Produktdetails
- Verlag: Neue Kritik
- Seitenzahl: 284
- Deutsch
- Abmessung: 215mm
- Gewicht: 508g
- ISBN-13: 9783801503208
- ISBN-10: 3801503208
- Artikelnr.: 22908872
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.03.2001Auf der falschen Spur der Geschichte
Eine überzeugende Auseinandersetzung mit den linken Kritikern der Totalitarismustheorien
Wolfgang Kraushaar: Linke Geisterfahrer. Denkanstöße für eine antitotalitäre Linke. Frankfurt/Main 2001. Verlag Neue Kritik, 220 Seiten, 28,- Mark.
Zum Erbe der Studentenbewegung gehört auch die Ächtung von Totalitarismustheorien, die mit dem Zusammenbruch des sowjetischen Kommunismus wieder an Konturen und Erklärungskraft gewonnen haben und gleichzeitig die Zukunftsgewißheit und Identität der Linken bedrohen. Der am Hamburger Institut für Sozialforschung beheimatete Wolfgang Kraushaar, der im undogmatischen Frankfurter linken Milieu sozialisiert und von der Kritischen Theorie inspiriert wurde, zeigt in verschiedenen Beiträgen, in welcher Weise und mit welchen Mitteln die Linke sich immer noch weigert, die Verbrechen kommunistischer Regime angemessen zur Kenntnis zu nehmen, und warum eine Totalitarismustheorie notwendig ist.
Kraushaar beschreibt, wie von Mitte der sechziger Jahre an linke Theoretiker aus dem Umfeld des Berliner SDS begannen, Totalitarismustheorien zu delegitimieren und Faschismustheorien zu inthronisieren. In der seinerzeit im linken Milieu wirkungsmächtigen Zeitschrift "Argument" erschienen Aufsätze, die diesen theoretischen Paradigmenwechsel einleiten sollten.
Der Unterschied zwischen Faschismus und Sowjetkommunismus wurde darin gesehen, daß die einen "Repression um jeden Preis" und die anderen die "Emanzipation der Massen" anstrebten. Die Totalitarismustheorie begriffen sie nur noch als antikommunistische Theorie, die zudem politisch motiviert und instrumentalisiert wurde. Kraushaar vermutet, daß die SED und ihr MfS bei der Ablösung der Totalitarismus- durch die Faschismustheorie "nachgeholfen" haben könnten. Seiner Meinung nach sprechen "viele Indizien dafür, daß Teile des SDS instrumentalisiert und manipuliert worden sind und andere dagegen diskreditiert, isoliert und geschwächt".
Die Exponenten des Anti-Antikommunismus fanden sich (abgesehen von der undogmatischen Linken) in allen Organisationen und Strömungen der traditionellen und der Neuen Linken, die hinter ihrer Kritik, so jedenfalls sieht es Kraushaar, nur verbergen wollten, daß sie selbst einer zum Totalitarismus neigenden Theorie beziehungsweise Bewegung anhingen: "Die orthodox-marxistische Kritik an der Totalitarismustheorie war ein trojanisches Pferd, dem die Ideologen eines anderen totalitären Regimes entstiegen sind." Doch ihr Ziel, die Massen für ihr Anliegen zu gewinnen, erreichten sie nicht. Im Gegenteil: Diese Linken erschienen Kraushaar schon 1978 als Geisterfahrer, die sich noch auf der linken Spur gegenseitig abdrängten.
Mit der Abwendung von der Totalitarismustheorie gingen in der Studentenbewegung eine Kritik der parlamentarischen Demokratie und eine Relegitimierung der proletarischen Diktatur einher. Daß sich Kapitalismus und Demokratie ausschlössen und die Bundesrepublik nur eine formale Demokratie sei, gehörte seinerzeit zu den unumstößlichen Dogmen der linken Milieus.
