Mit leichter Hand entführt Rada Biller uns in eine jüdische Patchworkfamilie,die über mehrere Generationen ihre Lebensstationen in Wladikawkas, Baku, Moskau und schließlich Israel findet.
Lina ist Medizinstudentin, Schwarzmarkthändlerin und Sekretärin, alles ein bisschen und nichts ganz. Lina ist eifersüchtige Mutter und leidenschaftliche Liebhaberin. Lina ist warmherzig, zornig - oder vernünftig, je nach Intuition. Die anderen - das sind die herzlich geliebten, schmerzvoll vermissten,manchmal auch heftig gescholtenen Familienmitglieder einer leicht erregbaren Großfamilie, die sich um das tägliche Auskommen in Baku und Moskau sorgen. Bei ihnen findet die Kosmopolitin Lina ihre Heimat und einen Zufluchtsort für ihr impulsives, chaosanfälliges Leben. Weltpolitische Geschehnisse und die Westpakete der Cousine verdrängen für kurze Zeit die eigenen existenziellen Sorgen und verändern die Situation - zum Guten und zum Schlechten. Rada Biller erzählt vom starken Zusammenhalt in Linas Patchworkfamilie und umspannt die zeitlichen Epochen des Zweiten Weltkriegs, der stalinistischen Diktatur, der Perestroika und schließlich auch die Gegenwart in der Immigration in Israel. In diesem Generationenroman verbinden sich Zeitgeschichte und Lebensschicksale authentisch zu einem literarischen Zeugnis unseres Jahrhunderts.
Lina ist Medizinstudentin, Schwarzmarkthändlerin und Sekretärin, alles ein bisschen und nichts ganz. Lina ist eifersüchtige Mutter und leidenschaftliche Liebhaberin. Lina ist warmherzig, zornig - oder vernünftig, je nach Intuition. Die anderen - das sind die herzlich geliebten, schmerzvoll vermissten,manchmal auch heftig gescholtenen Familienmitglieder einer leicht erregbaren Großfamilie, die sich um das tägliche Auskommen in Baku und Moskau sorgen. Bei ihnen findet die Kosmopolitin Lina ihre Heimat und einen Zufluchtsort für ihr impulsives, chaosanfälliges Leben. Weltpolitische Geschehnisse und die Westpakete der Cousine verdrängen für kurze Zeit die eigenen existenziellen Sorgen und verändern die Situation - zum Guten und zum Schlechten. Rada Biller erzählt vom starken Zusammenhalt in Linas Patchworkfamilie und umspannt die zeitlichen Epochen des Zweiten Weltkriegs, der stalinistischen Diktatur, der Perestroika und schließlich auch die Gegenwart in der Immigration in Israel. In diesem Generationenroman verbinden sich Zeitgeschichte und Lebensschicksale authentisch zu einem literarischen Zeugnis unseres Jahrhunderts.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 29.05.2007Im Unwetter der Weltgeschichte
Noch zwanzig Enkel bis Baku: In Rada Billers Familienroman „Lina und die anderen” geht nichts verloren
Den Auftakt zu Rada Billers neuem Roman darf man zugleich als Warnung lesen: „Lina und die anderen” sei eine lange Geschichte, in der „von vielen Menschen erzählt” werde, erfahren wir auf der ersten Seite. Untertrieben ist das nicht: Die Menschen kommen und gehen, tauchen im einen Satz auf, im nächsten wieder ab. Vor allem die diversen Ehemänner der Medizinstudentin und späteren Sekretärin Lina haben eine nicht allzu hohe Lebenserwartung: Krankheit rafft sie meist vor ihrer Zeit dahin.
Russische Romane sind immer schon verschwenderisch mit ihren Helden umgegangen. Auch Rada Biller, die auf russisch schreibende Mutter der Schriftsteller Maxim Biller und Elena Lappin, hat an Personal nicht gespart, was der Geschichte zuweilen etwas Flüchtiges und Skizzenhaftes verleiht. Das kraftvolle, höchst widersprüchliche Zentrum ihres Romans ist die Titelfigur, die heimliche Heldin aber ist Linas empathische Cousine Dara, die nur manchmal in den Lichtkegel geratende, dafür aber treue Retterin in allen Notlagen.
