Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.03.1998Ein Strumpf hing am Geheimen Rat
Plappermaul am Musenhof: Karl August Böttigers Aufzeichnungen aus dem klassischen Weimar / Von Ernst Osterkamp
Der Überfall der Genies erfolgte nach Eintritt der Dunkelheit. Friedrich Justus Bertuch, Sekretär und Verwalter der herzoglichen Schatulle, war 1776 zum Herzoglichen Rat ernannt worden und hatte daraufhin geheiratet. An dem Abend, an dem er seine junge Frau Caroline nach Weimar in die neu ausgestattete Wohnung geführt hatte, betraten der neunzehnjährige Herzog Carl August und Goethe die Räume, angestachelt von dem Gerücht, Bertuch "habe sich verteufelt spießbürgerisch eingerichtet". Bertuch konnte den Herzog nur mit Mühe davon abhalten, die schönen neuen Spiegel mit seinem Hieber zu zerschlagen. Dann nahm der Herzog einen Roman, den das Fräulein von Göchhausen Bertuch geliehen hatte, von dessen Schreibpult, "mit dem er so gleich eine Exekution vornahm, Blätter herausriß, und herausbrannte, Taback hineinstreute, und so die Bescheerung der Fräulein von Göchhausen versiegelt unter Bertuchs Namen zuschickte. Endlich hieb und stach er in die neuen Tapeten, weil dieß verflucht spießbürgerisch sei, daß man die nackten Wände überkleistern wollte. Die junge Frau schlich sich, wie vom Donner gerührt, über diese Behandlung davon. Bertuch verbiß seinen Ärger, ward aber einige Tage darauf sterbenskrank". Immerhin: als er in Todesgefahr war, tat der Herzog "gleichsam Abbitte", und Goethe "ging mit Thränen aus der Kammer, und drückte der tiefgekränkten Frau die Hand mit den Worten: sie habe einen harten Anfang".
Stimmt diese Geschichte wirklich? Sie wird wohl stimmen: Bertuch selbst hat sie Karl August Böttiger erzählt, und der hatte nicht nur ein ausgezeichnetes Gedächtnis, sondern schrieb auch alles, was ihm von den berühmten Bürgern Weimars oder über sie erzählt wurde, sogleich nieder und verwahrte all dies zu späterer Verwendung in seinen Mappen. Aus Böttigers Nachlaß tritt nun zwei Jahrhunderte nach ihrer Niederschrift auch diese Geschichte vom herzoglich-weimarischen Vandalismus ans Licht. Sie zeigt, daß im Weimarschen Geniewesen die Sturm-und-Drang-Rebellion offenbar eine enge Liaison mit spätabsolutischer Willkür eingegangen ist.
Niedergeschrieben hat Böttiger sie erst in den neunziger Jahren, also nach der Französischen Revolution, mit deren Zielen er wie Wieland, den er unter den Dichtern Weimars am meisten verehrte, durchaus sympathisiert hat. Dies steuerte den Blick des Aufklärers zurück auf die Weimarer Genieperiode, in der er Unvernunft in politischer wie ästhetischer Hinsicht gewahrte. Über die Besuche von Lenz, Merck und Klinger in Weimar berichtet er aus der Position bürgerlicher Rationalität mit kopfschüttelnder Verwunderung; über die künstlerischen Leistungen der Stürmer und Dränger weiß er nichts zu sagen. Und verschlossen blieb ihm letztlich wohl das meiste, was der größte Dichter Weimars schrieb. Denn mit jedem neuen Werk überschritt Goethe die gängigen Dichtungskonventionen. Am besten hat Böttiger das idyllische Epos "Hermann und Dorothea" gefallen. Hingerissen erzählt er davon, wie Goethe ihm die Gesänge vorgelesen hat. Böttiger hat das Werk 1797 an den Verleger Vieweg vermittelt.
Karl August Böttiger (1760 bis 1835) ist die bête noire des Weimarer Musenhofs. Er war, nach dem Studium der Philologie und der Theologie, zunächst Schulrektor in Guben und danach in Bautzen; 1791 holte ihn der Oberhofprediger Johann Gottfried Herder als Rektor des Gymnasiums nach Weimar. Im Jahre 1804 verließ er Weimar wieder, um die Leitung der Studienabteilungen an Pagerie und Ritterakademie in Dresden zu übernehmen. Ein engeres Verhältnis zu Goethe und Schiller hat Böttiger nie aufbauen können. Seit seinem im Januar 1802 verfaßten, von Goethe unterdrückten Verriß von A. W. Schlegels "Ion", den Goethe in Weimar auf die Bühne gebracht hatte, zählte dieser Böttiger ohnehin zu den "gründlichsten Schuften, die Gott erschuf".
