Produktdetails
  • Verlag: Frankfurter Verlagsanstalt
  • Seitenzahl: 142
  • Deutsch
  • Abmessung: 215mm
  • Gewicht: 270g
  • ISBN-13: 9783627000806
  • ISBN-10: 3627000803
  • Artikelnr.: 09401420
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.11.2001

Nennt mich einfach Gott!
Im Zeitraffer: Bettina Gundermanns Schlagzeilengeschichten

"Ich will dir was erzählen, denn du bist mich noch nicht leid" - der Satz steht auf Seite sechsundzwanzig von Bettina Gundermanns Debütroman und irrt. Denn spätestens auf Seite sechsundzwanzig ist man den Geschichtenwirrwarr von "Lines" gründlich leid, wer sich nicht bereits auf Seite eins wunderte, ob er das alles nicht schon einmal gehört hat.

Das fortwährende Déjà-vu-Erlebnis, das einem die Lektüre beschert, speist sich aus der sattsam bekannten Pose des Erzählers, die notwendig die immer gleichen Geschichten produziert. Das Spektakel von "Lines" besteht einmal mehr darin, einen verhältnismäßig jungen Menschen in Differenz zu der angeblichen Romantik - die zu Werthers Zeiten einst Kennzeichen des jugendlichen Lebensalters war - mit möglichst leeren Augen auf die Welt glotzen zu lassen, wo es erwartungsgemäß außer Drogen und Gewalt nichts zu entdecken gibt.

Als Beobachter schickt Bettina Gundermann in ihrem Erstling einen auktorialen Erzähler vor, dessen Identität nicht näher bestimmt ist, der den Leser aber lapidar dazu auffordert, ihn "Gott" zu nennen, sich an anderer Stelle einen "Zauberer" heißt und im übrigen nicht mit Ratschlägen geizt, wie daß die beste Kokslinie auf dem Fußboden zwischen Bad und Küche ausgelegt und auf den Knien rutschend eingenommen werden sollte. Selbst Champagner schlürfend und Koks schnupfend, blickt nun die unermüdlich dozierende Erzählergestalt aus seinem Luftschloß auf die Menschen, richtet ihren Feldstecher ins nackte Leben und stellt offenbar auf Höhe eines Zeitungskiosks scharf. Denn die Geschichten, die einem als dem Leben abgelauscht angedreht werden, klingen verblüffend nach schmissigen Schlagzeilen von Boulevardblättern. "Mutter schmeißt Baby in Müll", "Sohn erschlägt Vater in eigenem Wohnzimmer" oder "Pärchen im Drogenrausch tödlich verunglückt" könnte man die Ereignisse titeln, aus denen das Leben von Paula, Mike, Pedro, Anna, Rebecca und Mara besteht, deren Schicksale im Zeitraffer von der Geburt bis zum Tod erzählt werden, was allein deswegen schon nicht besonders aufwendig ist, weil alle ziemlich schnell sterben. Wer nicht im Müll gefunden wurde, nicht vom Sohn erschlagen oder bei einem Verkehrsunfall ums Leben kam, ist Stricher, magersüchtig, suizidgefährdet oder drogenabhängig, so daß glaubwürdig und im Handumdrehen an jeder Stelle gestorben werden kann, wenn es gilt, den Charakter mit der narrativ sauberen Lösung des Ablebens zu eliminieren. Ganz und gar lächerlich ist mit einer Ausnahme, wer überlebt, und heißt deswegen zur Strafe "Gudrun" und "Günther" und fristet ein Spießerleben im Reihenhaus.