Denn als reiner Gefühlsmensch stürzt Lina sich in ihr Leben wie in einen Strudel, und es ist immer wieder ein Wunder, dass sie dabei nicht untergeht. Sie hat die Fähigkeit zu großer Leidenschaft, ist impulsiv, zuweilen jähzornig und wehmütig. Im Alter wird sie immer mehr zur Glucke und zum Mutterdrachen. Um Lina herum gruppiert Biller eine Großfamilie, deren Verästelungen wild in alle Richtungen wuchern. Berichtet wird dabei alles im gleichen, gleichmütigen Gestus – die Erzählmaschine läuft wie geölt, eine skurrile oder traurige Schnurre folgt auf die nächste. Ein rhythmischer, schmuckloser, ein bisschen ironischer, slawischer Ton lullt den Leser ein – als würde man im Zug sitzen, und die alte Dame auf dem Sitz gegenüber finge an, ihre Familiengeschichte ungefragt unters bahnfahrende Volk zu bringen. Alles stille Fluchen darüber, dass diese Familie so sehr mit Kindern gesegnet und weitverzweigt ist, hilft nicht.
Die Fahrt zieht sich hin, und die unvermeidlich irgendwann auch noch zu ihrem Erzählrecht kommenden Enkel sind noch lange nicht in Sicht. Manchmal aber horcht man doch auf und staunt über die kuriosen Gegebenheiten: Geschichten aus fernen Zeiten und einem fernen Land, Wohnungs- und Geldnöte, Schlitzohrigkeiten, die dem lakonischen Gang der Dinge und der Kargheit abgerungen werden.
Geografisch führt uns die Erzählung vor allem nach Moskau und in die aserbaidschanische Stadt Baku. Dort wurde die Autorin, die seit 37 Jahren in Deutschland lebt, 1930 geboren: Baku ist eine bunte Stadt – „Aserbaidshaner, Armenier, Juden, Russen, Angehörige verschiedener Bergvölker, die ans Meer heruntergekommen waren, oder Georgier und Dagestaner aus der Nachbarschaft – alles vermischte sich, und so ging es über Generationen weiter.” Generationen umfasst auch Rada Billers Saga, vom Zweiten Weltkrieg über den Stalinismus und die Perestroika bis zur Emigration nach Israel; die große Weltgeschichte rauscht an den Figuren vorbei wie ein Unwetter und dann wieder wie ein lauer Wind.
Die Helden trotzen allen Widrigkeiten mit unergründlicher Zähigkeit: Neuanfänge gehören zu ihrem Leben, meist wird das Glück auf später vertagt. „Lina und die anderen” ziehen sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf des (post-)sozialistischen Alltags, stellen sich immer wieder neuen Orten, neuen Menschen, kommen niemals zur Ruhe. Ruhelos ist auch Billers Roman – nichts darf verloren gehen, niemand durchs Erinnerungssieb fallen. Das Anekdotische aber lässt den Roman zerfasern; vor lauter kleinen Episoden sieht man kaum noch eine Geschichte.ULRICH RÜDENAUER
RADA BILLER: Lina und die anderen. Roman. Aus dem Russischen übersetzt von Beate Rausch. Berlin Verlag, Berlin 2007. 319 Seiten, 22 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
Noch zwanzig Enkel bis Baku: In Rada Billers Familienroman „Lina und die anderen” geht nichts verloren
Den Auftakt zu Rada Billers neuem Roman darf man zugleich als Warnung lesen: „Lina und die anderen” sei eine lange Geschichte, in der „von vielen Menschen erzählt” werde, erfahren wir auf der ersten Seite. Untertrieben ist das nicht: Die Menschen kommen und gehen, tauchen im einen Satz auf, im nächsten wieder ab. Vor allem die diversen Ehemänner der Medizinstudentin und späteren Sekretärin Lina haben eine nicht allzu hohe Lebenserwartung: Krankheit rafft sie meist vor ihrer Zeit dahin.
Russische Romane sind immer schon verschwenderisch mit ihren Helden umgegangen. Auch Rada Biller, die auf russisch schreibende Mutter der Schriftsteller Maxim Biller und Elena Lappin, hat an Personal nicht gespart, was der Geschichte zuweilen etwas Flüchtiges und Skizzenhaftes verleiht. Das kraftvolle, höchst widersprüchliche Zentrum ihres Romans ist die Titelfigur, die heimliche Heldin aber ist Linas empathische Cousine Dara, die nur manchmal in den Lichtkegel geratende, dafür aber treue Retterin in allen Notlagen.
