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Die Studie befasst sich mit der Darlegung und Interpretation eines Sachverhalts, der an einer Reihe von Erzähltexten unterschiedlicher, aber für die Herausbildung eines modernen Erzählstils gleichermassen wichtiger Autoren - Franz Kafka, Herman Melville, Maurice Blanchot und Henry James - herausgestellt wird. Es handelt sich um die Tatsache, dass in all diesen Texten das in unterschiedlichen inhaltlichen Gestalten repräsentierte Motiv der Unschuld den Anlass und zugleich die kritische Grenze der fiktionalen Darstellung bildet. Indem sie Unschuld darstellen wollen, stossen die Texte auf die…mehr

Produktbeschreibung
Die Studie befasst sich mit der Darlegung und Interpretation eines Sachverhalts, der an einer Reihe von Erzähltexten unterschiedlicher, aber für die Herausbildung eines modernen Erzählstils gleichermassen wichtiger Autoren - Franz Kafka, Herman Melville, Maurice Blanchot und Henry James - herausgestellt wird. Es handelt sich um die Tatsache, dass in all diesen Texten das in unterschiedlichen inhaltlichen Gestalten repräsentierte Motiv der Unschuld den Anlass und zugleich die kritische Grenze der fiktionalen Darstellung bildet. Indem sie Unschuld darstellen wollen, stossen die Texte auf die Begrenzheit ihres darstellenden Vermögens; indem sie von Unschuld zu sprechen suchen, wird ihnen ihr eigenes Sprechen zum Problem. Das Motiv, das zu den traditionsreichsten der Literatur des christlichen Abendlandes gehört, wird, indem es das sprachreflexive Potential der Texte freisetzt, zum Gradmesser ihrer Modernität.
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Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung

Unmöglich, diese Unschuld
Charles de Roche kreist um ein schwieriges literarisches Motiv

Adam und Eva im Garten Gottes sollen unschuldig gewesen sein, bevor sie dem Lispeln der Schlange lauschten. Für unschuldig halten wir Kinder, denen kein Arg im Herzen wohnt. "Unschuldig" - mit diesem Urteilsspruch reinigt sich der Angeklagte von der Besudelung der Anwürfe. Seit je sind uns diese Vorstellungen vertraut, und dennoch: restlos überzeugen sie uns nicht, wenn wir es denn mit der Unschuld ernst meinen.

Den Garten Eden erkennen wir nur am Apfelbaum, der sich verlockend von dem Gewimmel der göttlichen Schöpfung abhebt, und ehe wir uns noch ausmalen können, wie es sich in völliger Unschuld lebte, ist das Böse gedacht und getan. In die Kinder sehnen wir Erwachsene die Herzensreinheit vielleicht nur hinein; sobald sie uns Auskunft geben, flunkern sie schon. Der Beklagte ist höchstens im Sinne der Anklage nicht schuldig, und während aus guten Gründen kein Jurist nach der Moral in der Geschichte forschen wird, muß sich der Freigesprochene an das Leben mit den bekannten Unwägbarkeiten gewöhnen.

Die Unschuld, so scheint es, versteckt sich im Vormaligen, im Indirekten, im Gegenteil. Wer darüber nachdenkt, hat sich schon kompromittiert. Nur indem wir eine negierende Vorsilbe vor die Schuld setzen, können wir überhaupt darüber reden. Es ist diese Verlegenheit, von der Charles de Roche bei seinen Interpretationen einiger Erzählungen von Herman Melville, Franz Kafka und Maurice Blanchot ausgeht. Die Sache hat ihren Reiz; denn ganz offensichtlich geht es hier nicht allein um Unschuld als gewichtiges Element einer erzählten Handlung, sondern um ein Rätsel, bei dem alles von der Perspektive und der Deutung abhängt, davon also, wie Schuld und Unschuld zur Sprache kommen. Ein markiger Richterspruch oder die kirchliche Absolution, das wäre zu einfach. Gerade in so vertrackten Erzählungen wie Melvilles "Billy Budd" und Kafkas "Josefine die Sängerin und das Volk der Mäuse" verbirgt sich die Grenze zwischen Schuld und Unschuld in Anspielungen, bildlichen Ausdrücken und Ironien, in unpassenden Bezeichnungen und mehrdeutigen Passagen, im Widerspruch zwischen Inhalt und Form. Je genauer man hinsieht, desto mehr entzieht sich die Unschuld, und eben darin, meint der Verfasser, werden diese Erzählungen der paradoxalen Erscheinung gerecht.

Mehr noch, de Roche setzt auf eine verblüffende, wenn auch nicht ganz neue Parallele zwischen der unwiederbringlichen Vormaligkeit von Unschuld und der unvermeidlichen Nachträglichkeit jeder Sprache. Wie es uns die Theorie der Dekonstruktion gelehrt hat - und die Studie beruft sich gut sichtbar auf Jacques Derrida, Paul de Man und verwandte Denker -, steht jedes Wort in einem Verhältnis der Verspätung und Fremdheit zu dem, was es bezeichnen soll. Die Unschuld, die da zu benennen ist, werden wir nie anders als mit Wörtern nennen, von denen wir gar nicht genug betonen können, daß es nichts als Wörter sind. Kurz und schlecht: Sie machen sich immer schon der Lüge schuldig.

