Während des amerikanischen Bürgerkriegs stirbt Präsident Lincolns geliebter Sohn Willie mit elf Jahren. Laut Zeitungsberichten suchte der trauernde Vater allein das Grabmal auf, um seinen Sohn noch einmal in den Armen zu halten. Bei George Saunders wird daraus eine allumfassende Geschichte über Liebe und Verlust, wie sie origineller, faszinierender und grandioser nicht sein könnte.
Im Laufe dieser Nacht, in der Abraham Lincoln von seinem Sohn Abschied nimmt, werden die Gespenster wach, die Geister der Toten auf dem Friedhof, aber auch die der Geschichte und der Literatur, reale wie erfundene, und mischen sich ein. Denn Willie Lincoln befindet sich im Zwischenreich zwischen Diesseits und Jenseits, in tibetischer Tradition Bardo genannt, und auf dem Friedhof in Georgetown entbrennt ein furioser Streit um die Seele des Jungen, ein vielstimmiger Chor, der in die eine große Frage mündet: Warum lieben wir überhaupt, wenn wir doch wissen, dass alles zu Ende gehen muss?
Im Laufe dieser Nacht, in der Abraham Lincoln von seinem Sohn Abschied nimmt, werden die Gespenster wach, die Geister der Toten auf dem Friedhof, aber auch die der Geschichte und der Literatur, reale wie erfundene, und mischen sich ein. Denn Willie Lincoln befindet sich im Zwischenreich zwischen Diesseits und Jenseits, in tibetischer Tradition Bardo genannt, und auf dem Friedhof in Georgetown entbrennt ein furioser Streit um die Seele des Jungen, ein vielstimmiger Chor, der in die eine große Frage mündet: Warum lieben wir überhaupt, wenn wir doch wissen, dass alles zu Ende gehen muss?
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.05.2018Wenn sich alle auf dem Friedhof treffen
Gothic? Fantasy? Historischer Roman? George Saunders lässt Lincolns Sohn noch eine Weile leben
Im Februar 1862, so berichteten amerikanische Zeitungen damals, mitten in den Wirren des Bürgerkriegs, sah man Abraham Lincoln nachts auf dem Oak Hill Cemetery, wo er am Grab seines kürzlich verstorbenen Sohns Willie saß und ihn im Arm hielt. Auf dieser kurzen Meldung beruht George Saunders' erster Roman "Lincoln im Bardo", der nun in deutscher Übersetzung erscheint. Ein Roman nach wahren Begebenheiten also. Sozusagen.
George Saunders, der 1958 in Texas geboren wurde, ist, obwohl er bereits seit über zwanzig Jahren Essays und Kurzgeschichten schreibt, in Deutschland ein nahezu unbekannter Autor. Vielleicht wird sich das nun ändern, nachdem sein in den Vereinigten Staaten sehnsüchtig erwartetes Romandebüt im vergangenen Jahr mit dem Man Booker Price ausgezeichnet wurde. Ein Buch, das zwar die Bezeichnung "Roman" trägt, sich in seiner Form jedoch deutlich von dem unterscheidet, was man im Allgemeinen von diesem Genre erwartet.
Es ist das erste Jahr des Bürgerkriegs. Die Lincolns feiern einen ihrer großen Staatsempfänge, während Willie, ihr elfjähriger Sohn, mit hohem Fieber im Bett liegt. Ein Fieber, von dem er sich nicht mehr erholen wird, und schon bald begleitet ihn eine riesige Trauerprozession auf den Friedhof. "Lincoln im Bardo" erzählt von seiner ersten Nacht dort. Er muss sie nicht allein verbringen: Nicht nur bekommt er Besuch von seinem trauernden Vater - auch bereits Verstorbene leisten ihm Gesellschaft. Sie sind die eigentlichen Hauptfiguren des Romans und befinden sich wie Willie im "Bardo", was in der Tradition des tibetanischen Buddhismus eine Art Zwischenzustand bezeichnet, den Übergang zwischen Leben und Tod. Die drei Protagonisten des Romans sind Tote, die sich aus unterschiedlichen Gründen nicht mit dieser Situation abfinden wollen - zwei von ihnen glauben gar, noch ins Leben zurückkehren zu können. Ihre Särge bezeichnen sie als "Kranken-Kisten", als seien diese, wie auch der Friedhof, der "Kranken-Hof", nur ein temporärer Aufenthaltsort, als könnten sie bald wieder ins "richtige" Leben zurückkehren und dieses fortsetzen.