Denn als reiner Gefühlsmensch stürzt Lina sich in ihr Leben wie in einen Strudel, und es ist immer wieder ein Wunder, dass sie dabei nicht untergeht. Sie hat die Fähigkeit zu großer Leidenschaft, ist impulsiv, zuweilen jähzornig und wehmütig. Im Alter wird sie immer mehr zur Glucke und zum Mutterdrachen. Um Lina herum gruppiert Biller eine Großfamilie, deren Verästelungen wild in alle Richtungen wuchern. Berichtet wird dabei alles im gleichen, gleichmütigen Gestus – die Erzählmaschine läuft wie geölt, eine skurrile oder traurige Schnurre folgt auf die nächste. Ein rhythmischer, schmuckloser, ein bisschen ironischer, slawischer Ton lullt den Leser ein – als würde man im Zug sitzen, und die alte Dame auf dem Sitz gegenüber finge an, ihre Familiengeschichte ungefragt unters bahnfahrende Volk zu bringen. Alles stille Fluchen darüber, dass diese Familie so sehr mit Kindern gesegnet und weitverzweigt ist, hilft nicht.
Die Fahrt zieht sich hin, und die unvermeidlich irgendwann auch noch zu ihrem Erzählrecht kommenden Enkel sind noch lange nicht in Sicht. Manchmal aber horcht man doch auf und staunt über die kuriosen Gegebenheiten: Geschichten aus fernen Zeiten und einem fernen Land, Wohnungs- und Geldnöte, Schlitzohrigkeiten, die dem lakonischen Gang der Dinge und der Kargheit abgerungen werden.
Geografisch führt uns die Erzählung vor allem nach Moskau und in die aserbaidschanische Stadt Baku. Dort wurde die Autorin, die seit 37 Jahren in Deutschland lebt, 1930 geboren: Baku ist eine bunte Stadt – „Aserbaidshaner, Armenier, Juden, Russen, Angehörige verschiedener Bergvölker, die ans Meer heruntergekommen waren, oder Georgier und Dagestaner aus der Nachbarschaft – alles vermischte sich, und so ging es über Generationen weiter.” Generationen umfasst auch Rada Billers Saga, vom Zweiten Weltkrieg über den Stalinismus und die Perestroika bis zur Emigration nach Israel; die große Weltgeschichte rauscht an den Figuren vorbei wie ein Unwetter und dann wieder wie ein lauer Wind.
Die Helden trotzen allen Widrigkeiten mit unergründlicher Zähigkeit: Neuanfänge gehören zu ihrem Leben, meist wird das Glück auf später vertagt. „Lina und die anderen” ziehen sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf des (post-)sozialistischen Alltags, stellen sich immer wieder neuen Orten, neuen Menschen, kommen niemals zur Ruhe. Ruhelos ist auch Billers Roman – nichts darf verloren gehen, niemand durchs Erinnerungssieb fallen. Das Anekdotische aber lässt den Roman zerfasern; vor lauter kleinen Episoden sieht man kaum noch eine Geschichte.ULRICH RÜDENAUER
RADA BILLER: Lina und die anderen. Roman. Aus dem Russischen übersetzt von Beate Rausch. Berlin Verlag, Berlin 2007. 319 Seiten, 22 Euro.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.08.2007Kriege in der Kommunalka
Familienchronik als Historienbild: Rada Billers zweiter Roman
In Rada Billers turbulenter Familiengeschichte sind die Frauen stark, lebenstüchtig und in jungen Jahren von "erlesener orientalischer Schönheit", während die Männer trinken, faul und schwächlich sind und meistens auch früh sterben. Die Stammeseltern Rachel und Mendel haben in Wladikawkas am Fuß des Kaukasus ein Uhrmachergeschäft besessen. Rachel kommt von weit her aus einem Schtetl an der polnischen Grenze zu Russland. Doch mit dem Umzug nach Baku und dem Tod von Mendel geht zwar die jüdische Tradition, nicht aber der Zusammenhalt weitgehend verloren.
Im Völkergemisch aus Russen, Armeniern, Aserbeidschanern, Georgiern und Dagestanern sind Juden nichts Besonderes. Wie alle anderen versuchen sie ungeachtet der katastrophalen Nöte unter sowjetischer Herrschaft zu überleben. Im Schlafzimmer steht lange Zeit noch ein Flügel, und um den einzigen Sohn in Moskau studieren zu lassen, nimmt die Familie große Opfer auf sich. Die "reiche" Armut der Intelligenz unterscheidet sie von ihren Nachbarn.
Rosa, Mendels Tochter, auffallend hübsch mit einer "wahnsinnig weiblichen Figur", heiratet den zwanzig Jahre älteren untüchtigen Grischa. Sie kommandiert, und er gehorcht. So "verbrachten sie gemeinsam ihr ganzes Leben in sowjetischer Armut". Mit solchen lapidaren und manchmal unbeholfenen Sätzen reiht Rada Biller ein Schicksal ans andere, ohne sich um genauere Beschreibung zu bemühen. Der Krieg verschlechtert die Lage noch. Rada Biller erwähnt ihn aber nur am Rande.
