Produktdetails
  • Verlag: Import / Putnam
  • Seitenzahl: 628
  • Englisch
  • Abmessung: 240mm
  • Gewicht: 1062g
  • ISBN-13: 9780399144493
  • Artikelnr.: 39596560
  • Herstellerkennzeichnung
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Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.10.1999

Ob Ruhm so viel Unbequemlichkeit lohnt?
A. Scott Berg hat die Trümmer von Lindberghs Leben eingesammelt / Von Rainer Maria Kiesow

Le Bourget ist eine kleine Gemeinde im Département Seine-St.-Denis. Wenn man heute, von der Kapitale kommend, mit dem RER zum Flughafen Charles de Gaulle fährt, gleiten Lagerhallen, Brachflächen und Produktionsstätten vor dem Fenster vorbei - Ortschaften sind in dem nordöstlichen Abschnitt der Pariser Banlieue schon lange nicht mehr auszumachen. Und doch ragen zwei Orte aus dieser Agglomeration hervor: Saint-Denis mit seiner Kathedrale und eben Le Bourget, wo der erste Interkontinentalflughafen der Welt gebaut wurde. Wirklich bedeutend war Le Bourget aber Jahrzehnte zuvor: Am Abend des 21. Mai 1927 versammelten sich dort 150 000 Menschen. 10 000 Autos verstopften die Straße von Paris nach Le Bourget. Zehntausende waren auf den großen Boulevards der Hauptstadt, 30 000 strömten zur Place de l'Opéra, 15 000 zur Place d'Étoile.

Alle stellten sich nur eine Frage: Ist er angekommen? Der amerikanische Verleger Harry Crosby stand in Le Bourget: "Dann schoss, scharf und schnell im goldenen Strahl der Suchscheinwerfer, ein kleiner, weißer Falke von Flugzeug raubvogelgleich herunter und über die Landebahn - c'est lui, Lindbergh. LINDBERGH!" Es war 22.24 Uhr. 33 Stunden, 30 Minuten und 30 Sekunden zuvor war Charles Augustus Lindbergh in New York gestartet. Allein. Über Neuschottland flog er auf den atlantischen Ozean hinaus. Zum Teil nur wenige Meter über Wasser, um Benzin zu sparen. Die Gischt der Wellen spritzte ihm ins Gesicht. Achtundzwanzig Stunden nach dem Start sah er Boote und schrie den Fischern zu: "Wo geht's nach Irland?" Noch sechs Stunden bis Paris. Auf der ganzen Welt, von New York bis Tokio, versammelten sich die Menschen auf den Straßen. Alle warteten auf die Landung. Dann war es so weit. Lindbergh war gelungen, was kein Mensch vor ihm erreicht hatte.

Charles Augustus Lindbergh ist der ideale Mensch für eine Biografie. Er flog genau zum richtigen Zeitpunkt über den Atlantik. Radio, Telefon und Telegraf waren bereits in der Lage, die Welt zu informieren. Der gerade entwickelte Tonfilm dramatisierte das Reale. Die Presse jagte nach Sensationen. Lindbergh wurde mit seinem Flug der berühmteste Mensch auf Erden. Er war der erste mediale Superstar. Dabei hatte nichts darauf hingedeutet. Von einer Biografie darf man das Unerwartete erwarten, den kleinen Anfang großer Dinge.

Lindbergh wuchs zunächst in finanziell und intellektuell keineswegs kümmerlichen Verhältnissen auf. Die Mutter (deren Vater die Jacketkrone erfand) war Lehrerin, der Vater (dessen Vater mit einer Kellnerin von Schweden nach Amerika durchgebrannt war) Rechtsanwalt und Kongressabgeordneter. Seine Kritik an den großen Geldkonzernen und dem Eintritt Amerikas in den Ersten Weltkrieg erregte eine gewisse Aufmerksamkeit. Jedoch isolierte und blamierte er sich mehr und mehr. Er geriet zum Narren und Spinner. Er verarmte. Die Ehe verkam.

