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Ferdinand de Saussures (1857-1913) wissenschaftliche Bedeutung als Begründer der modernen Linguistik und des Strukturalismus geht auf den 1916 posthum erschienenen Cours de linguistique générale zurück. Bislang galt Saussure daher als Theoretiker, der zwar eine Lehre entworfen, aber kein selbst verfaßtes Werk hinterlassen hat. In seinem über 9000 Seiten umfassenden Nachlaß finden sich jedoch Texte zu ganz unterschiedlichen Themen, die hier in einer umfassenden Auswahl zum ersten Mal versammelt werden. Ihr Bogen reicht von den bekannten Saussureschen Dichotomien über bisher völlig unbekannte…mehr

Produktbeschreibung
Ferdinand de Saussures (1857-1913) wissenschaftliche Bedeutung als Begründer der modernen Linguistik und des Strukturalismus geht auf den 1916 posthum erschienenen Cours de linguistique générale zurück. Bislang galt Saussure daher als Theoretiker, der zwar eine Lehre entworfen, aber kein selbst verfaßtes Werk hinterlassen hat. In seinem über 9000 Seiten umfassenden Nachlaß finden sich jedoch Texte zu ganz unterschiedlichen Themen, die hier in einer umfassenden Auswahl zum ersten Mal versammelt werden. Ihr Bogen reicht von den bekannten Saussureschen Dichotomien über bisher völlig unbekannte Aspekte seiner Arbeit bis zu den sprach- und erkenntnistheoretischen Grundproblemen der Linguistik. Damit entsteht ein umfassendes Saussure-Bild, vor dessen Hintergrund nicht zuletzt auch poststrukturalistische und dekonstruktivistische Ansätze deutlichere Konturen gewinnen.
Autorenporträt
Saussure, Ferdinand deFerdinand de Saussure (1857-1913) gilt als Begründer der allgemeinen strukturellen Sprachwissenschaft in Europa.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.03.1997

Der Marsmensch zeigt die grüne Zunge
Ferdinand de Saussures Suche nach dem Pittoresken der Sprache / Von Manfred Geier

Notizen aus dem Nachlaß eines wissenschaftlichen Autors zu veröffentlichen ist meist nur für Fachleute interessant. Anders sieht es aus im Fall des Genfer Sprachwissenschaftlers Ferdinand de Saussure. Denn dessen handschriftliche Notizen, die nun endlich auszugsweise in deutscher Übersetzung vorliegen, lassen den Gründungsakt einer Forschungsrichtung in einem neuen Licht erscheinen, die als "Strukturalismus" populär und einflußreich geworden ist. Sie führen uns die Zweifel und Verzweiflungen vor Augen, die Saussure beherrschten, als er eine neue Wissenschaft und Diskursivität zu begründen versuchte.

Beruht die bahnbrechende Wirkung, die Saussures Denken auf die Kulturwissenschaften des zwanzigsten Jahrhunderts ausgeübt hat, nur auf einem großen Irrtum und dem Mißverständnis eines Werks, das nie geschrieben wurde? Saussure (1857-1913) wird allgemein anerkannt als Begründer einer modernen Linguistik, die Sprache als ein "Ganzes in sich", als ein System, das nur seine eigene Ordnung besitzt, zum Gegenstand einer autonomen Wissenschaft gemacht hat. Mit großer Kühnheit hat er in seinem "Cours de linguistique générale" (Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft) die Sprache als ein System "konstituiert", das in seiner Struktur freigelegt werden soll.

In den einzelnen Elementen das System ihrer möglichen Relationen mitdenken und voraussetzen zu müssen, war der besondere Beitrag Saussures zum linguistischen Strukturalismus: Die Sprache ist sozusagen eine Algebra, die nur relationale Begriffe enthält. Sie besteht nicht aus materiellen Einheiten, sondern ist eine differentielle Form. Sie ist ein statisches, in sich geschlossenes System, das dem individuellen und sozialen Willen entzogen ist und ohne Rücksicht auf seine Geschichte analysiert werden kann.