Als Rosas Tochter Lina nach Kriegsende nach Moskau zieht, in der Hoffnung, dass dort das Leben leichter und vielleicht auch nach dem Tod des ersten ein zweiter Ehemann zu finden sein würde, schlüpft sie bei Verwandten unter. Zu dritt oder zu viert in einem Zimmer von vierzehn Quadratmetern, mit dem Cousin in einem Bett, der eine die Füße am Kopfende des anderen - das bedarf keiner Erklärung. Die Kommunalka, die Gemeinschaftswohnung, mit einem einzigen Wasserhahn und einem Herd für sechs Familien ist in Moskau nichts Ungewöhnliches. Trotzdem sind sie alle "unverzagt", sie haben Arbeit und längst nicht die Hoffnung auf Besserung aufgegeben. Lina, die in Baku eine gewiefte Schwarzhändlerin war, heiratet sogar einen verwitweten Oberst, der in Tallinn stationiert ist. Ihre Cousine Dara aber wandert mit ihrem ungarischen Mann ins westliche Paradies nach Hamburg aus, was lebenslangen Abschied, aber auch die begehrten Pakete mit westlichen Konsumgütern für die Daheimgebliebenen bedeutet und Linas weitere Existenz sichert.
Rada Biller setzt ihre Familienchronik zuweilen im Stakkato fort. Lakonisch registriert sie, wer sich streitet, hilft, krank ist, eifersüchtig oder Angst vor Denunziationen hat, festgenommen oder sogar erschossen worden ist. Der Staat ist der Besitzer seiner Bürger, das ist klar, er deformiert und vernichtet sie willkürlich. Als die Perestrojka wie vom Himmel fällt, weiß niemand in Baku, wohin Lina wieder zurückgekehrt ist, mit der Freiheit umzugehen. Pogrome drohen, ein zweites armenisches Massaker womöglich. In Nagornyj Karabach bricht die alte unverheilte Wunde wieder auf. Skinheads machen Jagd auf "Personen kaukasischer Nationalität". Wehe, wer dunkle Haare besitzt!
Lina und wer von ihrer Familie übrig geblieben ist, flüchtet vor den Banden. Auf Umwegen gelangen sie nach Tel Aviv. Verglichen mit Baku, finden sie es in Israel friedlich und ruhig. Auf Emigrantenart sind sie sogar glücklich. Keine Kommunalka mehr, eine eigene Wohnung, eigenes, wenn auch knappes Geld - und Russisch verstehen hier auch viele. So leben sie provisorisch weiter "typisch russisch, von Tag zu Tag".
Rada Biller hat hier wie in ihrem ersten Roman "Melonenschalen" viel Autobiographisches verarbeitet. 1930 in Baku geboren, hat sie in Moskau, Baschkirien und Prag gelebt, ehe sie 1970 mit ihrer Familie in Hamburg Fuß fasste. Beate Rausch hat den Roman übersetzt, leider oft sehr holprig. Ein Bild dieser Zeit ist trotzdem entstanden, wenn auch nicht von literarischer Qualität.
MARIA FRISÉ
Rada Biller: "Lina und die anderen". Roman. Aus dem Russischen übersetzt von Beate Rausch. Berlin Verlag, Berlin 2007. 319 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Familienchronik als Historienbild: Rada Billers zweiter Roman
In Rada Billers turbulenter Familiengeschichte sind die Frauen stark, lebenstüchtig und in jungen Jahren von "erlesener orientalischer Schönheit", während die Männer trinken, faul und schwächlich sind und meistens auch früh sterben. Die Stammeseltern Rachel und Mendel haben in Wladikawkas am Fuß des Kaukasus ein Uhrmachergeschäft besessen. Rachel kommt von weit her aus einem Schtetl an der polnischen Grenze zu Russland. Doch mit dem Umzug nach Baku und dem Tod von Mendel geht zwar die jüdische Tradition, nicht aber der Zusammenhalt weitgehend verloren.
Im Völkergemisch aus Russen, Armeniern, Aserbeidschanern, Georgiern und Dagestanern sind Juden nichts Besonderes. Wie alle anderen versuchen sie ungeachtet der katastrophalen Nöte unter sowjetischer Herrschaft zu überleben. Im Schlafzimmer steht lange Zeit noch ein Flügel, und um den einzigen Sohn in Moskau studieren zu lassen, nimmt die Familie große Opfer auf sich. Die "reiche" Armut der Intelligenz unterscheidet sie von ihren Nachbarn.
