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"Seine Geschichte war zu Ende, ihn selbst gab es aber noch, und das war ein Problem...", das Hauptproblem der Generation von Ostmitteleuropäern, denen das "System" zwar enge Grenzen gesetzt, aber auch Richtung und Ziel gegeben hatte.
Wie ist es, fragt der ungarische Nobelpreisträger in seinem neuen Roman, wenn sich das Ich nicht mehr durch Widerstand konsolidieren kann, wenn die Realität in belanglose Einzelheiten zerfällt und damit als Maßstab und Prüfstein der Existenz liquidiert wird?
Für den Verlagslektor Keserü wird zehn Jahre nach der Wende das Liquidation betitelte Theaterstück,
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Produktbeschreibung
"Seine Geschichte war zu Ende, ihn selbst gab es aber noch, und das war ein Problem...", das Hauptproblem der Generation von Ostmitteleuropäern, denen das "System" zwar enge Grenzen gesetzt, aber auch Richtung und Ziel gegeben hatte.

Wie ist es, fragt der ungarische Nobelpreisträger in seinem neuen Roman, wenn sich das Ich nicht mehr durch Widerstand konsolidieren kann, wenn die Realität in belanglose Einzelheiten zerfällt und damit als Maßstab und Prüfstein der Existenz liquidiert wird?

Für den Verlagslektor Keserü wird zehn Jahre nach der Wende das Liquidation betitelte Theaterstück, das er aus dem Nachlaß seines Freundes B. gerettet hat, zum Gegenstand obsessiver Erinnerungsarbeit.
B., in Auschwitz geboren, hat sich 1990 überraschend umgebracht, in seinem Stück jedoch gespenstisch genau die Situation vorweggenommen, die die Hinterbliebenen dann in der Realität erleben sollten: Verwirrung, private Zerwürfnisse, Schlammschlachten aller Art. Umso verzweifelter, als hinge der eigenbenssinn davon ab, fahndet Keserü nach dem "großen Lebensroman" B.`s, den er im Nachlaß zu finden gehofft hatte. Hat ihn Sara, die Geliebte B.`s, oder Judit, seine geschiedene Frau?

Kertesz entfaltet die Handlung meisterlich, mit fast kriminalistischer Spannung und den Registern seiner Ironie. Während die Ereignisse um den mysteriösen Freitod in der Erinnerung des Freundes ablaufen, wird mit der Lebensgeschichte B.`s nicht nur die seines Beinahe-Doppelgängers Keserü aufgerollt, sondern vor allem auch die seiner Ex-Frau Judit, die B. einst wegen seiner radikalen Lebensabsage verlassen hat: Mit großer Souveränität knüpft Imre Kertesz in Liquidation an die Thematik seines Kaddisch-Romans an.

Autorenporträt
Imre Kertesz, 1929 in Budapest geboren, wurde 1944 nach Auschwitz deportiert und 1945 in Buchenwald befreit. Er gilt seit dem späten Erfolg seines "Roman eines Schicksallosen" als einer der großen europäischen Schriftsteller. Die jahrelange Arbeit an diesem Roman, der 1975 in Ungarn erschien, finanzierte er durch Musicals und Unterhaltungsstücke. Er betätigte sich als Übersetzer von Freud, Nietzsche, Hofmannsthal, Canetti, Wittgenstein und anderen. 2000 erhielt er den "Welt"-Literaturpreis, 2002 den Nobelpreis für Literatur und 2004 den Ehrenpreis des Bayerischen Ministerpräsidenten und den Corine - Internationaler Buchpreis 2004 für sein Lebenswerk. 2009 wurde Imre Kertesz mit dem Jean Améry-Preis für Essayistik geehrt, 2013 erhielt er den Bruno-Kreisky-Preis für das politische Buch. Imre Kertész lebte in Budapest und Berlin. Er starb 2016 nach langer Krankheit.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.10.2003

Nur die erzählte Geschichte hat ein Ende
Den Bann der Vergangenheit lösen: Imre Kertész vollendet seinen Romanzyklus über Auschwitz

Wenn man kein Geld hat, spielt man mit den "Valeurs, die einem das Leben zugeteilt hat". Wieviel Jahre stalinistisches Internierungslager wiegen Mauthausen oder Birkenau auf? B. steigt immer aus, wenn die KZ-Veteranen und Dissidenten "Lagerpoker" spielen; er glaubt einen unüberbietbaren Trumpf in der Tasche zu haben: Auschwitz. B. war eine Figur aus Imre Kertész' Roman "Kaddisch für ein nicht geborenes Kind"; jetzt taucht der Überlebende, der nach Auschwitz keine Kinder mehr zeugen wollte und mit seiner radikalen Negation Liebes- und Lebensglück verspielte, wieder auf.