Seine Weimarer Amtsgeschäfte lasteten diesen schreibwütigen Schulmann keineswegs aus. Von 1794 bis 1809 übernahm er die Redaktion von Wielands "Neuem Teutschen Merkur", von 1795 bis 1803 leitete er Bertuchs "Journal des Luxus und der Moden" und das Journal "London und Paris", und überdies belieferte er alle in- und ausländischen Journale und Zeitungen, die seine Mitarbeit wünschten, mit seinen Artikeln. Den Rest seiner Zeit füllte Böttigers Rastlosigkeit mit Korrespondenz; in seinem Nachlaß fanden sich rund zwanzigtausend Briefe. Kein Wunder, daß ihm seine gesellschaftliche und journalistische Allgegenwart bei Schiller den Titel "Meister Ubique" eintrug!
Allerdings war Böttiger auch ein hochangesehener und kenntnisreicher Archäologe und Altphilologe - einer freilich, der, wie mancher moderne Kulturwissenschaftler, so ziemlich alles interessant fand und dabei nicht immer das Wichtige vom Unwichtigen zu unterscheiden vermochte. Höchst lesenswert bis heute ist Böttigers zweibändiges Werk "Sabina oder Morgenszenen im Putzzimmer einer reichen Römerin" (1803), ein Klassiker der Alltagsgeschichte. Allerdings darf man bei einem Autor, der es schafft, sechshundert Seiten mit Morgenszenen im Putzzimmer einer reichen Römerin zu füllen, eine bemerkenswerte Neigung zu Indiskretionen vermuten.
Diese nun tritt in Böttigers nachgelassenen Aufzeichnungen über seine Begegnungen und Gespräche im klassischen Weimar dankenswert klar zutage. Vielleicht waren Böttigers Aufzeichnungen, wie sein Sohn vermutete, als Materialsammlung für künftige Nekrologe eines "biographischen Todtenbestatters" gedacht, als "ein deutscher Kirchhof à la Père la Chaise". Vielleicht auch schwebte Böttiger eine Wieland-Biographie vor. Jedenfalls plante bis in seine letzten Lebensjahre, seine Weimarer Memorabilien unter dem Titel "Reliquien" drucken zu lassen. Er fand aber keinen Verleger hierfür, und dies wohl auch deshalb, weil mancher zu Recht vermutete, er werde mit Böttigers geschwätzigen Kleinoden Anstoß erregen. So brachte erst Böttigers Sohn im Jahre 1838 eine Auswahl aus dessen Papieren unter dem Titel "Literarische Zustände und Zeitgenossen" heraus, die das Böttigers Ruf als Meister des Klatsches für alle Zeiten befestigt hat.
Man sollte aber gerecht sein: Wenn Böttiger ein Meister des literarischen Gossip ist, dann doch vor allem deshalb, weil er den Klatsch all der anderen - von Herder und Wieland, von Bertuch und Madame de Staël - aufgezeichnet hat. Das klassische Weimar war - wie denn auch anders? - eben auch eine literarische Klatschgemeinschaft, in der sich auf engstem Raum Gruppen und Grüppchen aufmerksam und eifersüchtig beäugten, keine Schwäche unbeobachtet und keine Stärke unbezweifelt blieb. Wer beim Hofe empfangen, wer bei Goethe vorgelassen wurde, wer wen besuchte, wer wem aus dem Wege ging oder zu schaden suchte, all dies wurde sorgfältig registriert und von Böttiger mit Sinn fürs sprechende Detail aufgezeichnet. Bei Böttiger erscheinen die klassischen Dichter menschlich, allzu menschlich - was freilich auch heißt, daß bei ihm über die klassische Dichtung so gut wie nichts zu erfahren ist. Böttigers Interesse geht nie über das eines Biographen hinaus, der danach fragt, welche Erlebnisse des Dichters Eingang in seine Werke gefunden haben.