In mehreren fundierten und in den Schlußfolgerungen überzeugenden Beiträgen rechnet Kraushaar mit den linken Kritikern der Totalitarismustheorien ab. Sie seien immer noch auf dem linken Auge blind und unterstellten auch neueren Totalitarismuskonzepten eine simple Gleichsetzung von Rot = Braun oder Hitler = Ulbricht. Auf die selbstkonstruierten ideologischen und theoretischen Pappkameraden werde sodann mit der ganzen begrifflichen Wucht der Marx-Orthodoxie eingeschlagen.
In den Augen der Kritiker seien totalitarismustheoretisch orientierte Ansätze politisch motiviert, würden entsprechend instrumentalisiert, dämonisierten zudem die DDR und relativierten den Nationalsozialismus. Diese Position vertreten der ehemalige Burschenschaftler und Nolte-Schüler Wolfgang Wippermann ebenso wie der linksradikale ehemalige SDSler und MfS-Zuträger Karl-Heinz Roth. Wippermann behauptet sogar allen Ernstes, daß "alle Totalitarismustheorien die Singularität des Holocausts" leugneten was Kraushaar für absurd hält. Immer noch scheint diese Linke die reale Welt mit einer Gespenster- und Geisterkulisse zu verwechseln.
Erstaunlicherweise sehen inzwischen einige ehemalige SED-Ideologen, unter anderen der ehemalige "Antitotalitarismusexperte" Gerhard Lozek, das Totalitarismuskonzept positiver, während die orthodoxe Linke der alten Bundesrepublik, vor allem die Marburger Schule, an ihrer Grundsatzkritik unbeirrt festhält und gleichzeitig der untergegangenen DDR nachtrauert.
Kraushaar selber möchte die Totalitarismustheorie zu einer Gesellschaftstheorie weiterentwickeln und die Frage einbeziehen, inwieweit der Liberalismus als politische Ideologie der westlichen Demokratie auch eine totalitäre Gefahrenquelle darstellt. Dabei bezieht er sich zum Teil auf Herbert Marcuse, der neben seiner Kritik am Nationalsozialismus und Sowjetkommunismus auch den Kapitalismus beziehungsweise Industrialismus für eine Quelle des Totalitarismus ansah. Die Totalitarismustheorie soll auch einen Beitrag "zu einer zeitgenössischen Form der Herrschaftskritik" leisten.
Allerdings bleibt bei Kraushaar offen oder zumindest unklar, was der Gegenpol zur totalitären Gesellschaft ist, wenn nicht die bürgerliche, die zuweilen auch als zivile bezeichnet wird. Auch scheint er die Widerstandskräfte einer sozial und politisch verankerten liberalen Gesellschaft zu unterschätzen. Schließlich sind die Vereinigten Staaten, Großbritannien oder Frankreich trotz vergleichbarer sozialer Probleme in den frühen dreißiger Jahren nicht totalitär geworden. Gleichwohl stellt Kraushaar zu Recht die Frage, wie es totalitären Theorien und Bewegungen gelingen konnte, die Massen, aber auch und gerade die Intellektuellen, zu verführen, die zivile Gesellschaft zu liquidieren und in die Barbarei zu fallen.
Kraushaar möchte mit seinen Beiträgen die Wurzeln des Anti-Antitotalitarismus freilegen, um die Linke von ihrer falschen Selbstgewißheit zu befreien. Dabei ist für ihn unter Bezug auf Hannah Arendt der Begriff der Freiheit zentral, denn Ideologien und Theorien sollten danach beurteilt werden, welches Ausmaß an praktischer Freiheit sie den einzelnen gewähren.
KLAUS SCHROEDER
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Eine überzeugende Auseinandersetzung mit den linken Kritikern der Totalitarismustheorien
Wolfgang Kraushaar: Linke Geisterfahrer. Denkanstöße für eine antitotalitäre Linke. Frankfurt/Main 2001. Verlag Neue Kritik, 220 Seiten, 28,- Mark.