"Liquidation", der erste Roman des Nobelpreisträgers seit 1989, ist eine Art Fortsetzung von "Kaddisch", und B., Spielfigur und Medium von Kertész, trägt den veränderten politischen und persönlichen Rahmenbedingungen mit einer korrigierten Biographie Rechnung. 1944 im KZ geboren (in "Kaddisch" war er noch, wie Kertész, fünfzehn Jahre älter), überlebte er Auschwitz wie durch ein Wunder. Die stalinistische Diktatur hielt den Verlagslektor und Übersetzer am Leben, genauer: verdammte ihn zum Weiterleben. Jetzt, 1990, sind plötzlich alle Sicherheiten liquidiert: Gefängnisstaat, Verlag, Vergangenheit, selbst die "sogenannte Wirklichkeit". Die Erfahrung der Schicksallosigkeit, der Widerstand gegen die totalitäre Zerstörung des Subjekts schenkten B. eine paradoxe Form der Identität: Er war der lebende Widerspruch, der mit seiner Selbstzerstörung Zeugnis ablegen wollte vom Ende aller Zivilisation. Das Leben ist ein Konzentrationslager, schrieb er in seinem nachgelassenen Theaterstück "Die Liquidation": "Sich selbst umzubringen ist gleichviel wie / die Wache überlisten / fliehen desertieren / den Zurückgebliebenen eine Nase drehen." Aber das "einzige würdige Selbstmordinstrument", die unhintergehbare Revolte, ist doch das Leben selbst, wie Kertész mit Anklängen an Camus, Cioran und Beckett schreibt.

B. aber ist 1990 nur noch der Schatten eines Schattens. Die Kraft zum Widerstand, der "Überlebenstrotz" ist verbraucht, seit die Welt offen vor ihm liegt. Seine geschiedene Frau Judit besorgt ihm das Gift für seinen Selbstmord und verbrennt als letzten Liebesbeweis seinen großen Roman über Auschwitz. "Ich will mein Zelt nicht auf dem literarischen Jahrmarkt aufschlagen", schrieb B. in seinem Abschiedsbrief, "ich will meine Ware nicht feilbieten. Häßliche Ware, nicht für Menschen bestimmt." Der ominöse Roman ist, wie Kertész' "Roman eines Schicksallosen", der Fluchtpunkt aller Lebenslinien und Erzählstränge. Für B.s alten Freund und Kollegen, den Lektor Keserü (zu deutsch: der Bittere), wird er zur Obession. Verzweifelt sucht der selbsternannte Nachlaßverwalter den Roman, der sein verpfuschtes Leben rechtfertigen und ihm, dem Nichtjuden, das "Geheimnis" von Auschwitz offenbaren soll. Er findet nur "Die Liquidation", die "Komödie", in der B. in einer Art postmodernen Volte seinen eigenen Selbstmord begründet und ratifiziert hatte. Auch Imre Kertész arbeitete an einem Theaterstück, als die Liquidation des Staatssozialismus ihm die Grundlagen seiner Existenz entzog. Wenn er jetzt aus dem Torso des Stücks einen schmalen, hochkonzentrierten Roman über den Umgang mit dem Zivilisationsbruch Auschwitz nach 1989 rekonstruiert, nimmt er damit die Liquidation der Vergangenheit zurück.

