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Mit der im Jahr 1910 veröffentlichten Erzählungssammlung "Die jüdischen Gauchos" des argentinischen Autors Alberto Gerchunoff begann der neue spanischsprachige Zweig, die "Letras Judías Latinoamericanas", während in Brasilien der neue portugiesischsprachige Zweig entstand. In der multikulturellen und multi-ethnischen Wirklichkeit Lateinamerikas hat diese jüdische Tradition eine unverwechselbare Identität gefunden, die sich gerade in der Poesie, aber auch in der Essayistik und Prosa manifestiert. Textproben u. a. von Itzjok Ianasovich, Jacobo Glantz, David Rosenmann-Taub, David Turkeltaub, Juan…mehr

Produktbeschreibung
Mit der im Jahr 1910 veröffentlichten Erzählungssammlung "Die jüdischen Gauchos" des argentinischen Autors Alberto Gerchunoff begann der neue spanischsprachige Zweig, die "Letras Judías Latinoamericanas", während in Brasilien der neue portugiesischsprachige Zweig entstand.
In der multikulturellen und multi-ethnischen Wirklichkeit Lateinamerikas hat diese jüdische Tradition eine unverwechselbare Identität gefunden, die sich gerade in der Poesie, aber auch in der Essayistik und Prosa manifestiert. Textproben u. a. von Itzjok Ianasovich, Jacobo Glantz, David Rosenmann-Taub, David Turkeltaub, Juan Gelman, Alejandra Pizarnik, Eliahu Toker, Luisa Futoransky, José Kozer, Tarnara Kamenszain, Moacyr Scliar, Manuela Fingueret, Santiago Kovadloff stellt das "Literaturmagazin" in einer viersprachigen Anthologie (jiddisch, spanisch, portugiesisch: deutsch) vor.
Im Vorfeld zum 100. Geburtsjahr von Jorge Luis Borges, der die lateinamerikanisch-jüdische Tradition sympathisch begleitete, beleuchtet die Essayistin Edna Aizenberg Borges' "kabbalistische Facette", die zur jüdischen Identität Lateinamerikas wesentlich beitrug.
Autorenporträt
László Földényi, geb. 1952 in Debrecen/Ungarn, ist Dozent für Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Budapest, Übersetzer, Dramaturg und Essayist. Er gilt als einer der wichtigsten Intellektuellen seines Landes. 2005 verlieh ihm die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung den Friedrich-Gundolf-Preis. Die meisten seiner Werke sind ins Deutsche übersetzt, u. a. «Heinrich vonKleist» (1999).
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.04.1999

Das weichgerittene Europa
Hoch zu Pferd kommt angetrabt: Jüdische Literatur in Südamerika

Im letzten Jahrzehnt des neunzehnten Jahrhunderts befanden sich viele der frommen, zur Auswanderung entschlossenen Einwohner osteuropäisch-jüdischer Dörfer in einer Zwickmühle. Sollten sie nach Zion aufbrechen, um in Erwartung des Messias die steinige Wüste zu beackern? Oder sollten sie der Verheißung der bunten Pamphlete folgen, in denen ihnen die "Baron de Hirsch Stiftung" ein landwirtschaftliches Paradies in der Neuen Welt versprach? Die Frommen zog es nach Zion, die Waghälse nach Südamerika.

Sophistisch rechtfertigen die Neusüdamerikaner ihre Wahl. "Vergessen Sie nicht, mein verehrter Rebbe", sagt ein Gelehrter in Alberto Gerchunoffs argentinischem Klassiker "Die jüdischen Gauchos" (1910), "was im Zerohim, dem ersten Buch des Talmud, steht, wenn die Rede vom Leben auf dem Lande ist: Es ist das einzige gesunde und würdige Leben in der Gnade Gottes. Deshalb vergaß ich in meiner Freude, als Rabbi Zadock-Kahn mir die Auswanderung nach Argentinien ankündigte, die Rückkehr nach Jerusalem - und mir kam die Textstelle von Jehuda Halevi ins Gedächtnis. Zion ist da, wo die Freude und der Friede herrscht."

