Wer kennt sie nicht - die Momente wohligen Gruselns, atemloser Spannung, plötzlich geweckter Lachlust oder des nicht recht erklärlichen ästhetischen Wohlgefühls, die man im Kino, im Theater und beim Lesen erlebt? Thomas Anz, Professor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft, nähert sich dem Zusammenspiel von Literatur und Lust mit den Mitteln der modernen Psychologie, der Philosophie und der Ästhetik und läßt uns damit unsere Lust an der Fiktion bewußter erleben.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.07.1998Die Lust als gelöstes Problem
Thomas Anz versucht, die Literaturwissenschaft zu stimulieren
Was hat "Literatur und Lust" gemeinsam mit "Von Mäusen und Menschen"? In beiden Buchtiteln wird per Stabreim verklammert, was auf den ersten Blick nicht zusammengehört. Vor einem Vierteljahrhundert schon paarte Dieter Wellershoff, dem damals waltenden neofreudianischen Zeitgeist gemäß, "Literatur und Lustprinzip". Seitdem sind Prinzipien aus der Mode gekommen; die Lust hingegen erhielt Verstärkung durch ihren proletarischen Bruder, den Spaß, und mauserte sich zur ultimativen Antwort auf alle Sinnfragen.
Zwischen Lust und Literatur aber entdecken wir, auch nach dem von Roland Barthes entfachten Text-Plaisir der Postmoderne, noch immer eine interessante Reibung, die das Thema titeltauglich macht: Das Lesen von Druckerzeugnissen, auf welche die Bezeichnung "literarisch" zutrifft, wird gemeinhin eher mit Arbeit und Anstrengung assoziiert als mit Glück und Genuß. Das ist, folgen wir den Thesen des Literaturwissenschaftlers Thomas Anz, zu einem guten Teil der Lustferne seiner Zunftkollegen zu verdanken, die an und in Büchern alles mögliche untersuchen, nur nicht deren potentielle oder tatsächliche Eigenschaft, Vergnügen zu bereiten.
Mit dem vielbeklagten Defizit der deutschsprachigen Gegenwartsschriftstellerei an lustspendenden Qualitäten wollte der Autor von "Literatur und Lust" sich nicht befassen, auch nicht mit kulturpessimistischen Warnungen vor schleichendem Leseschwund unter dem Konkurrenzdruck der modernen Medien. Ihm kam es vielmehr darauf an, eine "literaturwissenschaftliche Hedonistik" zu begründen, die Erkenntnisse über die Entstehung und Funktion von Lustgefühlen beim Lesen liefert. Angesichts der bedrohlich steigenden Bücherflut müßte eine solche Orientierungshilfe von Autoren und Verlegern ebenso dankbar begrüßt werden wie von manchen Rezensenten, die sich immer öfter bei dem Gedanken ertappen, daß Literatur eine Last sein kann.
Der Bamberger Germanist Anz scheint solchen Überdruß nicht zu kennen. Für ihn steht fest, daß der Akt des Lesens, sofern er nicht reinen Studien- oder Informationszwecken dient, in jedem Falle Lustgewinn bringt. Das wiederum bestimmt den methodischen Ansatz dieser "Hedonistik": Erforscht und theoretisch belegt werden soll, was Leseratten jeglicher Couleur an ihr Futter kettet, und nicht etwa das, was literarischen Hochgenuß von anspruchsloserem Bücherkonsum unterscheidet. Der Untertitel "Glück und Unglück beim Lesen" bezieht sich nicht, wie geplagte Berufsleser hoffen mögen, auf gute und schlechte Bücher, sondern ganz allgemein auf wechselnde Gefühlszustände, die von jedem Lesestoff ausgelöst werden können und deren psychologische Dynamik, "ein hochkompliziertes Zusammenspiel heterogener Reizkomponenten", als konstitutiv für das lustvolle Erlebnis der Lektüre betrachtet wird.