Klaus Gerlach und René Sternke haben nun, 160 Jahre nach der Erstausgabe, eine kommentierte Neuausgabe der "Literarischen Zustände und Zeitgenossen" vorgelegt, die erstmals das gesamte einschlägige Nachlaßmaterial ohne die von Böttigers Sohn vorgenommenen Kürzungen präsentiert. Waren in der Erstausgabe nur die Aufzeichnungen über Goethe, Schiller, Wieland, Herder und Bertuch enthalten, so kann man hier nun auch Schilderungen zu Göschen, Gotter, Loder, Manso, Johannes von Müller, Ramdohr, Rehberg, Madame de Staël, Tischbein und Voß finden. Man liest diese bisher weitgehend unbekannten Abschnitte gern und mit entspanntem Interesse, dankbar für Böttigers Charakterisierungskunst und froh über manche hübsche Trouvaille, etwa den folgenden Bericht über Madame de Staël: Sie habe Goethe in Gegenwart von Johannes von Müller mit "liebenswürdigster Unbefangenheit" erklärt, daß es ihm am richtigen Verhältnis zu Frauen fehle, weil er "Weiber stets nur als Spielwerkzeuge oder Passiva in der Schäferstunde ansah und bei wahrhaft geistreichen und witzigen Frauen, die ihn nicht anbeteten, sich stets übel befand". Mag sein, daß sie damit nicht ganz unrecht hatte, aber taktlos war ihre Bemerkung dennoch, weil hier zugleich die Aggression gegen Christiane Vulpius allzu offen durchklang.
Überhaupt gehört die kleinstädtische Häme gegen die "Vulpia" zu den unangenehmsten Zügen der Böttigerschen Aufzeichnungen. Manches davon hatte die Erstausgabe getilgt, etwa die folgende Bemerkung, die im März 1797, als Goethe eine weitere Italienreise plante, bei Wieland fiel: "Göthe sollte die Vulpia als Pagen mit nach Italien nehmen, damit die Italiener auch einmal etwas zu sehn bekämen. Sie sei eine Sau mit dem Perlenhalsband." Hier lassen die "ehrlichen Weimaraner" an der "kleinen, unansehnlichen Person" ihren Zorn über den Minister am Hofe aus, der sich eine Mätresse leistet. Die Bewunderung für die geistige Freiheit Goethes wächst, wenn man diese Zeugnisse für die in Weimar selbst bei den besten Köpfen regierende moralische Enge zur Kenntnis nimmt. Schon im Oktober 1791, bald nach seiner Ankunft in Weimar, nennt Böttiger Goethe den "unabhängigsten aber auch launenvollsten Mann in Weimar".
Das Familienidyll, das Böttiger 1795 wie ein Paparazzo von der Familie Goethe in einem unbewachten Augenblick aufgenommen hat (und das ebenfalls die Erstausgabe noch nicht wiederzugeben wagte), läßt gerade in seiner Distanz zur höfischen Inszenierung viel von dieser inneren Freiheit Goethes durchscheinen: "Abends sitzt er in einer wohlgeheizten Stube eine weise Fuhrmannsmütze auf dem Kopf, ein Moltumjäckchen und lange Flauschpantalons an, in nieder getretnen Pantoffeln und herabhängenden Stümpfen im Lehnstuhl, während sein kleiner Junge auf seinen Knieen schaukelt. In einem Winkel sitzt stillschweigend und meditirend der Maler Meyer, auf der andern Seite die Donna Vulpia mit dem Strickstrumpf. Dies ist die Familiengruppe."
