Die Geschichte der Literatur ist auch eine Geschichte ihrer Skandale. Die Zahl der betroffenen Autoren ist groß, sie reicht von Gottfried von Straßburg bis Martin Walser oder Vladimir Sorokin. Es gibt eine Vielzahl von Mechanismen, die ineinandergreifen, um einen literarischen Text zu einem Skandal werden zu lassen. Im vorliegenden Band werden exemplarische Skandale der Weltliteratur nachgezeichnet, dabei wird auch nach den juristischen, den sozialen, den wirtschaftlichen, den politischen Rahmenbedingungen gefragt und die Funktion des Skandals für seine Initiatoren oder andere »Nutznießer« in den Blick genommen.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.06.2008Unanständige Umtriebe
Die tun nichts, die wollen nur spielen: Ein Sammelband schreibt die Literaturgeschichte der Empörung, und es kommen alle darin vor: "Lolita", "Esra", Handke und Walser.
Die "Ökonomie der Aufmerksamkeit" ist eine recht junge Disziplin. Ihr zufolge werden die gesellschaftlichen Ordnungen der Zukunft nicht von Geld und Kapital, sondern von Wahrnehmung und Medien beherrscht. Nur wer auffalle, werde sich behaupten können, heißt es. Nun scheint es, dass diese These ausgerechnet dort verifiziert werden kann, wo es um öffentliche Resonanz gemeinhin nicht gerade berauschend bestellt ist: im literarischen Feld.
Auch die Dichter haben nämlich längst erkannt, wie man sich möglichst rasch möglichst viel Publikum verschafft: Spätestens seit den Stimmungskanonen der Avantgarden hat sich hierfür die Erregung eines Skandals als die effizienteste Strategie erwiesen. Die Empörung, die der Skandal auslöst, sorgt für eine Aufmerksamkeit, die keine Stilfigur und kein noch so gelungener Plot garantieren können.
In den vergangenen Jahren fand diese Strategie nicht umsonst vor allem bei Intellektuellen Anwendung, die ihre berufliche Sozialisation in den sechziger Jahren erfahren haben: bei Peter Handke etwa oder bei Martin Walser, beide geübte Künstler des Auffälligwerdens. So unterschiedlich ihre Werke sind, so verwandt zeigen sie sich doch im Umgang mit dem Inszenierungsgeschäft der Medien, sei es als Sonntagsredner, sei es als Kriegsreisender. Die Abwehrreflexe, die ihre provokanten Beiträge auslösten, führten immerhin dazu, dass letztlich literarische Angelegenheiten bis in die Abendnachrichten vordringen konnten.
In Österreich, der Heimat von Elfriede Jelinek und Thomas Bernhard, kennt man sich mit intellektuellen Ruhestörern ganz besonders gut aus. So verwundert es auch nicht, dass zwei Innsbrucker Germanisten zum Thema "Literatur als Skandal" einen schweren Sammelband vorlegen. Stefan Neuhaus und Johann Holzner haben gleich mehrere Dutzend Kollegen durch die Literaturgeschichte geschickt mit dem Auftrag, alles ans Tageslicht zu befördern, was je das Nervenkostüm der Rezipienten besonders strapazierte. Das Spektrum der Fälle reicht von der "Unsittlichkeit in Gottfrieds von Straßburg Tristan" in der Wahrnehmung des neunzehnten Jahrhunderts bis zur Verunglimpfungsfehde zwischen Heine und Platen, von Nabokovs "Lolita" als pädophilem "Nymphchen-Mythos" bis hin zu Binjamin Wilkomirskis vor einigen Jahren erschienener fingierter Autobiographie über seine angebliche Kindheit im Konzentrationslager.
Ob Entblößungen, Verdrängungen oder Konversionen jedweder Art - der Skandal lauert, wo Grenzen des guten Tons, der Moral, der politischen Übereinkünfte und der religiösen Gefühle überschritten werden oder, wie der Literatenkanzler Gerhard Schröder gesagt haben würde, wo es eben "unanständig" wird. Doch diese Kategorie ist dermaßen relativ in ihrer historischen wie kulturellen Bedingtheit, dass eine geschichtliche Darstellung von Skandalen sich ständig über den inzwischen eingetretenen Reibungsverlust hinwegtrösten muss. Nichts ist so alt wie der Skandal von gestern. Jede Erregung kühlt einmal ab, jede Empörung verpufft - und im Nachhinein hat sich meistens im großen Lärm das Korsett des Sagbaren gelockert.