Rosa, Mendels Tochter, auffallend hübsch mit einer "wahnsinnig weiblichen Figur", heiratet den zwanzig Jahre älteren untüchtigen Grischa. Sie kommandiert, und er gehorcht. So "verbrachten sie gemeinsam ihr ganzes Leben in sowjetischer Armut". Mit solchen lapidaren und manchmal unbeholfenen Sätzen reiht Rada Biller ein Schicksal ans andere, ohne sich um genauere Beschreibung zu bemühen. Der Krieg verschlechtert die Lage noch. Rada Biller erwähnt ihn aber nur am Rande.
Als Rosas Tochter Lina nach Kriegsende nach Moskau zieht, in der Hoffnung, dass dort das Leben leichter und vielleicht auch nach dem Tod des ersten ein zweiter Ehemann zu finden sein würde, schlüpft sie bei Verwandten unter. Zu dritt oder zu viert in einem Zimmer von vierzehn Quadratmetern, mit dem Cousin in einem Bett, der eine die Füße am Kopfende des anderen - das bedarf keiner Erklärung. Die Kommunalka, die Gemeinschaftswohnung, mit einem einzigen Wasserhahn und einem Herd für sechs Familien ist in Moskau nichts Ungewöhnliches. Trotzdem sind sie alle "unverzagt", sie haben Arbeit und längst nicht die Hoffnung auf Besserung aufgegeben. Lina, die in Baku eine gewiefte Schwarzhändlerin war, heiratet sogar einen verwitweten Oberst, der in Tallinn stationiert ist. Ihre Cousine Dara aber wandert mit ihrem ungarischen Mann ins westliche Paradies nach Hamburg aus, was lebenslangen Abschied, aber auch die begehrten Pakete mit westlichen Konsumgütern für die Daheimgebliebenen bedeutet und Linas weitere Existenz sichert.
Rada Biller setzt ihre Familienchronik zuweilen im Stakkato fort. Lakonisch registriert sie, wer sich streitet, hilft, krank ist, eifersüchtig oder Angst vor Denunziationen hat, festgenommen oder sogar erschossen worden ist. Der Staat ist der Besitzer seiner Bürger, das ist klar, er deformiert und vernichtet sie willkürlich. Als die Perestrojka wie vom Himmel fällt, weiß niemand in Baku, wohin Lina wieder zurückgekehrt ist, mit der Freiheit umzugehen. Pogrome drohen, ein zweites armenisches Massaker womöglich. In Nagornyj Karabach bricht die alte unverheilte Wunde wieder auf. Skinheads machen Jagd auf "Personen kaukasischer Nationalität". Wehe, wer dunkle Haare besitzt!
Lina und wer von ihrer Familie übrig geblieben ist, flüchtet vor den Banden. Auf Umwegen gelangen sie nach Tel Aviv. Verglichen mit Baku, finden sie es in Israel friedlich und ruhig. Auf Emigrantenart sind sie sogar glücklich. Keine Kommunalka mehr, eine eigene Wohnung, eigenes, wenn auch knappes Geld - und Russisch verstehen hier auch viele. So leben sie provisorisch weiter "typisch russisch, von Tag zu Tag".
Rada Biller hat hier wie in ihrem ersten Roman "Melonenschalen" viel Autobiographisches verarbeitet. 1930 in Baku geboren, hat sie in Moskau, Baschkirien und Prag gelebt, ehe sie 1970 mit ihrer Familie in Hamburg Fuß fasste. Beate Rausch hat den Roman übersetzt, leider oft sehr holprig. Ein Bild dieser Zeit ist trotzdem entstanden, wenn auch nicht von literarischer Qualität.
MARIA FRISÉ
Rada Biller: "Lina und die anderen". Roman. Aus dem Russischen übersetzt von Beate Rausch. Berlin Verlag, Berlin 2007. 319 S., geb., 22,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Eine Hymne ist das nicht, aber irgendwie saß der Rezensent Marcus Clauer doch ganz gern "auf dem Schoß" der Erzählerin Rada Biller. Nachdem mit dem Erstling "Melonenschale" von 2003 das autobiografische Potenzial ausgeschöpft wurde, geht es nun ganz fiktiv um einen "Wirbel der Weltenläufte", den die Rezensionsnotiz eher summarisch erwähnen als im einzelnen erläutern könnte. Viel passiert im Roman, "dick aufgetragen" ist's, was aber offenbar nicht unbedingt zum Schlechten ausschlägt. Um etwas anderes als eine "melancholische Seifenoper" handelt es sich nicht, mehr will es wohl auch nicht sein. Und als solche hat Clauer sie wohl gerne gelesen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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