Zur Grundlegung seiner Literaturlustlehre zieht Anz eine beeindruckende Fülle von Materialien heran, die er mit pädagogischem Geschick auf Taschenformat eingedampft hat. Neben den Theorien der Psychoanalyse, denen sich der Autor besonders verbunden weiß, werden Ansätze der Emotionspsychologie und der sogenannten Glücksforschung berücksichtigt, Gustav Theodor Fechners ergiebige "Vorschule der Aesthetik" ebenso wie vor- und postmoderne Spieltheorien, und auch die philosophische Ästhetik des klassischen Idealismus mit ihrem vordersten "Triebtheoretiker" Schiller kommt erfreulicherweise wieder einmal zu ihrem Recht, wenngleich stark verkürzt und etwas zu eilfertig in Freudsche Begriffe übersetzt.
Allerdings sind die meisten Einsichten und Anregungen, die Anz aus seinem kulturhistorischen Rundumschlag für eine lustbetonte Literaturwissenschaft gewinnt, ohne Einschränkung auf alle Medien und Künste anwendbar, die dem menschlichen Bedürfnis nach Fiktion und Phantasiebetätigung entsprechen. Wenn er in seiner Nachbemerkung beiläufig und in Klammern notiert, "auch den Film rechne ich zur Literatur", dann ist damit das Grundproblem des Buches bezeichnet: Die vielfältigen Lust-Potentiale von Literatur, die Anz in eine Systematik zu bringen versucht - die Freude am Spiel und die Befreiung vom Realitätszwang, das Wohlgefallen am Schönen und das Vergnügen an tragischen Gegenständen, die Faszination des Schrecklichen und der Spaß am Rätsellösen, die Spannungslust, die Lachlust, die erotische Lust -, sind keineswegs an die Rezeption von Geschriebenem und Gedrucktem gebunden. Wer Aufschluß über literaturspezifische Wirkungen sucht, wird enttäuscht. Und die wenigen Textbeispiele, die in dem handlichen Lust-Kompendium Platz fanden, sind kaum geeignet, literarische Hedonisten zufriedenzustellen.
Welche Chancen hätte etwa das Kapitel "Lachlust" geboten, zumal bei einem Autor, der unter anderem als Kafka-Fachmann firmiert. Wo man hätte zeigen können, daß das Komische, in welcher Dosierung auch immer, ein wesentliches Ingrediens großer Literatur ist, beschränkt sich Anz darauf, den Emanzenwitz "Was ist ein Mann in Salzsäure? Ein gelöstes Problem!" totzuerklären und von Freud beschriebene Witztechniken mit Wortspielen aus Elfriede Jelineks Roman "Lust" zu illustrieren, um dann schuldbewußt einzuräumen: "Manches, was da als witzig offeriert wird, überschreitet nicht das Niveau harmloser Kalauer oder, nur mit umgekehrter Tendenz und Stereotypenbildung, das von Männerwitzen über Frauen."
Apropos Männer und Frauen: Im Katalog der Leselüste favorisiert Thomas Anz die "Erotische und pornographische Lust", der er, gleichsam als Klimax, das Schlußkapitel gewidmet hat. Darin zitiert er nicht nur Goethes "Vergewaltigungsphantasie" vom Heidenröslein, sondern auch einschlägige Stellen aus der Feder von Anais Nin, mit denen er "bei den Lesenden möglicherweise Lust zu erregen" hofft. Die aber fühlen sich eher ernüchtert, wenn die Emphase, mit der sie zu den Quellen des Leseglücks geleitet worden sind, in der Empfehlung eines Genres gipfelt, bei dem der Lustgewinn sozusagen flach auf der Hand liegt.
Bekümmert bemerkt der Germanist, daß gewisse "Unterscheidungen zwischen ästhetischer und sexueller Lust", wie sie in der Aufklärung formuliert wurden, "bis ins 20. Jahrhundert hinein fortgewirkt" hätten. Er muß damit rechnen, daß es auch im nächsten Jahrhundert noch Leser geben wird, die zwischen diesen Empfindungen differenzieren. Liefe alles nur auf das eine hinaus, würde sich eine literaturwissenschaftliche Hedonistik erübrigen. Andererseits wird sie, wenn sie nicht die besonderen wirkungsästhetischen Möglichkeiten von Literatur und die exklusiv daraus entspringenden Freuden ins Visier nimmt, keine große Zukunft haben. KRISTINA MAIDT-ZINKE
Thomas Anz: "Literatur und Lust". Glück und Unglück beim Lesen. Verlag C. H. Beck, München 1998. 287 S., br., 39,80 DM.