Der 1902 geborene Sohn, der in seiner Jugend nichts so sehr liebte wie die Natur, scheiterte im Studium und suchte 1922 Arbeit. Er wollte fliegen lernen und heuerte bei einer kleinen lokalen Luftschaugesellschaft an. Das Fliegen war damals noch eine Sensation. Der Erste Weltkrieg war der große Katalysator für die Flugzeugindustrie. Doch hatten viele Menschen - vor allem in der amerikanischen Provinz - noch nie ein Flugzeug gesehen. Lindbergh schloss sich einem tingelnden Kunstflieger an. Schließlich flog er selbst, eines Flugscheins bedurfte es in dieser Zeit nicht. Als recht erfahrener Pilot begann er dann eine Ausbildung bei den Streitkräften. Er wurde als Klassenbester Leutnant im Reservecorps der Luftwaffe. 1925 vergab die Regierung Luftpostrouten. Lindbergh gehörte zu deren Pionieren. Er überlebte mit Hilfe des Fallschirms mehrere Abstürze, was ihm zu regionaler Popularität verhalf. Die Gesellschaft, für die er flog, warb jedenfalls mit seinem Konterfei.

Im Frühjahr des Jahres 1927 war die Zeit reif für den Transatlantikflug. Mehrere Teams bereiteten sich darauf vor, um einen Preis von 25 000 Dollar zu gewinnen. Aber es gab Schwierigkeiten. Eine Maschine explodierte gleich nach dem Start, eine andere sah man nie wieder, eine dritte wurde wegen juristischer Streitigkeiten am Start gehindert. Lindbergh war allein, er hatte sich ein Flugzeug nach seinen Vorstellungen bauen lassen, Geschäftsleute aus Saint Louis unterstützten ihn vorbehaltlos. Und so startete er schließlich und landete auf der anderen Seite des großen Ozeans in einem neuen, noch nie da gewesenen Leben, das A. Scott Berg jetzt beschrieben hat.

Lindbergh sollte nie mehr zur Ruhe kommen. Am 21. Mai 1927 wurde der große Flieger zu einem gejagten Mann. Noch vor seiner Rückkehr per Schiff nach Amerika schrieben bereits ein Dutzend Biografen an seinem Leben. In Zeitungen erschienen Artikel von ihm, die er nie geschrieben hatte. Er wurde der meistfotografierte Mensch der Welt. In den ersten zwei Wochen nach seinem Flug erhielt er 500 000 Luftpostbriefe und Päckchen. In Amerika wurde er zu einem der wichtigsten Aufbauhelfer für die zivile Luftfahrt. Bis zu seinem Tod arbeitete er in führender Position bei Pan American Airways.

Im Jahre 1929 heiratete Lindbergh eine Diplomatentochter, der er das Fliegen beibrachte und mit der er um die Welt reiste - das erste fliegende Paar. 1930 wurde ihr erstes Kind geboren, das berühmteste Baby des Jahrhunderts. "Gebt dem Lindbergh-Baby eine Chance!", forderte im Winter 1931/32 "Time". Journalisten fürchteten um die Hör- und Sprechfähigkeit des kleinen Lindbergh, da die Mutter den Embryo während der Schwangerschaft beim Fliegen schutzlos dem Dröhnen der Flugzeugmotoren ausgesetzt hatte. Aber das Lindbergh-Baby wurde im Frühjahr 1932 entführt. Schließlich fand man die verstümmelte Leiche. Offenbar war das Kind schon bei der Entführung zusammen mit dem Entführer von einer Leiter gefallen und sofort tot. Der Vater hatte vor der grausigen Entdeckung Lösegeld bezahlt.

Zweieinhalb Jahre später wurde der vermeintliche Täter gefasst, der deutsche Zimmermann Bruno Richard Hauptmann. Dank einer noch nie da gewesenen Prozessberichterstattung verfolgte die Weltöffentlichkeit 1935 den Jahrhundertprozess. Nicht zuletzt auf Grund der Aussage Lindberghs - er identifizierte die Stimme, die er bei einem Treffen mit dem Entführer auf einem Friedhof gehört hatte - wurde der Angeklagte zum Tode verurteilt. Hauptmann leugnete die Tat bis zuletzt, und in der Tat ist die Diskussion um den Fall bis heute nicht zur Ruhe gekommen. Lindberghs zur Schau getragene Sicherheit im Prozess erschien vielen dubios. Der Superstar bekam die Macht der Medien zu spüren. Die Gegner der Todesstrafe formierten sich. Dem zweiten Kind der Lindberghs wurden die Fotoapparate vor das Säuglingsgesicht gedrückt. Am 23. Dezember 1935 titelte die "New York Times" mit einer vier Spalten breiten Schlagzeile: "Lindbergh-Familie fährt nach England. Sucht sicheren, einsamen Wohnsitz. Morddrohungen gegen Sohn erzwingen Entscheidung".