Zu Schiller weiß Böttiger kaum etwas zu sagen, weil er ihn in seiner Neigung zur Philosophie nicht versteht. Herder bewundert er, seine ganze Liebe aber gehört Wieland. Die Aufzeichnungen zu Wieland sind nicht nur vom Umfang, sondern auch vom sachlichen Gehalt her die gewichtigsten des Bands. Den kalten Blick, den Böttiger auf Goethe wirft, hat Wieland keineswegs geteilt, auch wenn er gelegentlich herbe Urteile fällt: "Göthe ist der größte Egoist, den ich je kennen lernte." (Auch diesen Satz hat die Erstausgabe unterdrückt.) Noch die schroffste Äußerung Wielands über Goethe, die dem Alten in Augenblicken der Verbitterung entrinnt, läßt Achtung, Bewunderung, Liebe durchklingen: Klug erklärt er den Hauptunterschied zwischen sich und Goethe aus der "sinnlichen Organisation": Er, der kurzsichtige Wieland, habe "äußerst blöde Sinne, besonders Augen. Daher ist alle seine Poesie Feenwerk, Fantasiespiel, Vision und Exaltate des innren Auges". Goethe dagegen habe äußerst scharfe Sinne, deshalb erfasse er "die sinnlichen Gegenstände mit unwiderstehlicher Gewalt und Wahrheit" mit "crystallheller Klarheit im Ausdruck". Für Aufzeichnungen wie diese wollen wir Böttiger immer dankbar sein, wie auch für die wunderbare Szene, in der der so herzensgute wie leicht auffahrende Wieland aufs bitterste über die "verwünschte Hoffrohne" klagt und schimpft, weil die Herzogin ihn an den Hof gebeten hat, wo ihn ein Graf kennenzulernen wünscht. Und während er so jammert und tobt, wird er geduldig von Frau und Tochter "angeschuhet, angewamset, angezogen", weil sie ja wissen, daß er vor Freude glänzend zurückkehren und noch tagelang von der Begegnung mit dem Grafen schwärmen wird.
Wir verdanken Böttiger die schönsten Beiträge zur Charakteristik des späten Wieland. Wie verbittert er oft über die Verhältnisse in Weimar war, zeigt freilich erst diese Neuausgabe. Da läßt Böttiger Wieland sagen, seine "Abderiten" seien in einer "Stunde des Unmuths" entstanden, "wo ich von meinem Mansardenfenster herab die ganze Weimarsche Welt voll Koth und Unrath erblickte". Die Erstausgabe hatte den Bezug zu Weimar getilgt und damit die Stelle entscheidend entschärft.
Böttiger hat sich auch Gedanken über das Versiegen von Wielands dichterischer Produktivität im Alter gemacht. Da heißt es in der Erstausgabe: "Mit Recht hat Goethe Wielanden die zierliche Jungfrau von Weimar genannt. Er ist kaum ein Viertel Mann." Nach diesen kryptischen Sätzen inszeniert der Text von 1838 mit vier langen Gedankenstrichen ein dröhnendes Schweigen. Was sie verbargen, kann man nun in der Neuausgabe nachlesen: "Dennoch ging alle seine Begeisterung eigentlich vom penis aus und daher kann er jetzt durchaus nicht mehr dichten."
Böttiger sammelt Stimmen, Bilder, Erinnerungen; viel eigene Gedanken hat er nicht. Seine Aufzeichnungen enthalten viel leeres Stroh und wundersame Köstlichkeiten, zum Beispiel das 1796 geführte Gespräch zwischen Wieland und Herder über die Schweine, das aufs trefflichste die Sprecher charakterisiert: "Ihre Schöpfung allein, sagt Wieland, kann ich der Natur nicht verzeihn. Ihre Thierheit, ihre Antigrazie ist mir schon in der Vorstellung ein Abscheu. Herder führt nun die Sache der Schweine mit großer Beredsamkeit und vertheidigt ihre Ehre 1) weil sie mit den Menschen die größte Ausbreitung auf der Erde haben 2) weil sie in ihrem innern Bau so viel Aehnlichkeit mit den Menschen haben 3) weil sie ächte Republikaner sind." So der Beginn einer langen "Schweinedissertation", an deren Ende ein Schotte Böttiger ins Ohr flüstert. "Tis very strange indeed, that such men as Mr. Herder and Wieland should engage so deeply in a dispute about with swine." Ja, es ist schon sonderbar, diesen fernen Stimmen aus zweihundertjähriger Distanz zuzuhören.
Man liest Böttiger gern, so wie man in Augenblicken der Entspannung gern auch einmal ein Coffeetable-Book in die Hand nimmt oder vielleicht auch ein Blatt der Yellow press. Das Beste, was man über ihn sagen kann, ist, daß er Hunger macht. Zum Beispiel auf ein Buch von Wieland.