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Thomas Anz versucht, die Literaturwissenschaft zu stimulieren
Was hat "Literatur und Lust" gemeinsam mit "Von Mäusen und Menschen"? In beiden Buchtiteln wird per Stabreim verklammert, was auf den ersten Blick nicht zusammengehört. Vor einem Vierteljahrhundert schon paarte Dieter Wellershoff, dem damals waltenden neofreudianischen Zeitgeist gemäß, "Literatur und Lustprinzip". Seitdem sind Prinzipien aus der Mode gekommen; die Lust hingegen erhielt Verstärkung durch ihren proletarischen Bruder, den Spaß, und mauserte sich zur ultimativen Antwort auf alle Sinnfragen.
Zwischen Lust und Literatur aber entdecken wir, auch nach dem von Roland Barthes entfachten Text-Plaisir der Postmoderne, noch immer eine interessante Reibung, die das Thema titeltauglich macht: Das Lesen von Druckerzeugnissen, auf welche die Bezeichnung "literarisch" zutrifft, wird gemeinhin eher mit Arbeit und Anstrengung assoziiert als mit Glück und Genuß. Das ist, folgen wir den Thesen des Literaturwissenschaftlers Thomas Anz, zu einem guten Teil der Lustferne seiner Zunftkollegen zu verdanken, die an und in Büchern alles mögliche untersuchen, nur nicht deren potentielle oder tatsächliche Eigenschaft, Vergnügen zu bereiten.
Mit dem vielbeklagten Defizit der deutschsprachigen Gegenwartsschriftstellerei an lustspendenden Qualitäten wollte der Autor von "Literatur und Lust" sich nicht befassen, auch nicht mit kulturpessimistischen Warnungen vor schleichendem Leseschwund unter dem Konkurrenzdruck der modernen Medien. Ihm kam es vielmehr darauf an, eine "literaturwissenschaftliche Hedonistik" zu begründen, die Erkenntnisse über die Entstehung und Funktion von Lustgefühlen beim Lesen liefert. Angesichts der bedrohlich steigenden Bücherflut müßte eine solche Orientierungshilfe von Autoren und Verlegern ebenso dankbar begrüßt werden wie von manchen Rezensenten, die sich immer öfter bei dem Gedanken ertappen, daß Literatur eine Last sein kann.
Der Bamberger Germanist Anz scheint solchen Überdruß nicht zu kennen. Für ihn steht fest, daß der Akt des Lesens, sofern er nicht reinen Studien- oder Informationszwecken dient, in jedem Falle Lustgewinn bringt. Das wiederum bestimmt den methodischen Ansatz dieser "Hedonistik": Erforscht und theoretisch belegt werden soll, was Leseratten jeglicher Couleur an ihr Futter kettet, und nicht etwa das, was literarischen Hochgenuß von anspruchsloserem Bücherkonsum unterscheidet. Der Untertitel "Glück und Unglück beim Lesen" bezieht sich nicht, wie geplagte Berufsleser hoffen mögen, auf gute und schlechte Bücher, sondern ganz allgemein auf wechselnde Gefühlszustände, die von jedem Lesestoff ausgelöst werden können und deren psychologische Dynamik, "ein hochkompliziertes Zusammenspiel heterogener Reizkomponenten", als konstitutiv für das lustvolle Erlebnis der Lektüre betrachtet wird.
Zur Grundlegung seiner Literaturlustlehre zieht Anz eine beeindruckende Fülle von Materialien heran, die er mit pädagogischem Geschick auf Taschenformat eingedampft hat. Neben den Theorien der Psychoanalyse, denen sich der Autor besonders verbunden weiß, werden Ansätze der Emotionspsychologie und der sogenannten Glücksforschung berücksichtigt, Gustav Theodor Fechners ergiebige "Vorschule der Aesthetik" ebenso wie vor- und postmoderne Spieltheorien, und auch die philosophische Ästhetik des klassischen Idealismus mit ihrem vordersten "Triebtheoretiker" Schiller kommt erfreulicherweise wieder einmal zu ihrem Recht, wenngleich stark verkürzt und etwas zu eilfertig in Freudsche Begriffe übersetzt.