Mit dem Prozess und der Flucht der Familie nach England begann der lange währende Abstieg des fliegenden Goodwill-Botschafters zwischen den Völkern der Erde. Dabei hatte Lindbergh mit dem Flugzeug nicht nur ein Friedenssymbol zur internationalen Verständigung aus der Taufe gehoben, sondern auch ein Forschungsinstrument zur Erkundung fremder Völker, Gegenden, archäologischer Stätten entdeckt, das er zeit seines Lebens selbst dafür benutzte. Zudem war er als Ideengeber und Konstrukteur aktiv. Er unterstützte die Entwicklung von Raketen, stieß schon in den zwanziger Jahren die Anfänge des amerikanischen Raumfahrtprogramms an und entwickelte mit dem ersten Medizin-Nobelpreisträger Alexis Carrel eine Perfusionspumpe, die Lindbergh-Pumpe, mit deren Hilfe nun Organe aus dem Körper entfernt, aufbewahrt, repariert und wieder eingesetzt werden konnten. Doch der Ruhm war ihm unerbittlich auf den Fersen.

Lindbergh besuchte mehrfach Nazideutschland, wo er im Auftrag der amerikanischen Regierung die Luftwaffe inspizierte. Er konstatierte einen "starken, gesunden Geist", der im übrigen Europa fehle. Göring lud den berühmtesten Piloten der Welt ein und zeigte ihm Fotos der neuen Flugplätze. Im Herbst 1938 überreichte der Reichsluftfeldmarschall dem Amerikaner "auf Befehl des Führers" das "Verdienstkreuz Deutscher Adler". Lindbergh sah nie einen Anlass, diesen Orden zurückzugeben. Ende 1938 plante er sogar den Umzug nach Berlin. Dann kam die "Reichskristallnacht". Lindbergh schrieb in sein Tagebuch: "Meine Bewunderung für die Deutschen wird ständig gegen solche Klippen geschleudert." Ob er Antisemit war, ist unklar. Er hatte jüdische Förderer und Freunde, gab sich aber "beunruhigt über den jüdischen Einfluss in Presse, Rundfunk und Film" in Amerika. Jedenfalls war sein Bild in der Presse nachhaltig braun gefleckt.

Dramatische Züge nahm die publizistische Auseinandersetzung an, als Lindbergh sich gegen den Eintritt Amerikas in den Zweiten Weltkrieg engagierte - ganz in den Fußstapfen seines Vaters. Im berühmten "Committee to Defend America First" spielte er eine tragende Rolle. Er lehnte "ein von Deutschland beherrschtes Europa" nicht von vornherein ab, für ihn war die Sowjetunion das Reich des Bösen und von dort müsse das "Einsickern minderwertigen Blutes" verhindert werden. Erst nach dem japanischen Angriff auf Pearl Harbor war auch Lindbergh für Krieg und flog im Südpazifik spektakuläre Kampfeinsätze.

Nach dem Krieg war Lindberghs Hauptbeschäftigung das Reisen. Er begründete die Natur- und Umweltschutzbewegung mit, engagierte sich im Vorstand des World Wildlife Fund und schrieb. Mit seinen Büchern eroberte er sich das Publikum zeitweise zurück. Die Frage war zwar immer noch: "War Lindbergh ein Nazi?" Doch die Faszination des Fliegens war ungebrochen. "Mein Flug über den Ozean" wurde ein grandioser Erfolg. 1954 erhielt Lindbergh den Pulitzerpreis. Noch zwanzig Jahre lebte er ohne Rast. 1974 ließ er sich dann zum Sterben auf die Hawaii-Insel Maui fliegen.

Berg ist ein professioneller Lebensbeschreiber. Für "Max Perkins - Editor of Genius" (ein Lektor von Autoren wie Hemingway) und "Goldwyn: A Biography" erhielt er Auszeichnungen, für sein Lindbergh-Buch den Pulitzer-Preis - wie sein Held. Er konnte die bislang von der Lindbergh-Familie unter Verschluss gehaltenen Papiere seines Heros einsehen, zweitausend Schachteln. Er führte Interviews, besuchte Archive, las Bücher, Tagebücher, Aufzeichnungen, Briefe - und verliebte sich in sein Material. So sehr, dass er darüber Auswahl und Deutung in den Hintergrund drängte.