"Liquidation" ist eine Art Summe seines Werks - und zugleich eine zögernde Abkehr vom düsteren Pessimismus: eine erzählerische Selbstentfesselung, in der Kertész seine Dialektik vom Untergang und Überleben der traumatischen Wirklichkeit in der Literatur spielerischer und befreiter als je zuvor entfaltet. Auschwitz bleibt, ungesagt oder als Trumpfkarte ausgespielt, das beherrschende Thema aller Gespräche, Gedanken und Handlungen. Aber noch nie ist Kertész so souverän und ironisch mit seinem schicksallosen Schicksalsstoff umgegangen. Elemente von Drama und Lyrik, Kriminal- und Liebesroman, Selbstzitate, Zeitsprünge, Überblendungen, Rollen- und Perspektivwechsel machen "Liquidation" zu seinem komplexesten Roman. Er erinnert manchmal fast an die virtuosen Vexierspiele, mit denen Philip Roth jüdische Identität und autobiographische Erfahrungen fiktionalisierte; aber Kertész verrät dabei nie seinen Ernst und seine moralische Skepsis um der Provokation willen.

"Seine Geschichte war zu Ende, ihn selbst aber gab es noch, und das war ein Problem": Wie mit der Erinnerung an Auschwitz umgehen, wenn sich alle Wirklichkeit verflüchtigt? Wie Subjekt sein, wenn trotzige Verweigerung und unversöhntes Außenseitertum als Identitätskern ausfallen? B. und sein Bewunderer Keserü sind spiegelbildlich aufeinander bezogene Möglichkeiten des Umgangs mit dem Holocaust. B. wollte Auschwitz in und mit seinem Leben überwinden und wurde wider Willen zum Schriftsteller, sogar zum Komödienschreiber, weil der "total reduzierte Mensch, anders gesagt: der Überlebende" kein tragisches Schicksal hat. Er hielt sich durch seine radikale Negation "unschuldig wie eine alte Jungfer"; aber durch Schweigen, Erinnern und Dulden versäumte er auch ein Leben, das ihm nicht mehr als ein tristes Dahinvegetieren voller Kompromisse, Schuld und Scham sein zu können schien. Keserü ist B.s "ferner, bildloser Traum" und Kertész' anderes Alter ego, ein Schriftgelehrter, der die Welt nur durch und als Literatur wahrnimmt. "Die Menschen leben wie die Würmer", sagt er, "aber sie schreiben wie die Götter." Er freilich ist nur "ein Hausaufgaben verbessernder Sklave, ein starblinder Korrektor", eine in jeder Hinsicht parasitäre, sekundäre, voyeuristische Figur. Nicht zufällig teilt er mit seinem Idol nicht nur Bücher und Beruf, sondern auch die Geliebten. B.s Selbstmord erspart ihm den eigenen; B.s Roman würde ihn zum Schriftsteller machen, B.s Apathie reizt ihn - eher aus Ekel, Langeweile und "reinem Spieltrieb" als aus Überzeugung oder gar Hoffnung - zu einer "action gratuit": Er lehnt das Buch eines Apparatschiks ab und verspielt dadurch seine Karriere und seine Ehe. Keserü will mit "reuevollem Eifer" die Schuld der Welt auf sich nehmen, aber zum Erlöser fehlt ihm die Entschlußkraft, zum Märtyrer die eigene Erfahrung, zum Überleben der Wille: Er bleibt der beflissene, zu Unrecht berühmte Philologe von Auschwitz.

Judit, Jüdin der zweiten Generation, entzieht sich dem mephistophelischen Spiel der alten Männer, die Liebe und Leben als Spielmarken im Lagerpoker einsetzen. Ihr B. war zuletzt so verbittert, daß er nicht einmal mit ihr nach Florenz reisen wollte; in seiner negativen Ästhetik war selbst ein Michelangelo durch die "Kunst des Mordens" böse geworden. Judit verläßt ihren "Bräutigam Auschwitz" und wird mit einem reichen Architekten glücklich. Der Vergangenheit kann auch sie nicht entkommen, aber doch ihrer sinnlosen, selbstzerstörerischen Wiederholung. Das Leben kann nur weitergehen, wenn der Bann der Vergangenheit gelöst, das Böse liquidiert wird. "Gehe weiter - Abbrechen": Die beiden Optionen des Textverarbeitungsprogramms sind das letzte, was auf Keserüs Monitor aufleuchtet. Man kann die Geschichte nicht fortsetzen und keine neue anfangen; beides ist gleich unmöglich. Aber "nur wenn unsere Geschichten erzählt werden, können wir erfahren, daß unsere Geschichten zu Ende sind, sonst würden wir weiterleben, als ob wir etwas fortsetzten (beispielweise unsere Geschichte), das heißt also, im Irrtum leben". Schreiben nach Auschwitz bleibt für Kertész ein unauflösliches Paradox. In "Liquidation" aber hat er sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf gezogen und seinen Auschwitz-Zyklus mit einem würdigen Schlußstein gekrönt. "Ein großer Schriftsteller", sagt sein tragischer Sancho Pansa Keserü einmal, "hinterläßt kein unvollendetes Werk."