Zum Erbe der Studentenbewegung gehört auch die Ächtung von Totalitarismustheorien, die mit dem Zusammenbruch des sowjetischen Kommunismus wieder an Konturen und Erklärungskraft gewonnen haben und gleichzeitig die Zukunftsgewißheit und Identität der Linken bedrohen. Der am Hamburger Institut für Sozialforschung beheimatete Wolfgang Kraushaar, der im undogmatischen Frankfurter linken Milieu sozialisiert und von der Kritischen Theorie inspiriert wurde, zeigt in verschiedenen Beiträgen, in welcher Weise und mit welchen Mitteln die Linke sich immer noch weigert, die Verbrechen kommunistischer Regime angemessen zur Kenntnis zu nehmen, und warum eine Totalitarismustheorie notwendig ist.
Kraushaar beschreibt, wie von Mitte der sechziger Jahre an linke Theoretiker aus dem Umfeld des Berliner SDS begannen, Totalitarismustheorien zu delegitimieren und Faschismustheorien zu inthronisieren. In der seinerzeit im linken Milieu wirkungsmächtigen Zeitschrift "Argument" erschienen Aufsätze, die diesen theoretischen Paradigmenwechsel einleiten sollten.
Der Unterschied zwischen Faschismus und Sowjetkommunismus wurde darin gesehen, daß die einen "Repression um jeden Preis" und die anderen die "Emanzipation der Massen" anstrebten. Die Totalitarismustheorie begriffen sie nur noch als antikommunistische Theorie, die zudem politisch motiviert und instrumentalisiert wurde. Kraushaar vermutet, daß die SED und ihr MfS bei der Ablösung der Totalitarismus- durch die Faschismustheorie "nachgeholfen" haben könnten. Seiner Meinung nach sprechen "viele Indizien dafür, daß Teile des SDS instrumentalisiert und manipuliert worden sind und andere dagegen diskreditiert, isoliert und geschwächt".
Die Exponenten des Anti-Antikommunismus fanden sich (abgesehen von der undogmatischen Linken) in allen Organisationen und Strömungen der traditionellen und der Neuen Linken, die hinter ihrer Kritik, so jedenfalls sieht es Kraushaar, nur verbergen wollten, daß sie selbst einer zum Totalitarismus neigenden Theorie beziehungsweise Bewegung anhingen: "Die orthodox-marxistische Kritik an der Totalitarismustheorie war ein trojanisches Pferd, dem die Ideologen eines anderen totalitären Regimes entstiegen sind." Doch ihr Ziel, die Massen für ihr Anliegen zu gewinnen, erreichten sie nicht. Im Gegenteil: Diese Linken erschienen Kraushaar schon 1978 als Geisterfahrer, die sich noch auf der linken Spur gegenseitig abdrängten.
Mit der Abwendung von der Totalitarismustheorie gingen in der Studentenbewegung eine Kritik der parlamentarischen Demokratie und eine Relegitimierung der proletarischen Diktatur einher. Daß sich Kapitalismus und Demokratie ausschlössen und die Bundesrepublik nur eine formale Demokratie sei, gehörte seinerzeit zu den unumstößlichen Dogmen der linken Milieus.
In mehreren fundierten und in den Schlußfolgerungen überzeugenden Beiträgen rechnet Kraushaar mit den linken Kritikern der Totalitarismustheorien ab. Sie seien immer noch auf dem linken Auge blind und unterstellten auch neueren Totalitarismuskonzepten eine simple Gleichsetzung von Rot = Braun oder Hitler = Ulbricht. Auf die selbstkonstruierten ideologischen und theoretischen Pappkameraden werde sodann mit der ganzen begrifflichen Wucht der Marx-Orthodoxie eingeschlagen.