Karl August Böttiger: "Literarische Zustände und Zeitgenossen". Begegnungen und Gespräche im klassischen Weimar. Herausgegeben von Klaus Gerlach und René Sternke. Aufbau Verlag, Berlin 1998. 601 S., geb., 69,90 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Plappermaul am Musenhof: Karl August Böttigers Aufzeichnungen aus dem klassischen Weimar / Von Ernst Osterkamp
Der Überfall der Genies erfolgte nach Eintritt der Dunkelheit. Friedrich Justus Bertuch, Sekretär und Verwalter der herzoglichen Schatulle, war 1776 zum Herzoglichen Rat ernannt worden und hatte daraufhin geheiratet. An dem Abend, an dem er seine junge Frau Caroline nach Weimar in die neu ausgestattete Wohnung geführt hatte, betraten der neunzehnjährige Herzog Carl August und Goethe die Räume, angestachelt von dem Gerücht, Bertuch "habe sich verteufelt spießbürgerisch eingerichtet". Bertuch konnte den Herzog nur mit Mühe davon abhalten, die schönen neuen Spiegel mit seinem Hieber zu zerschlagen. Dann nahm der Herzog einen Roman, den das Fräulein von Göchhausen Bertuch geliehen hatte, von dessen Schreibpult, "mit dem er so gleich eine Exekution vornahm, Blätter herausriß, und herausbrannte, Taback hineinstreute, und so die Bescheerung der Fräulein von Göchhausen versiegelt unter Bertuchs Namen zuschickte. Endlich hieb und stach er in die neuen Tapeten, weil dieß verflucht spießbürgerisch sei, daß man die nackten Wände überkleistern wollte. Die junge Frau schlich sich, wie vom Donner gerührt, über diese Behandlung davon. Bertuch verbiß seinen Ärger, ward aber einige Tage darauf sterbenskrank". Immerhin: als er in Todesgefahr war, tat der Herzog "gleichsam Abbitte", und Goethe "ging mit Thränen aus der Kammer, und drückte der tiefgekränkten Frau die Hand mit den Worten: sie habe einen harten Anfang".
Stimmt diese Geschichte wirklich? Sie wird wohl stimmen: Bertuch selbst hat sie Karl August Böttiger erzählt, und der hatte nicht nur ein ausgezeichnetes Gedächtnis, sondern schrieb auch alles, was ihm von den berühmten Bürgern Weimars oder über sie erzählt wurde, sogleich nieder und verwahrte all dies zu späterer Verwendung in seinen Mappen. Aus Böttigers Nachlaß tritt nun zwei Jahrhunderte nach ihrer Niederschrift auch diese Geschichte vom herzoglich-weimarischen Vandalismus ans Licht. Sie zeigt, daß im Weimarschen Geniewesen die Sturm-und-Drang-Rebellion offenbar eine enge Liaison mit spätabsolutischer Willkür eingegangen ist.
Niedergeschrieben hat Böttiger sie erst in den neunziger Jahren, also nach der Französischen Revolution, mit deren Zielen er wie Wieland, den er unter den Dichtern Weimars am meisten verehrte, durchaus sympathisiert hat. Dies steuerte den Blick des Aufklärers zurück auf die Weimarer Genieperiode, in der er Unvernunft in politischer wie ästhetischer Hinsicht gewahrte. Über die Besuche von Lenz, Merck und Klinger in Weimar berichtet er aus der Position bürgerlicher Rationalität mit kopfschüttelnder Verwunderung; über die künstlerischen Leistungen der Stürmer und Dränger weiß er nichts zu sagen. Und verschlossen blieb ihm letztlich wohl das meiste, was der größte Dichter Weimars schrieb. Denn mit jedem neuen Werk überschritt Goethe die gängigen Dichtungskonventionen. Am besten hat Böttiger das idyllische Epos "Hermann und Dorothea" gefallen. Hingerissen erzählt er davon, wie Goethe ihm die Gesänge vorgelesen hat. Böttiger hat das Werk 1797 an den Verleger Vieweg vermittelt.
Karl August Böttiger (1760 bis 1835) ist die bête noire des Weimarer Musenhofs. Er war, nach dem Studium der Philologie und der Theologie, zunächst Schulrektor in Guben und danach in Bautzen; 1791 holte ihn der Oberhofprediger Johann Gottfried Herder als Rektor des Gymnasiums nach Weimar. Im Jahre 1804 verließ er Weimar wieder, um die Leitung der Studienabteilungen an Pagerie und Ritterakademie in Dresden zu übernehmen. Ein engeres Verhältnis zu Goethe und Schiller hat Böttiger nie aufbauen können. Seit seinem im Januar 1802 verfaßten, von Goethe unterdrückten Verriß von A. W. Schlegels "Ion", den Goethe in Weimar auf die Bühne gebracht hatte, zählte dieser Böttiger ohnehin zu den "gründlichsten Schuften, die Gott erschuf".