Dies vorausgesetzt, erscheinen die Erzählungen Melvilles, Kafkas und Blanchots als virtuose Etüden über die Grenzen jeder nur denkbaren Sprache und der Darstellbarkeit von Unschuld zugleich. Wunderbar läßt sich nun in den hochkomplexen Texten das Quid pro quo von Laut und Sinn, von Zeichen und Bezeichnetem, von wörtlichem und bildlichem Ausdruck, von Ernst und Scherz analysieren. Je mehr die ganz großen Erzähler der Moderne - und nur von diesen ist die Rede - die Widersprüchlichkeit von Bedeutungen virtuos in Szene setzen, desto überzeugender entgehen sie dem bloßen Anschein der Unschuld. Nur im Echo des Spiegelbilds des Widerscheins erahnen wir den Moment, in dem Unschuld aufgehört hatte, sie selbst zu sein.

Wer die Suche nach der Unschuld an die Möglichkeit von wahrhaftem Sprechen überhaupt koppelt, holt weit aus. Dafür begnügt sich der Verfasser mit einem schmalen, durch die Theorie der Dekonstruktion längst geadelten Repertoire von Erzählungen. Ausgewählte Passagen daraus legt er unters Mikroskop, wobei er sich seinem Substrat gerne über wegweisende Musterinterpretationen nähert. Wir erfahren also, wie de Roche auffaßt, was ein Philologe sagt, der seinerseits verstanden hat, was Derrida über de Blanchot meint. Die Untersuchungen haben darum oft etwas hermetisch in sich Kreisendes. Das klingt dann zum Beispiel so: "Gerade die Abruptheit ihres Seins, ihre souveräne Indifferenz zu ihrem Vollzug, macht aber die Entscheidung zur Entscheidung, ununterscheidbar von dem, wovon sie sich als Entscheidung scheidet. Je entschiedener unterschieden das Werk von Buch und Text, Autor und Leser, desto ununterscheidbarer von ihnen. Je ununterscheidbarer aber von ihnen, desto . . ." Und so weiter.

Wer sich immer wieder gerne davon überzeugt, daß exzeptionelle Erzählungen der Avantgarde so lange mit ihrer komplizierten Textur provozieren, bis sich das Gespinst vor unseren Augen aufzulösen scheint, der folge diesen geistvollen Interpretationen. Schlichtere Leser suchen vielleicht, wenn sie von Unschuld und Literatur hören, nach jener irgendwie metaphysisch überwölbten Eigenschaft, um die bei Adam und Eva, im Parzival, in Desdemonas Schlafgemach und unter den Brüdern Karamasow so viel Aufhebens gemacht wird. Natürlich wird man heute kaum anders als formal, pragmatisch oder psychologisch über Schuld und Unschuld verhandeln. Wurzeln diese Vorstellungen aber nicht im Mythos, im Märchen, in der Metaphysik, in der Moral? Und sind sie nicht in der Literatur bis auf unsere Zeiten gekommen, in denen wir immer noch von Unschuld lesen, ganz so, als müßte es sie geben? Das alles wäre wohl der Gegenstand einer Literaturgeschichte der Unschuld.

Genau unter diesem Titel hat der Fink Verlag de Roches Studie herausgebracht, und das ist zumindest irreführend. Da könnten wir zum Beispiel erwarten, daß etwas über die antike Tragödie gesagt wird, über jenes blanke Entsetzen, mit dem der Held sich endgültig von seiner Unschuld verabschieden muß, ob er will oder nicht. De Roche nennt gelegentlich dies oder das tragisch; doch um einen historischen Überblick über Gattungen, Normen, Begriffe, für die zuvor die Moraltheologen und die Gesetzbücher, die Ethiken der Philosophen, die Entwicklungspsychologie und die Weltliteratur studiert werden müßten, ist es ihm nicht zu tun. Verwandlungen und Verwerfungen des Unschuldsmotivs im herkömmlichen Sinn einer Motivgeschichte sind sein Thema genausowenig. Wenn Unschuld für den Verfasser überhaupt ein Motiv sein soll, so als Impuls für sprachkünstlerische Prozesse, die uns bis an den äußersten Rand dessen führen, wofür überhaupt noch ein Autor oder ein Täter verantwortlich zeichnen kann.

Die Züricher Habilitationsschrift ist denn auch aus einzelnen, teilweise schon erschienenen Aufsätzen hervorgegangen, und sie lautete ursprünglich "Fiktionen am Rand der Sprache. Das Motiv der Unschuld und die Grenzen des selbstreflexiven Textes". Das klingt spröder, hat aber den Vorteil, daß es weder zu historischen Streifzügen noch gründlichen Herleitungen verpflichtet. Bei akribischen Einsichten in einige Erzählungen der Avantgarde darf man es dann bewenden lassen. Und wenn im übrigen von Unschuld auch noch ein bißchen die Rede ist, schadet das auch nichts.

BETTINA HEYL.

Charles de Roche: "Literaturgeschichte der Unschuld". Das Motiv der Unschuld und die Grenzen des fiktionalen Textes. Wilhelm Fink Verlag, München 2006. 300 S., 49 Abb., geb., 44,90 [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Wenn Charles de Roche in seiner Habilitationsschrift in ausgewählten Erzählungen der Moderne nach der Unschuld forscht, kann er Bettina Heyl mit seinen spitzfindigen Erkenntnissen durchaus beeindrucken. Mithilfe von dekonstruktivistischen Theoretikern wie Jacques Derrida und Paul de Man verfolgt der französische Autor die schwierige Beziehung von Unschuld und Sprache in Texten von Franz Kafka, Herman Melville und Maurice Blanchot, wobei sich im Laufe der Untersuchung nicht selten das Geflecht der komplexen Texte "vor unseren Augen aufzulösen scheint", wie die Rezensentin warnt. Unbedarftere Leser hätten sich aber, wie sie glaubt, eher eine Geschichte des Unschuldmotivs in der Literatur seit der Antike erhofft, und hier kritisiert sie den Titel des Buches als "zumindest irreführend".

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