Vor neuerlichen Einschnürungen schützt das freilich nicht, wie die chronologische Durchsicht der Beiträge deutlich macht. Denn wo es um die Freiheit des Worts geht, müssen neue Tabus nie lange gesucht werden. Angenommen, die breite Auswahl des Bandes ist repräsentativ, dann betrifft die aktuelle Sensibilität neben den eher peripher gewordenen Fragen der Scham oder der political correctness zunehmend Fragen des Persönlichkeitsrechts. Am Beispiel des gerichtlich verbotenen Romans "Esra" von Maxim Biller wird klar, welche Konsequenzen es für die Kunstausübung haben kann, wenn reale Personen, Namen und Adressen zum Gegenstand eines Romans werden - aber nicht mehr Literaturwissenschaftler über den Fiktionalitätsbegriff urteilen müssen, sondern Juristen. In diesen Fällen wirkt sich ein Skandal für den Autor ruinös aus.
Unter dem Eindruck der Vielfalt der analysierten Skandale und Skandälchen verliert die Definition des Begriffs selbst an Kontur. Mal gilt der literarische Text als Skandalon, mal der Schriftsteller, mal die Rezeption eines Buches. Die theoretischen Abhandlungen des Bandes versuchen daher, wenigstens die generellen Funktionsweisen literarischer Skandale in den Griff zu bekommen. So schlägt Stefan Neuhaus vor, im Skandal ein "Spiel" mit festen Regeln zu sehen, das mit den soziologischen Schaltplänen Pierre Bourdieus oder Niklas Luhmanns einwandfrei zu beschreiben sei.
Demnach ließe sich über Tabubrüche symbolisches Kapital anhäufen, sobald sie "geheime Wünsche der Rezipienten" an- oder aussprächen. Das ist ein massenpsychologisches Deutungsangebot, dem die Ansicht Volker Ladenthins entgegensteht, der meint, dass Skandale aus "Kategoriefehlern beim Publikum" entstehen, das moralisch urteilt, wo es um Ästhetik gehen sollte. Marc Reichwein wiederum kombiniert in seinem Beitrag die beiden Sehweisen, wenn er darauf abzielt, dass solche "Kategoriefehler" aus Marketing-Absichten ganz bewusst herausgefordert und im Sinne einer intensivierten "Skandalkommunikation" und "Empörungsbewirtschaftung" genutzt würden.
Nur wenige Schriftsteller sind begabt, sich diesbezüglich als Agenten der eigenen Sache zu profilieren. Einen der einprägsamsten Auftritte legte Rainald Goetz in Klagenfurt hin, als er 1983 beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb las und sich dabei die Stirn mit einer Rasierklinge aufschnitt. Die spektakuläre Selbstverletzung hat ihm damals zwar keinen Preis eingebracht, aber ein Höchstmaß an Aufmerksamkeit - seine damaligen Kontrahenten sind heute so gut wie vergessen, er selbst war zur Ikone eines neuen Autorenkults geworden.
Nichts lag deshalb näher, als für einen Sammelband zum literarischen Skandal den blutüberströmten Goetz von Klagenfurt als Aufmerksamkeit erheischendes Titelbild zu wählen. Dass indes keiner der rund sechzig Beiträge auf dieses Happening eingeht, stimmt nachdenklich über die Wirkungskraft der neuen Aufmerksamkeitsökonomie: Die Ware, die sie erzeugt, scheint auf lange Sicht nicht immer der Rede wert zu sein.
ROMAN LUCKSCHEITER
Stefan Neuhaus, Johann Holzner (Hg.): "Literatur als Skandal". Fälle - Funktionen - Folgen. Verlag Vandenhoeck und Ruprecht, Göttingen 2007. 735 S., geb., 72,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die tun nichts, die wollen nur spielen: Ein Sammelband schreibt die Literaturgeschichte der Empörung, und es kommen alle darin vor: "Lolita", "Esra", Handke und Walser.