Seine Weimarer Amtsgeschäfte lasteten diesen schreibwütigen Schulmann keineswegs aus. Von 1794 bis 1809 übernahm er die Redaktion von Wielands "Neuem Teutschen Merkur", von 1795 bis 1803 leitete er Bertuchs "Journal des Luxus und der Moden" und das Journal "London und Paris", und überdies belieferte er alle in- und ausländischen Journale und Zeitungen, die seine Mitarbeit wünschten, mit seinen Artikeln. Den Rest seiner Zeit füllte Böttigers Rastlosigkeit mit Korrespondenz; in seinem Nachlaß fanden sich rund zwanzigtausend Briefe. Kein Wunder, daß ihm seine gesellschaftliche und journalistische Allgegenwart bei Schiller den Titel "Meister Ubique" eintrug!
Allerdings war Böttiger auch ein hochangesehener und kenntnisreicher Archäologe und Altphilologe - einer freilich, der, wie mancher moderne Kulturwissenschaftler, so ziemlich alles interessant fand und dabei nicht immer das Wichtige vom Unwichtigen zu unterscheiden vermochte. Höchst lesenswert bis heute ist Böttigers zweibändiges Werk "Sabina oder Morgenszenen im Putzzimmer einer reichen Römerin" (1803), ein Klassiker der Alltagsgeschichte. Allerdings darf man bei einem Autor, der es schafft, sechshundert Seiten mit Morgenszenen im Putzzimmer einer reichen Römerin zu füllen, eine bemerkenswerte Neigung zu Indiskretionen vermuten.
Diese nun tritt in Böttigers nachgelassenen Aufzeichnungen über seine Begegnungen und Gespräche im klassischen Weimar dankenswert klar zutage. Vielleicht waren Böttigers Aufzeichnungen, wie sein Sohn vermutete, als Materialsammlung für künftige Nekrologe eines "biographischen Todtenbestatters" gedacht, als "ein deutscher Kirchhof à la Père la Chaise". Vielleicht auch schwebte Böttiger eine Wieland-Biographie vor. Jedenfalls plante bis in seine letzten Lebensjahre, seine Weimarer Memorabilien unter dem Titel "Reliquien" drucken zu lassen. Er fand aber keinen Verleger hierfür, und dies wohl auch deshalb, weil mancher zu Recht vermutete, er werde mit Böttigers geschwätzigen Kleinoden Anstoß erregen. So brachte erst Böttigers Sohn im Jahre 1838 eine Auswahl aus dessen Papieren unter dem Titel "Literarische Zustände und Zeitgenossen" heraus, die das Böttigers Ruf als Meister des Klatsches für alle Zeiten befestigt hat.
Man sollte aber gerecht sein: Wenn Böttiger ein Meister des literarischen Gossip ist, dann doch vor allem deshalb, weil er den Klatsch all der anderen - von Herder und Wieland, von Bertuch und Madame de Staël - aufgezeichnet hat. Das klassische Weimar war - wie denn auch anders? - eben auch eine literarische Klatschgemeinschaft, in der sich auf engstem Raum Gruppen und Grüppchen aufmerksam und eifersüchtig beäugten, keine Schwäche unbeobachtet und keine Stärke unbezweifelt blieb. Wer beim Hofe empfangen, wer bei Goethe vorgelassen wurde, wer wen besuchte, wer wem aus dem Wege ging oder zu schaden suchte, all dies wurde sorgfältig registriert und von Böttiger mit Sinn fürs sprechende Detail aufgezeichnet. Bei Böttiger erscheinen die klassischen Dichter menschlich, allzu menschlich - was freilich auch heißt, daß bei ihm über die klassische Dichtung so gut wie nichts zu erfahren ist. Böttigers Interesse geht nie über das eines Biographen hinaus, der danach fragt, welche Erlebnisse des Dichters Eingang in seine Werke gefunden haben.