Er wehre sich dennoch gegen den Begriff "Geister", erklärte Saunders in einem Interview dem amerikanischen Radiojournalisten Michael Silverblatt, weil man da an lächerliche Gestalten in weißen Bettlaken denke, die mit seinen Figuren nun überhaupt nichts zu tun hätten. Indem viele der Toten näher an ihrem Leben zu sein scheinen, als sie es jemals waren, erinnern sie tatsächlich eher an Figuren aus Dantes "Inferno" als an Gespenster: Ihre Empfindungen sind intensiver, ihre Liebe und ihr Bereuen endlos. Sie sind keinesfalls gruselig, auch wenn einige von ihnen, die in den Schlachten des Bürgerkriegs gefallen sind, auf grausige Weise entstellt sind. Vielmehr zeigt sich in ihrem toten Selbst häufig das, was sie an ihrem Leben am meisten vermissen, was manchmal zu grotesker Komik führt. Roger Bevins III, ein sehr empfindsamer junger Mann, kann gar nicht genug in Erinnerungen schwelgen und besteht dann förmlich aus Augen, Ohren, Nasen und Händen, "wie ein überladenes fleischliches Bouquet". Hans Vollman, von einem Balken erschlagen und mit riesigem Loch im Kopf, wünscht sich nichts mehr als zum ersten Mal mit seiner jungen Frau zu schlafen - und läuft nun fortan mit einem riesigen erigierten Penis herum. Der elfjährige Willie ist von ihrem Anblick einigermaßen überrascht.
Es ist unter anderem dieser Witz, der meist verhindert, dass der Roman in eine sehr seltsame Gothic-Erzählung abrutscht, auch wenn er zeitweise hart an der Grenze dazu vorbeischrammt. Es knallt, es blitzt, und Dämonen versuchen die Toten ins endgültige Jenseits zu befördern. Willie wird von den Mächten des Bösen gelockt, eine "lianenartige Ranke" fesselt ihn ans Dach seiner Gruft, und, überwuchert von etwas, "das man am ehesten als plazentale Haut bezeichnen könnte", beginnt er, sich in ein neues Stadium zu verwandeln. Das muss man schon mögen.
Doch selbst wenn nicht, lohnt es sich, darüber hinwegzusehen, weil "Lincoln im Bardo" trotz seiner phantastischen Elemente auch ein sehr ungewöhnlicher historischer Roman ist, der einem ein Panorama der amerikanischen Gesellschaft während des Bürgerkriegs präsentiert. Denn auf dem Friedhof treffen alle zusammen, und weil jeder der Bewohner seine Geschichte erzählen will, strömt ein ganzer Stimmenchor auf Willie ein: vom Leben enttäuschte Ehefrauen, Dandys, Geistliche, Soldaten, Saufbolde und Sklaven. Letztere liegen nicht bei den anderen, sondern in den Armengräbern hinter dem "gefürchteten Eisenzaun" - in Massengräbern ohne "Kranken-Kiste". Sie alle verbindet der Wunsch, ins Leben zurückzukehren, und die Neugier, den seltsamen Mann zu sehen, der nachts in ihr Reich kommt, um einem von ihnen nahe zu sein. So eint Abraham Lincoln zwar zu diesem Zeitpunkt noch nicht die Lebenden, die sich im Kampf um den Süden zu Tausenden ermorden, aber die Toten, die, teilweise schon Jahrzehnte verstorben, nicht wissen, dass er der Präsident ist, und nur einen Mann sehen, der um seinen Sohn trauert. Natürlich ist das ein wenig kitschig, wie einige Stellen des Buches, aber auch sehr rührend.
Tote, die versuchen, noch irgendwie in ihrem alten Leben herumzuspuken, sind keine ganz neue Idee - klassische Geistergeschichten gibt es zuhauf. Das Besondere an Saunders' Roman aber ist die Art und Weise, mit der er seine Figuren sprechen lässt: Alle Charaktere des Romans, 166 sind es insgesamt, kommen direkt zu Wort, ohne durch eine Erzählerstimme gefiltert zu werden. So ähnelt der Text in vielerlei Hinsicht eher einem Drama oder einem Drehbuch als einem Prosatext.