Die "Ökonomie der Aufmerksamkeit" ist eine recht junge Disziplin. Ihr zufolge werden die gesellschaftlichen Ordnungen der Zukunft nicht von Geld und Kapital, sondern von Wahrnehmung und Medien beherrscht. Nur wer auffalle, werde sich behaupten können, heißt es. Nun scheint es, dass diese These ausgerechnet dort verifiziert werden kann, wo es um öffentliche Resonanz gemeinhin nicht gerade berauschend bestellt ist: im literarischen Feld.
Auch die Dichter haben nämlich längst erkannt, wie man sich möglichst rasch möglichst viel Publikum verschafft: Spätestens seit den Stimmungskanonen der Avantgarden hat sich hierfür die Erregung eines Skandals als die effizienteste Strategie erwiesen. Die Empörung, die der Skandal auslöst, sorgt für eine Aufmerksamkeit, die keine Stilfigur und kein noch so gelungener Plot garantieren können.
In den vergangenen Jahren fand diese Strategie nicht umsonst vor allem bei Intellektuellen Anwendung, die ihre berufliche Sozialisation in den sechziger Jahren erfahren haben: bei Peter Handke etwa oder bei Martin Walser, beide geübte Künstler des Auffälligwerdens. So unterschiedlich ihre Werke sind, so verwandt zeigen sie sich doch im Umgang mit dem Inszenierungsgeschäft der Medien, sei es als Sonntagsredner, sei es als Kriegsreisender. Die Abwehrreflexe, die ihre provokanten Beiträge auslösten, führten immerhin dazu, dass letztlich literarische Angelegenheiten bis in die Abendnachrichten vordringen konnten.
In Österreich, der Heimat von Elfriede Jelinek und Thomas Bernhard, kennt man sich mit intellektuellen Ruhestörern ganz besonders gut aus. So verwundert es auch nicht, dass zwei Innsbrucker Germanisten zum Thema "Literatur als Skandal" einen schweren Sammelband vorlegen. Stefan Neuhaus und Johann Holzner haben gleich mehrere Dutzend Kollegen durch die Literaturgeschichte geschickt mit dem Auftrag, alles ans Tageslicht zu befördern, was je das Nervenkostüm der Rezipienten besonders strapazierte. Das Spektrum der Fälle reicht von der "Unsittlichkeit in Gottfrieds von Straßburg Tristan" in der Wahrnehmung des neunzehnten Jahrhunderts bis zur Verunglimpfungsfehde zwischen Heine und Platen, von Nabokovs "Lolita" als pädophilem "Nymphchen-Mythos" bis hin zu Binjamin Wilkomirskis vor einigen Jahren erschienener fingierter Autobiographie über seine angebliche Kindheit im Konzentrationslager.
Ob Entblößungen, Verdrängungen oder Konversionen jedweder Art - der Skandal lauert, wo Grenzen des guten Tons, der Moral, der politischen Übereinkünfte und der religiösen Gefühle überschritten werden oder, wie der Literatenkanzler Gerhard Schröder gesagt haben würde, wo es eben "unanständig" wird. Doch diese Kategorie ist dermaßen relativ in ihrer historischen wie kulturellen Bedingtheit, dass eine geschichtliche Darstellung von Skandalen sich ständig über den inzwischen eingetretenen Reibungsverlust hinwegtrösten muss. Nichts ist so alt wie der Skandal von gestern. Jede Erregung kühlt einmal ab, jede Empörung verpufft - und im Nachhinein hat sich meistens im großen Lärm das Korsett des Sagbaren gelockert.
Vor neuerlichen Einschnürungen schützt das freilich nicht, wie die chronologische Durchsicht der Beiträge deutlich macht. Denn wo es um die Freiheit des Worts geht, müssen neue Tabus nie lange gesucht werden. Angenommen, die breite Auswahl des Bandes ist repräsentativ, dann betrifft die aktuelle Sensibilität neben den eher peripher gewordenen Fragen der Scham oder der political correctness zunehmend Fragen des Persönlichkeitsrechts. Am Beispiel des gerichtlich verbotenen Romans "Esra" von Maxim Biller wird klar, welche Konsequenzen es für die Kunstausübung haben kann, wenn reale Personen, Namen und Adressen zum Gegenstand eines Romans werden - aber nicht mehr Literaturwissenschaftler über den Fiktionalitätsbegriff urteilen müssen, sondern Juristen. In diesen Fällen wirkt sich ein Skandal für den Autor ruinös aus.