In den Augen der Kritiker seien totalitarismustheoretisch orientierte Ansätze politisch motiviert, würden entsprechend instrumentalisiert, dämonisierten zudem die DDR und relativierten den Nationalsozialismus. Diese Position vertreten der ehemalige Burschenschaftler und Nolte-Schüler Wolfgang Wippermann ebenso wie der linksradikale ehemalige SDSler und MfS-Zuträger Karl-Heinz Roth. Wippermann behauptet sogar allen Ernstes, daß "alle Totalitarismustheorien die Singularität des Holocausts" leugneten was Kraushaar für absurd hält. Immer noch scheint diese Linke die reale Welt mit einer Gespenster- und Geisterkulisse zu verwechseln.
Erstaunlicherweise sehen inzwischen einige ehemalige SED-Ideologen, unter anderen der ehemalige "Antitotalitarismusexperte" Gerhard Lozek, das Totalitarismuskonzept positiver, während die orthodoxe Linke der alten Bundesrepublik, vor allem die Marburger Schule, an ihrer Grundsatzkritik unbeirrt festhält und gleichzeitig der untergegangenen DDR nachtrauert.
Kraushaar selber möchte die Totalitarismustheorie zu einer Gesellschaftstheorie weiterentwickeln und die Frage einbeziehen, inwieweit der Liberalismus als politische Ideologie der westlichen Demokratie auch eine totalitäre Gefahrenquelle darstellt. Dabei bezieht er sich zum Teil auf Herbert Marcuse, der neben seiner Kritik am Nationalsozialismus und Sowjetkommunismus auch den Kapitalismus beziehungsweise Industrialismus für eine Quelle des Totalitarismus ansah. Die Totalitarismustheorie soll auch einen Beitrag "zu einer zeitgenössischen Form der Herrschaftskritik" leisten.
Allerdings bleibt bei Kraushaar offen oder zumindest unklar, was der Gegenpol zur totalitären Gesellschaft ist, wenn nicht die bürgerliche, die zuweilen auch als zivile bezeichnet wird. Auch scheint er die Widerstandskräfte einer sozial und politisch verankerten liberalen Gesellschaft zu unterschätzen. Schließlich sind die Vereinigten Staaten, Großbritannien oder Frankreich trotz vergleichbarer sozialer Probleme in den frühen dreißiger Jahren nicht totalitär geworden. Gleichwohl stellt Kraushaar zu Recht die Frage, wie es totalitären Theorien und Bewegungen gelingen konnte, die Massen, aber auch und gerade die Intellektuellen, zu verführen, die zivile Gesellschaft zu liquidieren und in die Barbarei zu fallen.
Kraushaar möchte mit seinen Beiträgen die Wurzeln des Anti-Antitotalitarismus freilegen, um die Linke von ihrer falschen Selbstgewißheit zu befreien. Dabei ist für ihn unter Bezug auf Hannah Arendt der Begriff der Freiheit zentral, denn Ideologien und Theorien sollten danach beurteilt werden, welches Ausmaß an praktischer Freiheit sie den einzelnen gewähren.
KLAUS SCHROEDER
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Warnfried Dettling äußert sich zwiespältig über dieses Buch. Im Grund schätzt er Kraushaars selbstkritische Abschätzung der ideologischen Lage in den Siebzigern, seine Beschreibung der "totalitären Versuchung" radikaler Linker, die hauptsächlich auf einer simplifizierenden Argumentation beruhe: statt freiheitliche Demokratie vs. totalitäre Diktatur komme Kapitalismus vs. Sozialismus in die Debatte. Dettling findet die Aufsätze aufschlussreich, vermitteln sie doch einige Gründe "linker Sprachlosigkeit nach 1989". Allerdings wundert er sich, warum der Autor (und Cohn-Bendit, der die Einleitung geschrieben hat) im Jahre 2001 gegen "linke Geisterfahrer" argumentieren, denn man könne derzeit eher von einer Ideenlosigkeit und Statik der Debatte reden als von einem "Gedränge" auf der "linken Überholspur".
© Perlentaucher Medien GmbH
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