Doch nicht nur das: Neben den fiktiven Toten auf dem Friedhof zitiert Saunders historische Quellen: Biographien, Memoiren, Briefe und wissenschaftliche Publikationen. Viele davon existieren tatsächlich, andere sind vielleicht erfunden, doch das spielt eigentlich keine Rolle, weil diese Aneinanderreihung von Textstücken ohnehin die klare Trennung von Fiktion und Wirklichkeit in Frage stellt: So erzählt der eine vom "wunderschönen Mond, der an diesem Abend schien", der andere behauptet, es sei gar kein Mond zu sehen gewesen - "der Himmel war wolkenverhangen". Abraham Lincoln ist hässlich und gutaussehend zugleich, "der traurigste Mensch auf der Welt", mit ansteckendem Lachen.
In all ihrer Widersprüchlichkeit kommen diese Beschreibungen wohl näher an die Figur heran, als es die Figurenbeschreibung einer einzelnen Erzählerstimme je könnte, denn schließlich, so merkt einer der Zeitgenossen an, hinge der Eindruck doch vor allem "von der Prädisposition des Betrachters ab". Gleiches gilt für Geschichte. Dass diese keinesfalls aus eindeutigen Fakten besteht, lernt man inzwischen sogar in der Schule. Diese Problematik jedoch so nebenbei zum Thema zu machen, indem man sie nicht anspricht, sondern dem Leser allein durch Quellen vor Augen führt, ist Saunders unglaublich gut gelungen. Lincoln ist während des Bürgerkriegs weit davon entfernt, die Ikone zu sein, die er heute ist: "Der Präs ist ein Idiot", schreibt lakonisch einer seiner Zeitgenossen und fasst damit einige der ausführlicheren Darstellungen recht treffend zusammen. Bilder, die wir uns von der Geschichte und ihren Protagonisten machen, entstehen nunmal häufig sehr viel später als zu Zeiten ihres eigentlichen Geschehens.
Trotz all dieser Ideen ist es schwierig, etwas über Saunders' Buch zu sagen, ohne dass es abschreckend wirkt: Ein historischer Roman mit Fantasy-Elementen in Drehbuchform klingt eher nach einer Sache für Liebhaber. Doch es ist genau diese Mischung, die das Buch so außergewöhnlich und gleichzeitig klug macht. Es erzählt von Trauer, nicht nur aus Sicht derer, die zurückbleiben, sondern auch aus der derjenigen, die gegangen sind. Von der amerikanischen Gesellschaft und Geschichte, gerade deshalb, weil alle zu Wort kommen, häufig mit ihren eigenen Worten. Und es ist, nicht zuletzt, ein sehr, sehr lustiges und unterhaltsames Buch. Trotz aller Übersinnlichkeit könnte man fast meinen, es sei näher an "den wahren Begebenheiten" als manch anderer Roman, der das Gleiche für sich in Anspruch nimmt.
ANNA VOLLMER
George Saunders: "Lincoln im Bardo". Roman. Aus dem Englischen von Frank Heibert. Luchterhand, 448 Seiten, 25 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Gothic? Fantasy? Historischer Roman? George Saunders lässt Lincolns Sohn noch eine Weile leben
Im Februar 1862, so berichteten amerikanische Zeitungen damals, mitten in den Wirren des Bürgerkriegs, sah man Abraham Lincoln nachts auf dem Oak Hill Cemetery, wo er am Grab seines kürzlich verstorbenen Sohns Willie saß und ihn im Arm hielt. Auf dieser kurzen Meldung beruht George Saunders' erster Roman "Lincoln im Bardo", der nun in deutscher Übersetzung erscheint. Ein Roman nach wahren Begebenheiten also. Sozusagen.
George Saunders, der 1958 in Texas geboren wurde, ist, obwohl er bereits seit über zwanzig Jahren Essays und Kurzgeschichten schreibt, in Deutschland ein nahezu unbekannter Autor. Vielleicht wird sich das nun ändern, nachdem sein in den Vereinigten Staaten sehnsüchtig erwartetes Romandebüt im vergangenen Jahr mit dem Man Booker Price ausgezeichnet wurde. Ein Buch, das zwar die Bezeichnung "Roman" trägt, sich in seiner Form jedoch deutlich von dem unterscheidet, was man im Allgemeinen von diesem Genre erwartet.