Unter dem Eindruck der Vielfalt der analysierten Skandale und Skandälchen verliert die Definition des Begriffs selbst an Kontur. Mal gilt der literarische Text als Skandalon, mal der Schriftsteller, mal die Rezeption eines Buches. Die theoretischen Abhandlungen des Bandes versuchen daher, wenigstens die generellen Funktionsweisen literarischer Skandale in den Griff zu bekommen. So schlägt Stefan Neuhaus vor, im Skandal ein "Spiel" mit festen Regeln zu sehen, das mit den soziologischen Schaltplänen Pierre Bourdieus oder Niklas Luhmanns einwandfrei zu beschreiben sei.
Demnach ließe sich über Tabubrüche symbolisches Kapital anhäufen, sobald sie "geheime Wünsche der Rezipienten" an- oder aussprächen. Das ist ein massenpsychologisches Deutungsangebot, dem die Ansicht Volker Ladenthins entgegensteht, der meint, dass Skandale aus "Kategoriefehlern beim Publikum" entstehen, das moralisch urteilt, wo es um Ästhetik gehen sollte. Marc Reichwein wiederum kombiniert in seinem Beitrag die beiden Sehweisen, wenn er darauf abzielt, dass solche "Kategoriefehler" aus Marketing-Absichten ganz bewusst herausgefordert und im Sinne einer intensivierten "Skandalkommunikation" und "Empörungsbewirtschaftung" genutzt würden.
Nur wenige Schriftsteller sind begabt, sich diesbezüglich als Agenten der eigenen Sache zu profilieren. Einen der einprägsamsten Auftritte legte Rainald Goetz in Klagenfurt hin, als er 1983 beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb las und sich dabei die Stirn mit einer Rasierklinge aufschnitt. Die spektakuläre Selbstverletzung hat ihm damals zwar keinen Preis eingebracht, aber ein Höchstmaß an Aufmerksamkeit - seine damaligen Kontrahenten sind heute so gut wie vergessen, er selbst war zur Ikone eines neuen Autorenkults geworden.
Nichts lag deshalb näher, als für einen Sammelband zum literarischen Skandal den blutüberströmten Goetz von Klagenfurt als Aufmerksamkeit erheischendes Titelbild zu wählen. Dass indes keiner der rund sechzig Beiträge auf dieses Happening eingeht, stimmt nachdenklich über die Wirkungskraft der neuen Aufmerksamkeitsökonomie: Die Ware, die sie erzeugt, scheint auf lange Sicht nicht immer der Rede wert zu sein.
ROMAN LUCKSCHEITER
Stefan Neuhaus, Johann Holzner (Hg.): "Literatur als Skandal". Fälle - Funktionen - Folgen. Verlag Vandenhoeck und Ruprecht, Göttingen 2007. 735 S., geb., 72,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Sehr angetan ist Florian Kessler von diesem Handbuch der Literaturskandale, das in mehr als 50 Beiträgen den Skandal in der Literatur bis in die Gegenwart verfolgt. Erhellend findet der Rezensent besonders die Einleitung, in dem Volker Ladenthin nachweist, dass nach Aristoteles die Einhaltung literarischer Konventionen das Kunstwerk konstituierte, in der Moderne dagegen der bewusst lancierte Regelbruch zum Kunstprinzip wurde. Wenn in den Beiträgen des Bandes Fall auf Fall literarische Skandale wieder ausgerollt werden, so entsteht gerade in dem Wissen um die Bedingungen, die einen literarischen Text skandalträchtig machten, so etwas wie eine "Mentalitätsgeschichte" des Skandals, stellt Kessler gefesselt fest. Amüsiert hat er sich nicht zuletzt über die Beispiele, in denen Autoren versucht haben, einen Skandal vom Zaun zu brechen, die Öffentlichkeit aber einfach nicht darauf einging.
© Perlentaucher Medien GmbH
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