Nicht nur die klassischen Schulen der modernen Strukturlinguistik (in Moskau, Prag, Kopenhagen und Genf) haben sich diesen Richtlinien angeschlossen. Saussure wurde auch die Rolle eines Diskursivitätsbegründers zugeschrieben, der eine neue Möglichkeit eröffnet hat, über kulturelle und geistige Phänomene zu sprechen. Was linguistisch an der Sprache vorgeführt worden ist, wurde zum Modell für Strukturanalysen in der Anthropologie (Lévi-Strauss), in der Literaturwissenschaft (Jakobson), in der Zeichentheorie (Barthes) oder in der Psychoanalyse (Lacan). Sie alle zehren von den Anwendungsmöglichkeiten, die Saussure erschlossen hat, als er die Sprache zum Gegenstand einer strukturellen Forschung verobjektivierte. Auch poststrukturalistische Denker, vor allem Derrida und Culler, blieben trotz ihrer Kritik den saussureschen Herausforderungen verpflichtet.

Doch Saussure hat den "Cours" nie geschrieben. Der Gründungstext des Strukturalismus ist eine postume Rekonstruktion von drei Vorlesungen, die Saussure zwischen 1906 und 1911 gehalten hat. Bally und Sechehaye, die den "Cours" auf der Grundlage studentischer Mitschriften verfaßt haben, übernahmen die Verantwortung nicht nur gegenüber seinen Kritikern, sondern auch gegenüber ihrem Meister, "der vielleicht der Veröffentlichung dieser Seiten nicht zugestimmt hätte", wie es im Vorwort zur ersten Auflage von 1916 heißt.

Bereits die Quellenstudien zum "Cours" (Godel 1957) und seine beiden kritischen Ausgaben (herausgegeben von Tullio De Mauro, italienisch 1967, französisch 1972, und von Rudolf Engler 1967/1974) haben diesen Verdacht verstärkt. War der "Meister" gar kein Strukturalist? Man begab sich auf die Suche nach einem "authentischen" Saussure und knüpfte dabei vor allem an den widersprüchlichen Momenten an, die in den berühmten Dichotomien der "Cours" ihre Spur hinterlassen haben. Denn Saussure hatte sowohl in der Sprache als auch in ihrer Wissenschaft stets eine "innere Doppelheit" an der Arbeit gesehen, "die sich nicht aufheben und nicht vermitteln läßt".

Saussure war kein Dialektiker, der seine widerstreitenden Überlegungen in einem Sowohl-Als-auch aufzuheben bereit war. Er sah die Sprache in ihrer synchronen Statik und in ihrer diachronen Dynamik. Er war hin- und hergerissen zwischen den konkreten Erfahrungen von Einzelsprachen in ihren zeitlichen Veränderungen und geographischen Verschiedenheiten und der wissenschaftlichen Intention auf "die Sprache" als abstrakte Größe. Er rang um ein Verständnis der Oppositionen zwischen Identität und Relation, Substanz und Form, Motus und Status, Ereignis und System, Veränderlichkeit und Unveränderlichkeit des Zeichens, konkreten Tatsachen und abstrakten Werten, Sprecherbewußtsein und entsubjektivierter Sprachstruktur.

Die Notizen aus Saussures Nachlaß, etwa neuntausend Blätter umfassend, von denen nur etwa ein Drittel sich mit Problemen einer allgemeinen Sprachwissenschaft beschäftigen, lassen die Verwirrungen erkennen, mit denen der Begründer einer autonomen Linguistik zu kämpfen hatte. Und sie dokumentieren zugleich, warum es Saussure nicht möglich war, das Buch zu schreiben, das er seit Beginn der neunziger Jahre plante. Überzeugt von der "absoluten Belanglosigkeit der geläufigen Terminologie", zielte er auf eine systematische Klassifikation der sprachlichen Tatsachen und eine verläßliche Logik der Gesichtspunkte, unter denen man Sprache zu einem wissenschaftlichen Gegenstand machen konnte.

Aber zugleich war er fasziniert durch den vielfältigen Reichtum der sprachlichen Phänomene. Er genoß die lebendigen Erscheinungen der Sprache in der Fülle ihrer literarischen Gestaltung. Er überließ sich dem Wirbel der Zeichen, der sich in keinem stabilen Gleichgewicht fixieren läßt. Gegen die strukturtheoretischen Abstraktionen beharrte er auf den Verschiedenheiten und Bewegungsformen sprachlicher Ereignisse: "Was absolut ist, das ist das Prinzip der Bewegung der Sprache in der Zeit." Jedes sprachliche Zeichen existiert nur, weil es in die Zirkulation des sprachlichen Gebrauchs hineingeworfen ist; die Zeit ist ein unbezwingbarer Störfaktor, der jede synchrone Systematisierung und logische Abstraktion boykottiert.