Es ist das erste Jahr des Bürgerkriegs. Die Lincolns feiern einen ihrer großen Staatsempfänge, während Willie, ihr elfjähriger Sohn, mit hohem Fieber im Bett liegt. Ein Fieber, von dem er sich nicht mehr erholen wird, und schon bald begleitet ihn eine riesige Trauerprozession auf den Friedhof. "Lincoln im Bardo" erzählt von seiner ersten Nacht dort. Er muss sie nicht allein verbringen: Nicht nur bekommt er Besuch von seinem trauernden Vater - auch bereits Verstorbene leisten ihm Gesellschaft. Sie sind die eigentlichen Hauptfiguren des Romans und befinden sich wie Willie im "Bardo", was in der Tradition des tibetanischen Buddhismus eine Art Zwischenzustand bezeichnet, den Übergang zwischen Leben und Tod. Die drei Protagonisten des Romans sind Tote, die sich aus unterschiedlichen Gründen nicht mit dieser Situation abfinden wollen - zwei von ihnen glauben gar, noch ins Leben zurückkehren zu können. Ihre Särge bezeichnen sie als "Kranken-Kisten", als seien diese, wie auch der Friedhof, der "Kranken-Hof", nur ein temporärer Aufenthaltsort, als könnten sie bald wieder ins "richtige" Leben zurückkehren und dieses fortsetzen.
Er wehre sich dennoch gegen den Begriff "Geister", erklärte Saunders in einem Interview dem amerikanischen Radiojournalisten Michael Silverblatt, weil man da an lächerliche Gestalten in weißen Bettlaken denke, die mit seinen Figuren nun überhaupt nichts zu tun hätten. Indem viele der Toten näher an ihrem Leben zu sein scheinen, als sie es jemals waren, erinnern sie tatsächlich eher an Figuren aus Dantes "Inferno" als an Gespenster: Ihre Empfindungen sind intensiver, ihre Liebe und ihr Bereuen endlos. Sie sind keinesfalls gruselig, auch wenn einige von ihnen, die in den Schlachten des Bürgerkriegs gefallen sind, auf grausige Weise entstellt sind. Vielmehr zeigt sich in ihrem toten Selbst häufig das, was sie an ihrem Leben am meisten vermissen, was manchmal zu grotesker Komik führt. Roger Bevins III, ein sehr empfindsamer junger Mann, kann gar nicht genug in Erinnerungen schwelgen und besteht dann förmlich aus Augen, Ohren, Nasen und Händen, "wie ein überladenes fleischliches Bouquet". Hans Vollman, von einem Balken erschlagen und mit riesigem Loch im Kopf, wünscht sich nichts mehr als zum ersten Mal mit seiner jungen Frau zu schlafen - und läuft nun fortan mit einem riesigen erigierten Penis herum. Der elfjährige Willie ist von ihrem Anblick einigermaßen überrascht.
Es ist unter anderem dieser Witz, der meist verhindert, dass der Roman in eine sehr seltsame Gothic-Erzählung abrutscht, auch wenn er zeitweise hart an der Grenze dazu vorbeischrammt. Es knallt, es blitzt, und Dämonen versuchen die Toten ins endgültige Jenseits zu befördern. Willie wird von den Mächten des Bösen gelockt, eine "lianenartige Ranke" fesselt ihn ans Dach seiner Gruft, und, überwuchert von etwas, "das man am ehesten als plazentale Haut bezeichnen könnte", beginnt er, sich in ein neues Stadium zu verwandeln. Das muss man schon mögen.
Doch selbst wenn nicht, lohnt es sich, darüber hinwegzusehen, weil "Lincoln im Bardo" trotz seiner phantastischen Elemente auch ein sehr ungewöhnlicher historischer Roman ist, der einem ein Panorama der amerikanischen Gesellschaft während des Bürgerkriegs präsentiert. Denn auf dem Friedhof treffen alle zusammen, und weil jeder der Bewohner seine Geschichte erzählen will, strömt ein ganzer Stimmenchor auf Willie ein: vom Leben enttäuschte Ehefrauen, Dandys, Geistliche, Soldaten, Saufbolde und Sklaven. Letztere liegen nicht bei den anderen, sondern in den Armengräbern hinter dem "gefürchteten Eisenzaun" - in Massengräbern ohne "Kranken-Kiste". Sie alle verbindet der Wunsch, ins Leben zurückzukehren, und die Neugier, den seltsamen Mann zu sehen, der nachts in ihr Reich kommt, um einem von ihnen nahe zu sein. So eint Abraham Lincoln zwar zu diesem Zeitpunkt noch nicht die Lebenden, die sich im Kampf um den Süden zu Tausenden ermorden, aber die Toten, die, teilweise schon Jahrzehnte verstorben, nicht wissen, dass er der Präsident ist, und nur einen Mann sehen, der um seinen Sohn trauert. Natürlich ist das ein wenig kitschig, wie einige Stellen des Buches, aber auch sehr rührend.