Das Resultat ist eine Überfülle an Details. Immer wieder wird dem Leser vorgeführt, mit wem, wo, wann, in welcher Garderobe, mit welcher Speisenfolge Lindbergh eingeladen wurde. "Vor dem Essen gab es Cocktails im kleinen Kreis mit den Kennedys . . ." Die eindrucksvollsten Passagen gelingen Berg dort, wo er am wenigsten weiß. Die Geschichte der Einwanderung der schwedischen Vorfahren, die Ansiedlung in Minnesota, der Aufstieg der Familie, der beginnende Abstieg - das sind eindrucksvolle, atmosphärisch dichte Beschreibungen. Doch kaum tritt Charles Augustus Lindbergh auf den Plan, gerät die Erzählung zur Aufzählung.

Besonders deutlich zeigt sich dies bei der Beschreibung der Ehe. Lindbergh, erfährt man, konnte auffahrend sein, forderte strenge Disziplin im Haushalt, war häufig abwesend und zeigte nur selten seine Gefühle. Anne litt darunter, hatte sogar eine (unerfüllte) Liebesaffäre mit Antoine de Saint-Exupéry, eine (erfüllte) mit dem Arzt von Katherine Hepburn und entwickelte sich zu einer bedeutenden feministischen Stimme und Autorin ("Muscheln in meiner Hand"). Schließlich ist es "Anne sogar gelungen, ihren Mann zur Stubenreinheit zu erzielen" (so jedenfalls die Übersetzung). Aber was die Ehe der Lindberghs zusammenhielt, wird nicht wirklich klar.

Für Berg ist klar: Die Ehe war "angeknackst" und wurde zu einer "Farce". Immerhin habe Anne Lindbergh selbst während der Entführung des Babys ihren Mann "kein einziges Mal weinen sehen". Nur selten habe das Ehepaar die "heilenden Kräfte einer Familie in Zeiten des Leids" erfahren. Diese Psychologie aus dem Supermarkt findet sich nicht selten. Bemerkungen der Art, "Gefühle wie Reue, Selbstmitleid und Wehmut" seien "die normalen gesunden Stationen der Trauer", unterbrechen den Faktenstrom. Gelegentlich wird der Mantel der Spekulation auch den Fakten selbst umgehängt. Der Biograf weiß genau, dass sein Schützling "auch am College keine Mädchen küsste und keine Rendezvous hatte", so wie er auch später als Soldat "nie" zu Prostituierten im nahe gelegenen Ort gegangen war.

Am Ende ist Lindbergh tot. Das Buch hört auf. Der Materialfluss ist versiegt. Keine Zusammenfassung, keine abschließende Reflexion - nur das Angebot des Verlages, dem Leser den wissenschaftlichen Anhang der amerikanischen Originalausgabe in Kopie zuzuschicken. Diese notes and sources sind 43 Seiten stark und fast unbenutzbar. Eine Sammlung von Abkürzungen.

Wie schreibt man eine Biografie? Jean Paul hatte einen Traum: die Beschreibung des wahren Lebens. Der Traum ist schon lange ausgeträumt. Ohne poetische Einkleidungen geht es nicht. Selbst die pure Aufzählung des angeblich Gewesenen ist nichts als eine Einkleidung, eine konventionelle. Warum fährt nicht noch einmal jemand nach Le Bourget - das Wissen von zweitausend Schachteln im Kopf? Er muss nur schauen. Lindbergh war ein Fortschritt und ein Zufall. Ein hübscher, blonder Zufall. Irgendjemand hätte es sicher geschafft, damals im Frühsommer des Jahres 1927. Über diesen Zufall und was aus ihm geworden ist, kann man im RER sinnieren, den Blick durchs Fenster gerichtet. Wer schreibt die Biografie eines Zufalls?

A. Scott Berg: "Charles Lindbergh". Ein Idol des 20. Jahrhunderts. Aus dem Amerikanischen von Andrea Ott. Blessing Verlag, München 1999. 528 S., 80 S/W-Abb., geb., 58,- DM.

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