Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.09.1997Von Mädchen und Wölfen
Zwei Jugendbücher über Waldeslust, Steinzeit und Selbstbestimmung
Wenn in der neueren Jugendliteratur von Wölfen erzählt wird, dann geht es oft auch um die großen gesellschaftlichen Themen der Menschen. Weibliche Hauptfiguren etwa haben trotz unterschiedlicher Landschaftskulissen und Zeitumstände eines gemeinsam: den Wunsch nach einem selbstbestimmten Leben.
Die schwedische Autorin Margit Geijer erzählt von Lina, einem Mädchen im neunzehnten Jahrhundert, das sich mehr zu den Wölfen hingezogen fühlt als zu den Menschen im Dorf. Nachdem man sie dort verachtet und ausgrenzt, wählt Lina schließlich das Leben im Wald, wo sie sich mit den Wölfen die Beute teilt. Vieles, was man sich von der Grausamkeit der Wölfe erzählt hat, ist erfunden, das erfährt sie jetzt. Lina beobachtet, wie die Tiere miteinander kommunizieren, wie sie sich gegenseitig gesund pflegen oder umeinander trauern. Beinahe möchte man glauben, sie habe im schwedischen Wald ihr ersehntes Paradies gefunden; naturmystische Stimmungen, vorgetragen in einem lyrischen Prosastil, erzeugen zudem eine mondsüchtige Atmosphäre. Die Tonlage ändert sich allerdings abrupt, als ihr Lieblingswolf Sarri ein Eichhörnchen erbeutet, das Lina ans Herz gewachsen ist. Der Traum vom friedlichen Garten Gottes ist gestört. Ein Propst, bei dem Lina während der härtesten Winterwochen Aufnahme findet, träumt ebenfalls von einem Lustgarten. Die Begegnung mit dem Mädchen stachelt zunächst seinen Bekehrungseifer an. Doch bringen Linas Erkenntnisse aus der Tierwelt sein theologisches Gerüst ins Wanken, auf dem der Mensch als das "vornehmste Wesen der Schöpfung" oben zu sitzen hat. Schließlich aber gelingt es dem Propst, Lina zurück in die menschliche Gemeinschaft zu führen.
Manches, was Lina sich über die Vor- und Frühzeit ausmalte, würde ihr Ruth Craigs sachkundiges Buch über Malu und ihre Wölfin bestätigen. Manches müßte sie auch enttäuschen: Die Gemeinschaften in der Vorzeit hatten strenge Vorschriften, die das Zusammenleben untereinander, aber auch den Umgang mit der Natur regelten. Die Wölfin Kono darf nur so lange bei dem Steinzeitmädchen Malu leben, wie sie keinem Menschen gefährlich wird. Am Anfang war also Erziehung Malu bildet den vielleicht ersten Wachhund der Menschheitsgeschichte aus. Die Aufgabe kommt ihr sehr gelegen, kann sie doch so den langweiligen Frauenarbeiten entgehen. Doch das Mädchen und seine Wölfin werden zu Opfern einer Intrige; Malu begibt sich auf eine abenteuerliche Flucht. Am Ende aber wendet sich alles zum Guten: Malu, mit höchsten Ehren ausgezeichnet, träumt gemeinsam mit dem Ältesten ihrer Sippe am Lagerfeuer von einer Mensch-Haustier-Idylle. Wir zivilisationsmüden Leser erhalten nach der Lektüre des Vorzeitabenteuers einen nachhaltigen Eindruck davon, was der kulturelle und technische Fortschritt für unsere Vorfahren einmal bedeutet haben mag. Um ihre Visionen beneiden wir sie ein wenig.
MYRIAM MIELES Ruth Craig: "Malus Wolf". Aus dem Amerikan. von Renate Weitbrecht. Carlsen Verlag, Hamburg 1997. 192 S., geb., DM 26,90. Ab 12J.
Margit Geijer: "Lina bei den Wölfen". Aus dem Schwedischen von Angelika Kutsch. Ill. von Maria Satter. Ravensburger Buchverlag, Ravensburg 1997. 236 S., geb., 19,80 DM. Ab12 J.