Klaus Gerlach und René Sternke haben nun, 160 Jahre nach der Erstausgabe, eine kommentierte Neuausgabe der "Literarischen Zustände und Zeitgenossen" vorgelegt, die erstmals das gesamte einschlägige Nachlaßmaterial ohne die von Böttigers Sohn vorgenommenen Kürzungen präsentiert. Waren in der Erstausgabe nur die Aufzeichnungen über Goethe, Schiller, Wieland, Herder und Bertuch enthalten, so kann man hier nun auch Schilderungen zu Göschen, Gotter, Loder, Manso, Johannes von Müller, Ramdohr, Rehberg, Madame de Staël, Tischbein und Voß finden. Man liest diese bisher weitgehend unbekannten Abschnitte gern und mit entspanntem Interesse, dankbar für Böttigers Charakterisierungskunst und froh über manche hübsche Trouvaille, etwa den folgenden Bericht über Madame de Staël: Sie habe Goethe in Gegenwart von Johannes von Müller mit "liebenswürdigster Unbefangenheit" erklärt, daß es ihm am richtigen Verhältnis zu Frauen fehle, weil er "Weiber stets nur als Spielwerkzeuge oder Passiva in der Schäferstunde ansah und bei wahrhaft geistreichen und witzigen Frauen, die ihn nicht anbeteten, sich stets übel befand". Mag sein, daß sie damit nicht ganz unrecht hatte, aber taktlos war ihre Bemerkung dennoch, weil hier zugleich die Aggression gegen Christiane Vulpius allzu offen durchklang.
Überhaupt gehört die kleinstädtische Häme gegen die "Vulpia" zu den unangenehmsten Zügen der Böttigerschen Aufzeichnungen. Manches davon hatte die Erstausgabe getilgt, etwa die folgende Bemerkung, die im März 1797, als Goethe eine weitere Italienreise plante, bei Wieland fiel: "Göthe sollte die Vulpia als Pagen mit nach Italien nehmen, damit die Italiener auch einmal etwas zu sehn bekämen. Sie sei eine Sau mit dem Perlenhalsband." Hier lassen die "ehrlichen Weimaraner" an der "kleinen, unansehnlichen Person" ihren Zorn über den Minister am Hofe aus, der sich eine Mätresse leistet. Die Bewunderung für die geistige Freiheit Goethes wächst, wenn man diese Zeugnisse für die in Weimar selbst bei den besten Köpfen regierende moralische Enge zur Kenntnis nimmt. Schon im Oktober 1791, bald nach seiner Ankunft in Weimar, nennt Böttiger Goethe den "unabhängigsten aber auch launenvollsten Mann in Weimar".
Das Familienidyll, das Böttiger 1795 wie ein Paparazzo von der Familie Goethe in einem unbewachten Augenblick aufgenommen hat (und das ebenfalls die Erstausgabe noch nicht wiederzugeben wagte), läßt gerade in seiner Distanz zur höfischen Inszenierung viel von dieser inneren Freiheit Goethes durchscheinen: "Abends sitzt er in einer wohlgeheizten Stube eine weise Fuhrmannsmütze auf dem Kopf, ein Moltumjäckchen und lange Flauschpantalons an, in nieder getretnen Pantoffeln und herabhängenden Stümpfen im Lehnstuhl, während sein kleiner Junge auf seinen Knieen schaukelt. In einem Winkel sitzt stillschweigend und meditirend der Maler Meyer, auf der andern Seite die Donna Vulpia mit dem Strickstrumpf. Dies ist die Familiengruppe."