Imre Kertész: "Liquidation". Roman. Aus dem Ungarischen übersetzt von Laszlo Kornitzer und Ingrid Krüger. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2003. 142 S., geb., 17,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 06.10.2003

Das leichte Leben der Verdammten
Über Imre Kertész, seinen Roman „Liquidation” und die Frage, was von Auschwitz bleibt
Gut ist es, früh zu sterben. Besser wäre es, gar nicht erst geboren worden zu sein. So lautet die Weisheit des sagenhaften, pferdegestaltigen Silen. Im 17. Jahrhundert nahm Calderón den Gedanken auf. Und heute zitiert Imre Kertész ihn mit den Worten Calderóns.
Die Rechtfertigung des Todes, sie ist so wichtig wie die Rechtfertigung des Lebens. Verschiedene Epochen haben verschiedene Ideen oder Topoi, mit denen die Menschen sich die Begriffe „Tod” und „Leben” verständlich machen. So denken die Menschen in den Assoziationen, die durch diese Ideen oder Topoi vorgegeben sind. Wer also zur Biedermeierzeit mit dem Gedanken spielte, sich umzubringen, dachte an einen Tod im Geist der Romantik: Aus dem Leiden an unerreichbarer Ferne, an Ungenügen und Vergeblichkeit ergab sich die Sprache, genauer: die Semantik, in der sich der Einzelne den eigenen Tod vorstellte.
Heutzutage lassen sich die Fragen nach Sein und Nichtsein nur in der Semantik verhandeln, die aus der Erinnerung ans KZ-System hervorgegangen ist. Daher zum Beispiel die Haltung eines Mannes wie Thomas Bernhard: 1991 notierte Kertész im „Galeerentagebuch”, Bernhard habe „sich immer mit den Opfern – am Ende seines Lebens mit den Juden identifiziert – offensichtlich um der Inspiration willen”.
Was Kertész über Bernhard sagt, gilt auch für jene, die weder dieser Art Inspiration noch dieser Art Identifikation bedürfen. Der Rauch über den Vernichtungslagern ist nicht verzogen und vergangen. Er hat sich langsam verteilt, in der Luft, die wir alle atmen; und wenn wir ausatmen, wenn wir reden, spricht aus uns auch der Rauch, einerlei, was wir sagen. Kertész zeigt, dass die Frage nach Tod und Leben seit Auschwitz nur im Hinblick auf Auschwitz beantwortet werden kann. In seinen Büchern finden die Leser dargestellt und begründet, warum sie selbst leben oder sterben wollen.
An die Nachgeborenen
Die „Shoah”, der „Holocaust”: Diese Begriffe bezeichnen das historische Ereignis. „Auschwitz” meint vor allem den moralischen Effekt: Für alle Nachgeborenen ist „Auschwitz” die Vorlage dafür, was Menschen Menschen antun können, und das Leitbild für den Tod.
Wie rechtfertigt man das Leben „nach Auschwitz”? Wie rechtfertigt man den Tod? Die erste Frage hat Kertész für sich mit der Erfahrung des Stalinismus in Ungarn beantwortet, der es ihm ermöglicht habe, zu schreiben. Für Jean Améry und Primo Levi war die Erinnerung ans Erlittene stärker als das, was dann das Leben in Freiheit ausmachte. Schließlich wurde sie übermächtig. Kertész glaubt, dass dieses Schicksal ihm erspart geblieben sei, weil er in Ungarn sein „Gefängnis” hatte. Der „Ekel”, mit dem er des Morgens erwachte, wirkte wie ein Antidot gegen die kaum erträgliche Erinnerung. Was Kertész rückblickend empfand und wie er die Gegenwart erlebte: es ergänzte sich. So, sagt er, konnte er schreiben. 1990 setzte er ins „Galeerentagebuch” die Worte: „ein Satz Ciorans , für dessen Wahrheit ich mit meinem Leben bürge: ,Jedes Buch ist ein aufgeschobener Selbstmord.‘”
Die zweite Frage, die nach der Legitimation des Todes, hat Kertész in seinem neuen Roman bis zu dem Ende verfolgt, das dem Buch den Titel gibt: „Liquidation” (übersetzt von Laszlo Kornitzer und Ingrid Krüger, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2003, 142 Seiten, 17,90 Euro). Was ihn bewegt, hat Kertész hier auf verschiedene Personen verteilt: Da ist B., ein Jude, der 1944 im KZ geboren wurde, den ungarischen Kommunismus ertrug und sich 1990, zehn Jahre nach dem Untergang des Sowjetreiches, das Leben genommen hat.