Bereits in einem Brief vom 4. 1. 1894 an Antoine Meillet hat Saussure bekannt, daß er an Sprachen vor allem ein historisches Vergnügen besitze. Der wissenschaftstheoretischen Notwendigkeit, sich mit der Sprache im allgemeinen auseinandersetzen, um der Linguistik ein sicheres Fundament zu schaffen, setzte er sich dagegen ohne Enthusiasmus und Leidenschaft aus. Nur widerwillig und "ziemlich angeekelt von all dem" machte er sich an die unermeßliche Aufgabe, die nötig war, "um dem Linguisten zu zeigen, was er macht; und gleichzeitig sehe ich auch die ziemlich große Vergeblichkeit von allem, was man schließlich in der Linguistik machen kann."

Die sprachtheoretischen Teile aus Saussures Nachlaß zeigen die Zweifel, die den Gründungsvater der modernen Linguistik beherrschten und von einer Veröffentlichung seiner Überlegungen abhielten. Er wußte, daß es das nicht gab, wovon eine allgemeine Sprachwissenschaft zu sprechen hatte. Ohne Bezug auf ihre verschiedenen Erscheinungsformen "die Sprache" studieren zu wollen, ist "ein absolut vergebliches und schimäres Unterfangen". Aber ebenso groß wie sein Widerwille gegen den eigenen Begründungsversuch war seine Lust, sich auf die Kuriositäten des lebendigen Sprachgebrauchs einzulassen. Davon zeugen seine ausführlichen Notizen zu den germanischen Mythen und Legenden und zum Prozeß ihrer mündlichen Weitergabe und Zirkulation, seine kriminalistischen Anagramm-Studien, mit denen er den lautlichen Geheimnissen der Poesie auf der Spur war, oder seine sensiblen Untersuchungen des halluzinatorischen Kauderwelschs eines Mediums, das mit Marsmenschen in Zungen zu sprechen imaginierte.

Johannes Fehr, der die Notizen aus Saussures Nachlaß gesammelt, übersetzt und mit einem erhellenden Kommentar eingeleitet hat, wollte den Nachlaß "in seiner faszinierenden Vielschichtigkeit zugänglich machen". Das ist ihm ausgezeichnet gelungen. Glücklich war vor allem seine Entscheidung, die sprachwissenschaftlichen Texte nicht von den konkreten Textuntersuchungen Saussures zu trennen. So wird dem Leser das inhaltliche und zeitliche Nebeneinander der verschiedenen Arbeiten Saussures sichtbar, die jede Vereinseitigung zu einem "Strukturalisten" verhindern.

Vor allem aber fasziniert die Möglichkeit, anläßlich dieser Nachlaßschriften die Frage beantworten zu können, "woher seine Zweifel und Vorbehalte gegenüber seiner eigenen sprachwissenschaftlichen Lehre rühren", die es Saussure unmöglich machten, jenes Buch zu schreiben, das nur als rekonstruierte Nachschrift seiner späten Vorlesungen zum Gründungsdokument einer neuen Wissenschaft und Diskursivität werden konnte.

Auch "Linguistik und Semiologie" hat Saussure nicht geschrieben. Aber wir können in dieser Sammlung ausgewählter Notizen dennoch einen "authentischen" Denker erkennen, dessen wissenschaftliches Lebenswerk voller Dynamik und Dramatik ist, im unlösbaren Widerstreit zwischen Zweifel und Erkenntnis, zwischen ungeliebter Systematisierung und historischem Vergnügen. Das macht dieses Buch für jeden lesenswert, der am Abenteuer der Erkenntnis menschlicher Fähigkeiten, vor allem des Sprachvermögens, interessiert ist.

Ferdinand de Saussure: "Linguistik und Semiologie". Notizen aus dem Nachlaß. Texte, Briefe und Dokumente. Gesammelt, übersetzt und eingeleitet von Johannes Fehr. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1997. 606 S., geb., 78,- DM.

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