Allerdings sind die meisten Einsichten und Anregungen, die Anz aus seinem kulturhistorischen Rundumschlag für eine lustbetonte Literaturwissenschaft gewinnt, ohne Einschränkung auf alle Medien und Künste anwendbar, die dem menschlichen Bedürfnis nach Fiktion und Phantasiebetätigung entsprechen. Wenn er in seiner Nachbemerkung beiläufig und in Klammern notiert, "auch den Film rechne ich zur Literatur", dann ist damit das Grundproblem des Buches bezeichnet: Die vielfältigen Lust-Potentiale von Literatur, die Anz in eine Systematik zu bringen versucht - die Freude am Spiel und die Befreiung vom Realitätszwang, das Wohlgefallen am Schönen und das Vergnügen an tragischen Gegenständen, die Faszination des Schrecklichen und der Spaß am Rätsellösen, die Spannungslust, die Lachlust, die erotische Lust -, sind keineswegs an die Rezeption von Geschriebenem und Gedrucktem gebunden. Wer Aufschluß über literaturspezifische Wirkungen sucht, wird enttäuscht. Und die wenigen Textbeispiele, die in dem handlichen Lust-Kompendium Platz fanden, sind kaum geeignet, literarische Hedonisten zufriedenzustellen.
Welche Chancen hätte etwa das Kapitel "Lachlust" geboten, zumal bei einem Autor, der unter anderem als Kafka-Fachmann firmiert. Wo man hätte zeigen können, daß das Komische, in welcher Dosierung auch immer, ein wesentliches Ingrediens großer Literatur ist, beschränkt sich Anz darauf, den Emanzenwitz "Was ist ein Mann in Salzsäure? Ein gelöstes Problem!" totzuerklären und von Freud beschriebene Witztechniken mit Wortspielen aus Elfriede Jelineks Roman "Lust" zu illustrieren, um dann schuldbewußt einzuräumen: "Manches, was da als witzig offeriert wird, überschreitet nicht das Niveau harmloser Kalauer oder, nur mit umgekehrter Tendenz und Stereotypenbildung, das von Männerwitzen über Frauen."
Apropos Männer und Frauen: Im Katalog der Leselüste favorisiert Thomas Anz die "Erotische und pornographische Lust", der er, gleichsam als Klimax, das Schlußkapitel gewidmet hat. Darin zitiert er nicht nur Goethes "Vergewaltigungsphantasie" vom Heidenröslein, sondern auch einschlägige Stellen aus der Feder von Anais Nin, mit denen er "bei den Lesenden möglicherweise Lust zu erregen" hofft. Die aber fühlen sich eher ernüchtert, wenn die Emphase, mit der sie zu den Quellen des Leseglücks geleitet worden sind, in der Empfehlung eines Genres gipfelt, bei dem der Lustgewinn sozusagen flach auf der Hand liegt.
Bekümmert bemerkt der Germanist, daß gewisse "Unterscheidungen zwischen ästhetischer und sexueller Lust", wie sie in der Aufklärung formuliert wurden, "bis ins 20. Jahrhundert hinein fortgewirkt" hätten. Er muß damit rechnen, daß es auch im nächsten Jahrhundert noch Leser geben wird, die zwischen diesen Empfindungen differenzieren. Liefe alles nur auf das eine hinaus, würde sich eine literaturwissenschaftliche Hedonistik erübrigen. Andererseits wird sie, wenn sie nicht die besonderen wirkungsästhetischen Möglichkeiten von Literatur und die exklusiv daraus entspringenden Freuden ins Visier nimmt, keine große Zukunft haben. KRISTINA MAIDT-ZINKE
Thomas Anz: "Literatur und Lust". Glück und Unglück beim Lesen. Verlag C. H. Beck, München 1998. 287 S., br., 39,80 DM.
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