Dieser Mann, dem die Häftlingsnummer bei seiner Geburt auf den Oberschenkel tätowiert wurde, weil sie sich „auf einem Säuglingsarm noch nicht unterbringen ließ, einfach aus Platzmangel, der Kürze des Säuglingsarms wegen”, dieser Mann hat das Leben, das er gleichsam regelwidrig erhalten hatte, zurückgegeben. Er korrigierte den Fehler, der in der KZ-Maschinerie aufgetreten war. Da ist Judit, B.s Ehefrau, die vor ihm zu einem ganz normalen Mann geflohen ist, weil sie an der Seite dieses umgetriebenen Menschen fast zugrunde gegangen wäre. Und da ist Keserü, der Lektor, kein Jude, aber durch die ungarischen Verhältnisse zum Lebensüberdruss gebracht.
Keserü, der Lektor, sucht nach dem Roman, den B. hinterlassen hat. Denn er hält den toten Freund für einen großen Schriftsteller, und so einer sterbe nicht, ohne sein Werk vollendet zu haben. An der Figur B.s zeigt „Liquidation”, was Imre Kertész hätte geschehen können, als die Diktatur vorüber war, die er als die Voraussetzung dafür sah, dass er sich nicht das Leben nahm. An der Figur Keserüs zeigt „Liquidation”, wie es ist, sich selbst nicht umzubringen. Keserü braucht B.s nachgelassenen Roman, weil er sich davon Hilfe erhofft, denn „allein die Literatur” ist imstande, „die Kontinuität, die Ungebrochenheit unseres Lebens wiederherzustellen”. Keserü erzählt B.s Geschichte, „um meine eigene Geschichte zu retten”. „Die Schmach des Lebens über uns ergehen lassen und schweigen: das sei die größte Leistung”, sagte B. Und nachdem Keserü ihm lange zugehört hatte, sagte er über seinen eigenen, immer aufgeschobenen Selbstmord: „Es kommt mir auf einmal überflüssig vor, mich und die Gesellschaft damit zu bemühen.” Da hatte B. gelacht.
Verurteilung antiker Ideale
„Liquidation” handelt nicht so sehr vom Leben, sondern davon, wie man am Leben bleibt. Ein Beamter hat Keserü über den Selbstmörder vernommen. Aber Keserü hat eine belanglose Aussage gemacht. „In was für einer Sprache hätte ich ihm B.s Geschichte erzählen können?”, fragt er, „sachlich? Dramatisch? Protokollmäßig. . .?” Kertész wechselt die Genres der Darstellung: Mal spricht der auktoriale Erzähler, dann folgt ein Akt aus einem Theaterstück, dann wieder schreibt Kertész aus der Perspektive Keserüs. Die Freiheit, die sich aus der Abwesenheit der Diktatur ergibt, entspricht der Freiheit der Formen, die Kertész vorführt. Die Wechsel von Formen und Erzählperspektiven sind kompliziert. Den Figuren hilft alles nichts. Auch Judit, die B. verlassen hatte, wird von ihrer Geschichte eingeholt. „Widerstehe der Versuchung”, hatte B. gesagt, „hüte dich davor, dich selbst zu erkennen, denn dann bist du verdammt.”
B.s großer Roman bleibt aus guten Gründen unauffindbar. Kertész hat den seinen, den „Roman eines Schicksallosen”, 1975 in Ungarn publizieren können. In „Liquidation” ist die Rede vom „Schriftgelehrten”. Was ist das? Ein Mensch, der eine tiefere Einsicht hat, ein Botschafter der Wahrheit. In der Geschichte „Die englische Flagge” lässt Kertész den Erzähler sagen, sein Leben diene dazu, „Zeugnis abzulegen”. So beschreibt Kertész seine eigene Aufgabe.
Die Selbstbeobachtung und die Beschäftigung mit Wittgenstein, den er ins Ungarische übersetzt hat, brachten Kertész zu einem Gottesbegriff jenseits von Glaube und Theologie. Dieser ersteht aus der Transzendierung der historischen Ereignisse ins Existentielle. In „Ich – ein anderer” findet sich ein Dialog, in dem „K., der Schriftsteller” sein Prophetentum darlegt: „Wenn Auschwitz vergeblich ist, so hat Gott Bankrott gemacht; und wenn wir Gott zum Bankrotteur machen, so werden wir Auschwitz nie verstehen. So bin ich denn bereit, . . . mich unterm grauen Himmel in den Staub hinzuknien, das Gesicht mit Asche zu bedecken und Auschwitz im grässlichen Zeichen der Gnade anzunehmen.” Es anzunehmen, um davon Zeugnis abzulegen. Aber Kertész weiß selbst, dass diese negative Theologie heikel ist. Ja, es ist „etwas faul an der Sache”: Die Vernichtung „so teleologisch” auffassen, hieße: dem Leben, das „Auschwitz” überlebt hat, einen Sinn geben. Und das führt in ein Paradoxon. Denn der Prophet hintergeht seine Einsicht nicht. Und diese liegt für Kertész eben darin, dass die KZ-Vernichtungsmaschinerie fortwirkt, weil sie die herkömmlichen Legitimationsmuster der Zivilisation annullierte. Die romantische Figur des prophetischen Genies gibt es nicht mehr. Der Seher, der mit besonderer Erfahrung geschlagen, mit besonderer Empfindsamkeit begabt ist und deshalb von der Wahrheit künden muss: ihn kann es nach Auschwitz nicht mehr geben. Die Vorhaltungen, die Kertész sich selbst in jenem Dialog macht, enden mit dem Satz: „K., der Schriftsteller, hat darauf nichts mehr erwidert. Seither schweigt er.”