Tote, die versuchen, noch irgendwie in ihrem alten Leben herumzuspuken, sind keine ganz neue Idee - klassische Geistergeschichten gibt es zuhauf. Das Besondere an Saunders' Roman aber ist die Art und Weise, mit der er seine Figuren sprechen lässt: Alle Charaktere des Romans, 166 sind es insgesamt, kommen direkt zu Wort, ohne durch eine Erzählerstimme gefiltert zu werden. So ähnelt der Text in vielerlei Hinsicht eher einem Drama oder einem Drehbuch als einem Prosatext.
Doch nicht nur das: Neben den fiktiven Toten auf dem Friedhof zitiert Saunders historische Quellen: Biographien, Memoiren, Briefe und wissenschaftliche Publikationen. Viele davon existieren tatsächlich, andere sind vielleicht erfunden, doch das spielt eigentlich keine Rolle, weil diese Aneinanderreihung von Textstücken ohnehin die klare Trennung von Fiktion und Wirklichkeit in Frage stellt: So erzählt der eine vom "wunderschönen Mond, der an diesem Abend schien", der andere behauptet, es sei gar kein Mond zu sehen gewesen - "der Himmel war wolkenverhangen". Abraham Lincoln ist hässlich und gutaussehend zugleich, "der traurigste Mensch auf der Welt", mit ansteckendem Lachen.
In all ihrer Widersprüchlichkeit kommen diese Beschreibungen wohl näher an die Figur heran, als es die Figurenbeschreibung einer einzelnen Erzählerstimme je könnte, denn schließlich, so merkt einer der Zeitgenossen an, hinge der Eindruck doch vor allem "von der Prädisposition des Betrachters ab". Gleiches gilt für Geschichte. Dass diese keinesfalls aus eindeutigen Fakten besteht, lernt man inzwischen sogar in der Schule. Diese Problematik jedoch so nebenbei zum Thema zu machen, indem man sie nicht anspricht, sondern dem Leser allein durch Quellen vor Augen führt, ist Saunders unglaublich gut gelungen. Lincoln ist während des Bürgerkriegs weit davon entfernt, die Ikone zu sein, die er heute ist: "Der Präs ist ein Idiot", schreibt lakonisch einer seiner Zeitgenossen und fasst damit einige der ausführlicheren Darstellungen recht treffend zusammen. Bilder, die wir uns von der Geschichte und ihren Protagonisten machen, entstehen nunmal häufig sehr viel später als zu Zeiten ihres eigentlichen Geschehens.
Trotz all dieser Ideen ist es schwierig, etwas über Saunders' Buch zu sagen, ohne dass es abschreckend wirkt: Ein historischer Roman mit Fantasy-Elementen in Drehbuchform klingt eher nach einer Sache für Liebhaber. Doch es ist genau diese Mischung, die das Buch so außergewöhnlich und gleichzeitig klug macht. Es erzählt von Trauer, nicht nur aus Sicht derer, die zurückbleiben, sondern auch aus der derjenigen, die gegangen sind. Von der amerikanischen Gesellschaft und Geschichte, gerade deshalb, weil alle zu Wort kommen, häufig mit ihren eigenen Worten. Und es ist, nicht zuletzt, ein sehr, sehr lustiges und unterhaltsames Buch. Trotz aller Übersinnlichkeit könnte man fast meinen, es sei näher an "den wahren Begebenheiten" als manch anderer Roman, der das Gleiche für sich in Anspruch nimmt.
ANNA VOLLMER
George Saunders: "Lincoln im Bardo". Roman. Aus dem Englischen von Frank Heibert. Luchterhand, 448 Seiten, 25 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur WELT-Rezension
Wieland Freund ist überrascht, wie in George Saunders' historischem Roman der Leidenszyklus im Totenreich unversehens zum Fest des Lebens umgebogen wird, noch dazu ganz unkitschig. Tollkühn findet er das. Das Buch erinnert ihn ans Purgatorium, aber auch an die gute alte viktorianische Spukgeschichte, an antike Tragödien und derbe Mysterienspiele. Der Chor der Geister, der die zentrale Erzählstimme ersetzt, versetzt mit zeitgenössischem dokumentarischen Material, hat es Freund angetan, auch wenn außer den Gefühlen im Buch nichts verlässlich ist, wie der Rezensent feststellt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Ein solches Buch wird man so bald nicht wieder lesen.« Andreas Isenschmid / DIE ZEIT