Was will uns die Autorin damit sagen? So fehl am Platz diese Frage ist, lohnt sie doch, aufgegriffen zu werden, wenn sie das Buch selber anspricht. Denn nachdem anhand von Paul, Mike, Pedro, Anna, Rebecca und Mara vorgeführt wurde, daß die Welt eine schnellebige und langweilige ist, schwant dem Erzähler offenbar gegen Ende des Buches, daß sich beim Leser eventuell der Eindruck einschleichen könne, er hielte die koksenden, vatererschlagenden, Baby-im-Müll-entsorgenden Protagonisten für moralisch verderbt. Moralisch will nun aber wirklich keiner mehr sein, schon gar nicht zwischen "gut" und "böse" unterscheiden, wie der Erzähler ausführt, und dem Leser ist inzwischen auch klar, daß solche Mätzchen wohl eher etwas für die langweiligen Gudruns und Günthers auf ihrer Couch im Reihenhaus sind. Statt der Bewertung wird an anderer Stelle die Bewußtseinsindustrie statistisch hochgerechnet, als erübrige sich angesichts der schieren Zahl von Fernsehsendern, Kinofilmen und Zeitschriften jeder weitere Kommentar.

Für die Schroffheit des Tons sorgen im übrigen zwei Handgriffe: Durch haufenweise Punkte werden die Hauptsätze zu Ellipsen zerschlagen und das Schöne konsequent mit dem Ekligen zusammengeführt, wie etwa ein Marienkäfer, der logisch zwingend im Erbrochenen der magersüchtigen Mara einsinken muß. Offen bleibt zum Schluß nur noch die Frage, warum das, was man im Film "Splatter" nennt, in der Literatur noch immer als "schonungsloser Realismus" gilt. Lösen würde sich mit der Einführung der Rubrik "Splatter" in die Literatur auch das von der Autorin im Buch benannte Problem der Gesellschaft, die sich "intelligente 12-jährige Gymnasiasten" heranzüchtet, "die sich im Kollektiv Pillen einwerfen". Denn in einem anständigen Splatter-Movie würden die drogengeilen Teenager-Monster des Nachts mit den naseweisen Jungautoren auf einen vernebelten Friedhof geschickt werden, wo sie sich gegenseitig die Köpfe einschlagen können - während wir in Ruhe dazu kämen, ein gutes Buch zu lesen.

JULIA VOSS

Bettina Gundermann: "Lines". Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 2001. 142 S., geb., 32,- DM.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Julia Voss weiß, dass der Debütroman von Bettina Gundermann unter die Kategorie des "schonungslosen Realismus" fällt, bedauert aber, dass er nicht gleich den Darstellungsformen eines Splatter-Movies entsprechen will, denn dann wäre der Roman wirklich gelungen, meint sie. So aber tritt offenbar aber genau das Gegenteil ein: Der Leser werde mit einem "Geschichtenwirrwarr" konfrontiert, das zudem langweile, da einem bei der Lektüre nicht mehr als ein "fortwährendes Déjà-vu-Erlebnis" beschert werde. Die Kritikerin wirft dem Roman außerdem mangelnde Authentizität vor, "denn die Geschichten, die einem als dem Leben abgelauscht angedreht werden, klingen verblüffend nach schmissigen Schlagzeilen von Boulevardblättern." Demzufolge können auch die Helden des Romans nur Klischees sein, sie sind, wie Voss schreibt "koksende, vaterschlagende, Baby-im-Müll-entsorgende Protagonisten", denen man nicht abnimmt, dass sie aus dem wirklichen Leben stammen. Warum die Autorin eine sinnentleerte, von Drogen und Gewalt bestimmte Welt beschreibt? Diese Frage thematisiert die Autorin selbst, so Voss, wobei sie zwar von einer moralischen Bewertung ihrer Figuren absieht, aber auf die Schnelllebigkeit der modernen Gesellschaft verweist, die schon allein aufgrund der unglaublichen Zahl "an Fernsehsendern, Kinofilmen und Zeitschriften" verdorben sei. Aha. Am Ende ihres Verrisses verweist die Kritikerin noch darauf, dass "schonungsloser Realismus" nicht einfach heißt, Schönes mit Ekligem zu vermischen wie etwa in der Beschreibung eines "Marienkäfers, der logisch zwingend im Erbrochenen der magersüchtigen Mara einsinken muss".

© Perlentaucher Medien GmbH
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