Imre Kertész’ Lesungen tun dem deutschen Publikum wohl: Den Zuhörern darf es vorkommen, als seien sie erlöst, weil er von Dingen handelt, die sie um nichts mehr angehen als die Angehörigen anderer Nationen. Die deutsche Seele wird durch ihn entlastet. Denn was ihm widerfahren ist, hat er verallgemeinert, bis dahin, dass seit Auschwitz alle verdammt sind: „Ich beeilte mich, sie zu beruhigen”, steht in „Die Englische Flagge”: Tatsache sei, „dass jenseits des Anekdotischen jede Geschichte und jedermanns Geschichte vom wesentlichen her gesehen gleichartig sei, und dass diese im wesentlichen gleichartigen Geschichten im wesentlichen alle Schreckensgeschichten seien, dass im wesentlichen alles Geschehen tatsächlich schrecklich sei.” Die Angesprochenen sind Gäste einer Abendgesellschaft in Ungarn. Aber das gleiche gilt natürlich für die deutsche Gesellschaft.
Was den Juden angetan wurde, weil sie Juden waren, hat Kertész also generalisiert. Er tat es aus zwei Gründen: Er hat sich selbst nicht als „Jude” empfunden, als er deportiert wurde. Und es ist mit Auschwitz eine neue Form der Verdammnis in die Welt gekommen: Sie besteht in der für das Individuum unbegreiflichen Tatsache, nichts getan zu haben, was die eigene Vernichtung erklärlich machen könnte, und zudem die eigene Vernichtung durch keine Maßnahme – wie etwa: eine Konversion – abwenden zu können. Kertész ist darüber, mit seinem Wort, zum „Mystiker” geworden.
Die existentielle Verallgemeinerung, die darin liegt, „jedermanns Geschichte” eine Schreckensgeschichte zu nennen, bringt es dann aber mit sich, dass die Täter entlastet werden. In Kertész’ Texten ist die ganze Welt existentiell verdammt. Politik spielt da keine Rolle, denn mit politischen Mitteln kann Auschwitz nicht aufgehoben werden.
Dem entspricht es, dass Kertész den Tonfall wechselt, wenn er über aktuelle politische Themen schreibt: Dann äußert er Meinungen, wie andere es auch tun. Diese Meinungen, moralische Ansichten, entspringen einer Überzeugung, die Kertész sich – zu seiner eigenen Verwunderung – aus Kindertagen bewahrt hat: dass es so etwas wie Sittlichkeit gebe. „Wäre mein kindlicher Glaube an ursprüngliche – dem Ursprung verhaftete – Werte nicht intakt geblieben”, bekannte er in „Ich – ein anderer”, „ich hätte wohl nie etwas zustande gebracht.” Das gehört auch zu den Widersprüchen, in denen Kertész lebt: Einerseits ist er Mystiker, der von den Bewegungen in der Welt nichts erwartet; andererseits ist er Bildungsbürger und Moralist. Und nur als Mystiker spricht er für alle, nicht aber als Moralist.
Die neuen Zeitalter
Auschwitz sei „kein Geschichtsereignis”, hat Kertész geschrieben. Geschichte ist Politik, da gibt es auf allen Seiten definierte Akteure. Als Geschichtsereignis geht das KZ-System alle unmittelbar an, die irgendwie davon betroffen sind, und sei es, dass sie mit Erschütterung in einem Buch davon lesen.
Wenn diese Erschütterung im politischen Leben zur Rechtfertigung der eigenen Ansichten eingesetzt wird, so ist das zwar verständlich, doch ist es falsch: All die Vergleiche von diesem oder jenem Diktator mit Adolf Hitler, die Behauptung, man müsse Soldaten in dieses oder jenes Land entsenden, damit „Auschwitz” sich nicht wiederhole, sind lediglich Propaganda. So sollten wir nicht argumentieren. „Auschwitz” kann sich gar nicht wiederholen: Denn es ist die Chiffre für die im 20. Jahrhundert neu geschaffene condition humaine, die Imre Kertész beschreibt. Und als diese Chiffre ist „Auschwitz” ebenso einzigartig wie gegenwärtig. Die Semantik von „Auschwitz”: sie ist unser aller Sprache; und unsere Sprache: das sind wir.
FRANZISKA AUGSTEIN
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension

