'Hätten meine Eltern mir erlaubt, den Schauplatz eines Buches, das ich las, selber aufzusuchen, so hätte das meiner Meinung nach einen unschätzbaren Fortschritt in der Eroberung der Wahrheit bedeutet.' Der sehnliche Wunsch des jungen Proust geht für den Leser des vorliegenden Buches in Erfüllung , mag es ihm als Begleiter auf literarischer Spurensuche oder auf Gedankenreisen dienen. Die hier vereinigten zehn Städtebilder verbinden sich zu einer literarischen Land- oder Himmelskarte, die freilich weniger für Literaturtouristen gedacht ist als für Endtdeckungsreisende. Es geht nicht um die Nachprüfung von Wirklichkeiten, die in poetische Werke eingegangen sind, sondern um die Veränderung unserer Wahrnehmung. Wir sehen Wien oder Prag mit anderen Augen, wenn wir Hofmannsthal oder Kafka gelesen haben, und wir lesen Goethes Suleikalieder anders, wenn wir den Heidelberger Schloßpark kennen, hören einen Satz wie 'Den 20. Jänner ging Lenz durchs Gebirg' anders, wenn wir - mit Büchners 'Lenz' - durch die Vogesen gewandert sind. 'Dichters Lande' und 'Land der Dichtung' durchdringen sich in der Schilderung dieser literarischen Landschaften.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.06.1999Spurensuche
"Literarische Landschaften", herausgegeben von Albert von Schirnding. Insel Taschenbuch 2182, Insel Verlag, Frankfurt am Main und Leipzig 1998. 134 Seiten, zahlreiche Fotografien. Broschiert, 16,80 Mark.
"Atlas des europäischen Romans: Wo die Literatur spielte" von Franco Moretti. DuMont Verlag, Köln 1999. 245 Seiten, zahlreiche Stadtpläne. Gebunden, 39,80 Mark.
Literarische Landschaften": das ist ein Reisebuch so ganz nach dem Geschmack des Literaturliebhabers. Und das, obwohl der Titel gleich in doppelter Hinsicht in die Irre führt. Denn zum einen führt die Spurensuche nur durch eine einzige Landschaft, das Elsaß, ansonsten durch neun Städte. Zum anderen werden Landschaften und Städte nicht etwa als literaturbildende Wesenheiten aufgefaßt, wie das etwa in nationalsozialistischer Zeit Josef Nadler in seiner "Literaturgeschichte der deutschen Landschaften und Stämme" vorgemacht hat. Landschaft und Städte bestimmen nach Albert von Schirnding nicht den Rang des dichterischen Werkes, sie sind für ihn vielmehr Orte, an denen Schriftsteller Elementarerlebnisse hatten, die sie zu Kunstwerken gestalteten. Behutsam nimmt er den Leser, der allerdings die deutsche Literatur der letzten dreihundert Jahre in groben Zügen kennen muß, an der Hand und führt ihn beispielsweise durch Zürich, die "Stadt ohne Wunder und Weihen", die nicht nur Gottfried Benn und Thomas Mann, sondern auch Georg Büchner, Max Frisch und Peter Weiss, um nur diese zu nennen, Idyll und Abgrund gleichermaßen gewesen ist. Jede Stadt entwickelt als Begegnungsstätte schöpferischer Menschen ihren eigenen Charakter. So wird Frankfurt zum "Ort der Entfremdung und Unwirtlichkeit", Rom zur "Vorhölle Arkadien", Jena zur "unromantischen Geburtsstätte der Romantik", Heidelberg zum "Symbol vergangener Größe", Tübingen zur "Märcheninsel Orplid", Bamberg zum "Ort höchster Tatkraft, gepaart mit Leichtigkeit", Prag zum "Sitz verzweifelter Größe" und Wien zur "traumhaften Wirklichkeit". Wie man die Vogesen mit anderen Gefühlen durchwandert, wenn man den Satz "Den 20. Jänner ging Lenz durchs Gebirg" im Ohr hat, so ändert sich die Wahrnehmung des Lesers, wenn er die Städte mit den Augen der Künstler betrachtet. Auf den Streifzügen durch die "literarischen Landschaften" wird der Kunstliebhaber auf eigentümliche Weise vertraut sowohl mit den Orten und ihren Besonderheiten als auch mit den Dichtern und ihren Werken. - Dem Gedanken, daß die Geographie eine entscheidende Rolle beim Zustandekommen von Literatur spielt, geht auch Franco Moretti nach, Literaturwissenschaftler und Bruder des Regisseurs Nanni Moretti. Er entwirft einen Atlas des europäischen Romans, vor allem des neunzehnten Jahrhunderts. Auf 91 Karten zeigt er eindrucksvoll, wie inhaltliche und stilistische Optionen an den geographischen Standort gebunden sind. Entscheidend ist dabei nicht, daß der Dichter am Ort des Geschehens Elementarerlebnisse hatte, ausschlaggebend sind vielmehr die gesellschaftspolitischen Situationen der Nationalstaaten beziehungsweise die Geschichte von London und Paris, zwei Städte, die Europa nicht nur in vielen Romanen ein ganzes Jahrhundert lang dominiert haben. Während Moretti in den ersten beiden Kapiteln neue Wege geht und den Leser zu imaginären wie konkreten Reisen anregt, liest sich das dritte Kapitel, in dem er den Markt des Romans um 1850 beschreibt, wie andere Untersuchungen der Literatursoziologie auch. (A.W.)
