das kleine Kaff in
Iowa, heißt wie in der Bibel ein
Landstrich östlich des Jordan
Über das Leben der Heldin
wacht in schweren Zeiten der
Metro-Goldwyn-Mayer-Löwe
Marilynne Robinson.
Foto: S. Fischer
Kirchenorgel, Gestühl und Pult in Erwartung des abwesenden Reverend: Die Fotografie von Walker Evans entstand 1936.
Foto: Walker Evans/Library of Congress
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A masterpiece . . . Lila is a superb creation Publishers Weekly