Zu Schiller weiß Böttiger kaum etwas zu sagen, weil er ihn in seiner Neigung zur Philosophie nicht versteht. Herder bewundert er, seine ganze Liebe aber gehört Wieland. Die Aufzeichnungen zu Wieland sind nicht nur vom Umfang, sondern auch vom sachlichen Gehalt her die gewichtigsten des Bands. Den kalten Blick, den Böttiger auf Goethe wirft, hat Wieland keineswegs geteilt, auch wenn er gelegentlich herbe Urteile fällt: "Göthe ist der größte Egoist, den ich je kennen lernte." (Auch diesen Satz hat die Erstausgabe unterdrückt.) Noch die schroffste Äußerung Wielands über Goethe, die dem Alten in Augenblicken der Verbitterung entrinnt, läßt Achtung, Bewunderung, Liebe durchklingen: Klug erklärt er den Hauptunterschied zwischen sich und Goethe aus der "sinnlichen Organisation": Er, der kurzsichtige Wieland, habe "äußerst blöde Sinne, besonders Augen. Daher ist alle seine Poesie Feenwerk, Fantasiespiel, Vision und Exaltate des innren Auges". Goethe dagegen habe äußerst scharfe Sinne, deshalb erfasse er "die sinnlichen Gegenstände mit unwiderstehlicher Gewalt und Wahrheit" mit "crystallheller Klarheit im Ausdruck". Für Aufzeichnungen wie diese wollen wir Böttiger immer dankbar sein, wie auch für die wunderbare Szene, in der der so herzensgute wie leicht auffahrende Wieland aufs bitterste über die "verwünschte Hoffrohne" klagt und schimpft, weil die Herzogin ihn an den Hof gebeten hat, wo ihn ein Graf kennenzulernen wünscht. Und während er so jammert und tobt, wird er geduldig von Frau und Tochter "angeschuhet, angewamset, angezogen", weil sie ja wissen, daß er vor Freude glänzend zurückkehren und noch tagelang von der Begegnung mit dem Grafen schwärmen wird.
Wir verdanken Böttiger die schönsten Beiträge zur Charakteristik des späten Wieland. Wie verbittert er oft über die Verhältnisse in Weimar war, zeigt freilich erst diese Neuausgabe. Da läßt Böttiger Wieland sagen, seine "Abderiten" seien in einer "Stunde des Unmuths" entstanden, "wo ich von meinem Mansardenfenster herab die ganze Weimarsche Welt voll Koth und Unrath erblickte". Die Erstausgabe hatte den Bezug zu Weimar getilgt und damit die Stelle entscheidend entschärft.
Böttiger hat sich auch Gedanken über das Versiegen von Wielands dichterischer Produktivität im Alter gemacht. Da heißt es in der Erstausgabe: "Mit Recht hat Goethe Wielanden die zierliche Jungfrau von Weimar genannt. Er ist kaum ein Viertel Mann." Nach diesen kryptischen Sätzen inszeniert der Text von 1838 mit vier langen Gedankenstrichen ein dröhnendes Schweigen. Was sie verbargen, kann man nun in der Neuausgabe nachlesen: "Dennoch ging alle seine Begeisterung eigentlich vom penis aus und daher kann er jetzt durchaus nicht mehr dichten."
Böttiger sammelt Stimmen, Bilder, Erinnerungen; viel eigene Gedanken hat er nicht. Seine Aufzeichnungen enthalten viel leeres Stroh und wundersame Köstlichkeiten, zum Beispiel das 1796 geführte Gespräch zwischen Wieland und Herder über die Schweine, das aufs trefflichste die Sprecher charakterisiert: "Ihre Schöpfung allein, sagt Wieland, kann ich der Natur nicht verzeihn. Ihre Thierheit, ihre Antigrazie ist mir schon in der Vorstellung ein Abscheu. Herder führt nun die Sache der Schweine mit großer Beredsamkeit und vertheidigt ihre Ehre 1) weil sie mit den Menschen die größte Ausbreitung auf der Erde haben 2) weil sie in ihrem innern Bau so viel Aehnlichkeit mit den Menschen haben 3) weil sie ächte Republikaner sind." So der Beginn einer langen "Schweinedissertation", an deren Ende ein Schotte Böttiger ins Ohr flüstert. "Tis very strange indeed, that such men as Mr. Herder and Wieland should engage so deeply in a dispute about with swine." Ja, es ist schon sonderbar, diesen fernen Stimmen aus zweihundertjähriger Distanz zuzuhören.
Man liest Böttiger gern, so wie man in Augenblicken der Entspannung gern auch einmal ein Coffeetable-Book in die Hand nimmt oder vielleicht auch ein Blatt der Yellow press. Das Beste, was man über ihn sagen kann, ist, daß er Hunger macht. Zum Beispiel auf ein Buch von Wieland.
Karl August Böttiger: "Literarische Zustände und Zeitgenossen". Begegnungen und Gespräche im klassischen Weimar. Herausgegeben von Klaus Gerlach und René Sternke. Aufbau Verlag, Berlin 1998. 601 S., geb., 69,90 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main