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Zwei Jugendbücher über Waldeslust, Steinzeit und Selbstbestimmung
Wenn in der neueren Jugendliteratur von Wölfen erzählt wird, dann geht es oft auch um die großen gesellschaftlichen Themen der Menschen. Weibliche Hauptfiguren etwa haben trotz unterschiedlicher Landschaftskulissen und Zeitumstände eines gemeinsam: den Wunsch nach einem selbstbestimmten Leben.
Die schwedische Autorin Margit Geijer erzählt von Lina, einem Mädchen im neunzehnten Jahrhundert, das sich mehr zu den Wölfen hingezogen fühlt als zu den Menschen im Dorf. Nachdem man sie dort verachtet und ausgrenzt, wählt Lina schließlich das Leben im Wald, wo sie sich mit den Wölfen die Beute teilt. Vieles, was man sich von der Grausamkeit der Wölfe erzählt hat, ist erfunden, das erfährt sie jetzt. Lina beobachtet, wie die Tiere miteinander kommunizieren, wie sie sich gegenseitig gesund pflegen oder umeinander trauern. Beinahe möchte man glauben, sie habe im schwedischen Wald ihr ersehntes Paradies gefunden; naturmystische Stimmungen, vorgetragen in einem lyrischen Prosastil, erzeugen zudem eine mondsüchtige Atmosphäre. Die Tonlage ändert sich allerdings abrupt, als ihr Lieblingswolf Sarri ein Eichhörnchen erbeutet, das Lina ans Herz gewachsen ist. Der Traum vom friedlichen Garten Gottes ist gestört. Ein Propst, bei dem Lina während der härtesten Winterwochen Aufnahme findet, träumt ebenfalls von einem Lustgarten. Die Begegnung mit dem Mädchen stachelt zunächst seinen Bekehrungseifer an. Doch bringen Linas Erkenntnisse aus der Tierwelt sein theologisches Gerüst ins Wanken, auf dem der Mensch als das "vornehmste Wesen der Schöpfung" oben zu sitzen hat. Schließlich aber gelingt es dem Propst, Lina zurück in die menschliche Gemeinschaft zu führen.
Manches, was Lina sich über die Vor- und Frühzeit ausmalte, würde ihr Ruth Craigs sachkundiges Buch über Malu und ihre Wölfin bestätigen. Manches müßte sie auch enttäuschen: Die Gemeinschaften in der Vorzeit hatten strenge Vorschriften, die das Zusammenleben untereinander, aber auch den Umgang mit der Natur regelten. Die Wölfin Kono darf nur so lange bei dem Steinzeitmädchen Malu leben, wie sie keinem Menschen gefährlich wird. Am Anfang war also Erziehung Malu bildet den vielleicht ersten Wachhund der Menschheitsgeschichte aus. Die Aufgabe kommt ihr sehr gelegen, kann sie doch so den langweiligen Frauenarbeiten entgehen. Doch das Mädchen und seine Wölfin werden zu Opfern einer Intrige; Malu begibt sich auf eine abenteuerliche Flucht. Am Ende aber wendet sich alles zum Guten: Malu, mit höchsten Ehren ausgezeichnet, träumt gemeinsam mit dem Ältesten ihrer Sippe am Lagerfeuer von einer Mensch-Haustier-Idylle. Wir zivilisationsmüden Leser erhalten nach der Lektüre des Vorzeitabenteuers einen nachhaltigen Eindruck davon, was der kulturelle und technische Fortschritt für unsere Vorfahren einmal bedeutet haben mag. Um ihre Visionen beneiden wir sie ein wenig.
MYRIAM MIELES Ruth Craig: "Malus Wolf". Aus dem Amerikan. von Renate Weitbrecht. Carlsen Verlag, Hamburg 1997. 192 S., geb., DM 26,90. Ab 12J.
Margit Geijer: "Lina bei den Wölfen". Aus dem Schwedischen von Angelika Kutsch. Ill. von Maria Satter. Ravensburger Buchverlag, Ravensburg 1997. 236 S., geb., 19,80 DM. Ab12 J.
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