Iris Radisch sieht das Ende einer Epoche gekommen: "Romane von solcher Ernsthaftigkeit über das größte Verbrechen der menschlichen Geschichte" werde es zukünftig nicht mehr geben, Bücher, die nicht von der Wirklichkeit - "im alten, sonntäglichen Sinn des Wortes" - handeln können, weil die Wirklichkeit seit Auschwitz den Mördern gehört, Bücher, die von der Zerstörung nicht nur handeln, sondern in ihr wurzeln. Imre Kertesz habe mit "Liquidation" ein weiteres dieser Bücher geschrieben, einen Roman, der hässlich ist, weil er hässlich sein muss, eine Geschichte voll "narrativer Unfreundlichkeit" - große Literatur. Sie handelt nach dem bezeugenden "Roman eines Schicksallosen" dieses Mal von Nachgeborenen, "die den Ursprung ihrer Verletzung kaum kennen", von einem Schriftsteller, der "nichts erzählen kann außer der Geschichte einer Zerstörung, die namenlos bleibt". Was bleibt in der Welt nach Auschwitz, wenn es keine Zeugen mehr gibt, nur noch den stummen Griff der Zerstörung? Der Schriftsteller tötet sich selbst und hinterlässt ein Theaterstück, das sich Jahre nach seinem Tod als Prophezeiung erweist; sein Romanmanuskript aber lässt er verbrennen, vielleicht, um Raum für die Möglichkeit eines anderen Weiterlebens zu schaffen, für das Glück, auch nach Auschwitz, schreibt Radisch. "Kertesz ist kein Fanatiker", erklärt sie - "Liquidation ist ein einzigartiges literarisches, menschliches und historisches Dokument, das hellsichtig genug ist, von seiner eigenen Auslöschung zu handeln."

© Perlentaucher Medien GmbH
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In «Liquidation» hat Kertész seinen Auschwitz-Zyklus mit einem würdigen Schlussstein gekrönt. Frankfurter Rundschau