Die ersten Juden kamen als Sträflinge der Kolonisatoren nach Südamerika. Im siebzehnten Jahrhundert wurden insbesondere die holländischen Kolonien in Brasilien Zufluchtstätte für spanische und portugiesische Juden. Im neunzehnten Jahrhundert wurden zunächst west-, dann osteuropäische Juden durch die Siedlungsprogramme lateinamerikanischer Regierungen über den Atlantik gelockt. Zu Beginn der Nazi-Zeit gab es jüdische Gemeinden in allen lateinamerikanischen Ländern; sie wurden zu Anlaufstellen für jüdische Flüchtlinge. Allein in Argentinien trafen zwischen 1933 und 1939 25000 deutsche Juden ein. In Bolivien gewährte das utopische Städtchen Buena Tierra 20000 Menschen aus Deutschland und Österreich Zuflucht. In den frühen vierziger Jahren verlagerte sich der Emigrantenstrom nach Mittelamerika, wo Mexiko, Ecuador und die Dominikanische Republik sich großzügig erwiesen.

Inzwischen hat sich aus diesen buntgescheckten Anfängen eine selbstbewußte lateinamerikanisch-jüdische Kultur entwickelt, deren literarischer Ausdruck von Tobias Burghardt und Delf Schmidt im Rowohlt Literaturmagazin Nr. 42 zu einem großartigen Panorama zusammengestellt wird. Die dreißig hier versammelten Autoren aus Argentinien, Brasilien, Chile, Kolumbien, Kuba, Mexiko und Peru repräsentieren sowohl die Generation der Einwanderer, die zum Teil noch immer das Jiddische dem Spanischen vorziehen, als auch die erste und zweite in Südamerika geborene Generation. Dementsprechend entfalten die zwei- oder gar dreisprachig abgedruckten Gedichte und Romanausschnitte auch das gesamte Themenspektrum der lateinamerikanisch-jüdischen Literatur: Die Einwanderungszeit zu Beginn des Jahrhunderts erscheint als soziale Utopie, in der selbstentfremdete Juden sich in glückliche Gauchos verwandeln. Etwas später inspirierte die jüdische Arbeiterbewegung eine kritische Sicht auf die gesellschaftlichen Probleme Lateinamerikas, die noch heute im Werk des brasilianischen Dichters Daniel Fresnot nachhallt. Der Holocaust, das plötzliche Verschwinden der gesamten jüdischen Welt Osteuropas, mit der man sich auch im Exil noch immer verbunden sah, fungiert als Leitmotiv in einer Literatur, in der "Entwurzelung" (Alberto Szpunberg), "Diaspora" (José Kozer), "Extraktion" (Santiago Kovadloff) und "Nomadentum" (Carlos M. Grünberg) ohnehin ewige Themen sind.

Wie in jeder Anthologie sind auch hier nicht alle Texte von gleicher Qualität. Die Übersetzungen insbesondere der jiddischen Gedichte sind gelegentlich irreführend. Der Abdruck der spanischen und jiddischen Texte ermöglicht dem Leser jedoch direkten Zugang zum Original. Drei Essays von Moacyr Scliar, Eliahu Toker und Edna Aizenberg haben die kulturell komplizierte Lage der oft vielsprachigen und kosmopolitischen jüdischen Autoren in dezidiert einsprachigen, katholischen Ländern zum Gegenstand.

Aizenberg verweist auf den argentinischen Schriftsteller Jorge Luis Borges als Geburtshelfer, der mit seinen "Fiktionen" nicht nur Lateinamerikas Eintritt in die literarische Moderne herbeigeführt, sondern auch der jüdischen Kultur Anerkennung verschafft habe, in deren Vielfalt er ein Vorbild für ein modernes Lateinamerika sah. In seinem Essay "Der argentinische Schriftsteller und die Tradition" schlug Borges vor, daß Argentinien die "gesamte abendländische Kultur" als seine Tradition betrachten und sich zu ihr verhalte solle wie die europäischen Juden, die "innerhalb dieser Kultur tätig, zugleich durch keine spezielle Ehrfurcht an sie gebunden seien".

Borges' Vorstellung einer lateinamerikanischen Pluralität ist bislang jedoch ebenso eine Utopie wie ehedem Gerchunoffs naive Verschmelzung der Kulturen in den jüdischen Gauchos. Heute sind die lateinamerikanisch-jüdischen Intellektuellen, wie es diese Anthologie dokumentiert, fest in ihren Ländern verwurzelt und doch noch immer der jüdischen Geschichte verpflichtet. Aus dieser Spannung resultiert eine faszinierende Literatur, die Carlos M. Grünberg bereits 1940 in seinem Gedicht "Für Alberto Gerchunoff" charakterisierte: "Wir sind, Alberto, die hispanische Sektion . . . // Wir sind die spanische Quadratur / des jüdischen Kreises". SUSANNE KLINGENSTEIN

"Jüdische Literatur Lateinamerikas". Rowohlt Literaturmagazin 42. Herausgegeben von Tobias Burghardt und Delf Schmidt. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 1998. 186 S., br., 18,- DM.

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