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Literarische Landschaften", herausgegeben von Albert von Schirnding. Insel Taschenbuch 2182, Insel Verlag, Frankfurt am Main und Leipzig 1998. 134 Seiten, zahlreiche Fotografien. Broschiert, 16,80 Mark.
"Atlas des europäischen Romans: Wo die Literatur spielte" von Franco Moretti. DuMont Verlag, Köln 1999. 245 Seiten, zahlreiche Stadtpläne. Gebunden, 39,80 Mark.
Literarische Landschaften": das ist ein Reisebuch so ganz nach dem Geschmack des Literaturliebhabers. Und das, obwohl der Titel gleich in doppelter Hinsicht in die Irre führt. Denn zum einen führt die Spurensuche nur durch eine einzige Landschaft, das Elsaß, ansonsten durch neun Städte. Zum anderen werden Landschaften und Städte nicht etwa als literaturbildende Wesenheiten aufgefaßt, wie das etwa in nationalsozialistischer Zeit Josef Nadler in seiner "Literaturgeschichte der deutschen Landschaften und Stämme" vorgemacht hat. Landschaft und Städte bestimmen nach Albert von Schirnding nicht den Rang des dichterischen Werkes, sie sind für ihn vielmehr Orte, an denen Schriftsteller Elementarerlebnisse hatten, die sie zu Kunstwerken gestalteten. Behutsam nimmt er den Leser, der allerdings die deutsche Literatur der letzten dreihundert Jahre in groben Zügen kennen muß, an der Hand und führt ihn beispielsweise durch Zürich, die "Stadt ohne Wunder und Weihen", die nicht nur Gottfried Benn und Thomas Mann, sondern auch Georg Büchner, Max Frisch und Peter Weiss, um nur diese zu nennen, Idyll und Abgrund gleichermaßen gewesen ist. Jede Stadt entwickelt als Begegnungsstätte schöpferischer Menschen ihren eigenen Charakter. So wird Frankfurt zum "Ort der Entfremdung und Unwirtlichkeit", Rom zur "Vorhölle Arkadien", Jena zur "unromantischen Geburtsstätte der Romantik", Heidelberg zum "Symbol vergangener Größe", Tübingen zur "Märcheninsel Orplid", Bamberg zum "Ort höchster Tatkraft, gepaart mit Leichtigkeit", Prag zum "Sitz verzweifelter Größe" und Wien zur "traumhaften Wirklichkeit". Wie man die Vogesen mit anderen Gefühlen durchwandert, wenn man den Satz "Den 20. Jänner ging Lenz durchs Gebirg" im Ohr hat, so ändert sich die Wahrnehmung des Lesers, wenn er die Städte mit den Augen der Künstler betrachtet. Auf den Streifzügen durch die "literarischen Landschaften" wird der Kunstliebhaber auf eigentümliche Weise vertraut sowohl mit den Orten und ihren Besonderheiten als auch mit den Dichtern und ihren Werken. - Dem Gedanken, daß die Geographie eine entscheidende Rolle beim Zustandekommen von Literatur spielt, geht auch Franco Moretti nach, Literaturwissenschaftler und Bruder des Regisseurs Nanni Moretti. Er entwirft einen Atlas des europäischen Romans, vor allem des neunzehnten Jahrhunderts. Auf 91 Karten zeigt er eindrucksvoll, wie inhaltliche und stilistische Optionen an den geographischen Standort gebunden sind. Entscheidend ist dabei nicht, daß der Dichter am Ort des Geschehens Elementarerlebnisse hatte, ausschlaggebend sind vielmehr die gesellschaftspolitischen Situationen der Nationalstaaten beziehungsweise die Geschichte von London und Paris, zwei Städte, die Europa nicht nur in vielen Romanen ein ganzes Jahrhundert lang dominiert haben. Während Moretti in den ersten beiden Kapiteln neue Wege geht und den Leser zu imaginären wie konkreten Reisen anregt, liest sich das dritte Kapitel, in dem er den Markt des Romans um 1850 beschreibt, wie andere Untersuchungen der Literatursoziologie auch. (A.W.)
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