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Produktdetails
  • Verlag: RBA
  • Originaltitel: Les Bienveillantes
  • Seitenzahl: 991
  • Erscheinungstermin: 4. März 2008
  • Spanisch
  • Abmessung: 240mm
  • Gewicht: 1240g
  • ISBN-13: 9788489662520
  • ISBN-10: 8489662525
  • Artikelnr.: 23450622
Autorenporträt
Jonathan Littell, 1967 in New York geboren, in Frankreich aufgewachsen, Studium in Yale (USA). Zwischen 1993 und 2001 arbeitete er für die humanitäre Organisation "Aktion gegen den Hunger" (ACF) in Bosnien und Afgha - nistan, im Kongo und in Tschetschenien. Littell lebt mit seiner Familie in Barcelona. Für seinen Roman Die Wohlgesinnten (dt. 2008) erhielt er 2006 den Grand Prix du Roman der Académie Française und den prestige - trächtigsten französischen Literaturpreis Prix Goncourt.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.02.2008

Das Verbrechen im Kopf
Der Skandal war programmiert: Jonathan Littell hat einen Roman geschrieben, dessen Ich-Erzähler ein schwuler SS-Mann ist. Eine solch explizite Schilderung von Greueltaten in der NS-Zeit hat man in der Fiktion noch nicht gelesen. Ist das Buch notwendig od er nur Provokation?

Es war in einem überfüllten Flughafencafé in Berlin-Tegel vor ein paar Tagen. An meinem Tisch saß ein dickes Rentnerpaar und schwieg. Ihr Schweigen schien schon eine Ewigkeit zu dauern. Ich las in dem Roman "Die Wohlgesinnten" von Jonathan Littell, war etwa auf Seite 1000 angekommen und unterstrich Sätze, die mir wichtig erschienen. Plötzlich ruft die Frau mir gegenüber aus der Stille heraus: "Das ist aber ein starker Satz!" - "Was meinen Sie, bitte?" - "Na, der Satz, den Sie da eben unterstrichen haben. Der ist doch unglaublich stark!" Ich schaue auf den Satz vor mir auf dem Papier, schaue, halb verärgert, halb erstaunt, zu der Frau. Ich hatte nicht bemerkt, dass sie die ganze Zeit mitgelesen hatte. Was wollte sie? Was war das für ein Satz?

"Doch wenn die Vergangenheit erst einmal die Zähne in euer Fleisch geschlagen hat, lässt sie euch nicht mehr los."

Ihr plötzliches Bekenntnis ist mir unheimlich. Sie fügt noch schnell hinzu, dass sie den Satz nicht nur für stark, sondern auch für sehr, sehr wahr halte, will alles über das Buch wissen, in dem ein solcher Satz steht, und gibt dann ihrem immer noch schweigenden Mann ein entschlossenes Zeichen zum Aufbruch. Die beiden sind weg. Der Satz bleibt da.

Und? Was ist das für ein Buch? Ein schreckliches Buch, ein Horrorbuch, grauenhaft, kitschig, brutal, pervers und obszön! Ein Buch über den Holocaust aus der Sicht eines Täters. Der SS-Obersturmbannführer Dr. iur. Maximilian Aue, schwul, Platonleser, leidenschaftlicher Verehrer von klassischer Bildung und Klaviermusik, in inzestuöser Radikalliebe seiner Zwillingsschwester verfallen, begleitet als beobachtender Täter die deutschen Truppen nach Osten und wieder zurück. Er ist bei den ersten Massenerschießungen in der Ukraine und im Kaukasus dabei, er ist eingeschlossen im Kessel von Stalingrad, er ist im Paris der Kollaborateure, immer wieder in Berlin, in den Lagern und Gaskammern von Auschwitz und am Ende in rasender Flucht auf dem Weg zurück nach Berlin, schließlich beim letzten Konzert der Philharmoniker in der Staatsoper, im Führerbunker, am Ende ganz allein am Zoo inmitten einer untergehenden Welt.

Dieses Buch, das in Frankreich vor anderthalb Jahren erschien, dort die wichtigsten Literaturpreise gewann, 800 000 Mal verkauft wurde und heftige Debatten über die Möglichkeiten der Darstellung des Holocausts heute auslöste, hat auf den ersten Blick alles, was ein Buch nicht braucht. Es reiht Abstoßendes an Abstoßendes, Klischee an Klischee. Als mich ein Kollege nach zweihundert Seiten um eine erste Einschätzung bat, schrieb ich eine Mail voller Verwünschungen. Ich hasste dieses Buch von der ersten Seite, vom ersten Satz an: "Ihr Menschenbrüder, lasst mich euch erzählen, wie es gewesen ist." Alles an diesem ersten Satz ist furchtbar. Der Predigerton, die klebrig-umschlingende Brudergeste und die freche Wahrheitsbehauptung "wie es gewesen ist". Und dass der Erzähler all diese Leserbedenken gleich im zweiten Satz aufnimmt und scheinbar gegen sich selber wendet, macht die Sache eher noch unangenehmer: "Wir sind nicht deine Brüder, werdet ihr antworten, und wir wollen es gar nicht wissen."

So unangenehm geht es weiter. Der Erzähler stellt sich als achtzigjähriger Direktor einer Spitzenfabrik in Frankreich vor, schwingt sich von Frechheit zu Frechheit, deutet seine Morde als SS-Mann an, stellt fest, dass er frei von jeder Reue sei, übrigens auch frei von jeder Strafverfolgung blieb, kommt auf seine Verdauungsprobleme zu sprechen, diskutiert die offiziellen Opferzahlen des Krieges, tote Juden, tote deutsche Soldaten, tote sowjetische Soldaten, errechnet die Toten pro Minute (13,04 für die Dauer von drei Jahren und zehn Monaten) und beendet die Einleitung mit den Worten: "Ich bin ein Mensch wie jeder andere, ich bin ein Mensch wie ihr. Hört mal, wenn ich es euch doch sage: Ich bin wie ihr!"

Und jeder Leser denkt an dieser Stelle: Nein!

Dann geht es los. SS-Mann Max Aue berichtet, wie es gewesen ist, damals, im Krieg, als das Morden begann. Es geht mit der deutschen Armee in Richtung Osten. Erste Station ist das ukrainische Sokal, es werden keine Kampfhandlungen beschrieben, sondern es beginnt gleich mit den ersten Erschießungen von Juden: ",Ist es das erste Mal?', fragte der Hauptmann leise. Ich nickte. ,Sie werden sich dran gewöhnen', fuhr er fort, ,aber vielleicht nie so ganz.'"

Und die Erschießungen beginnen. Und Littell spart nichts aus: "Um sicherzugehen, war es besser, auf den Kopf zu zielen als auf die Brust, dabei wurden die Männer jedoch mit Blut und Hirnmasse bespritzt, worüber sie sich beklagten."

Will man das wissen? Und das ist nur der Anfang. Wir erfahren wirklich jedes Detail. Jede Erschießung bis in die kleinste Einzelheit hinein. Am meisten scheint sich der Erzähler für den letzten Stuhlgang der Erschossenen im Augenblick ihres Todes zu interessieren und für ihre letzten Erektionen. Littell, so wirkt es zunächst auf den Leser, raubt mit seinen Beschreibungen den Ermordeten die letzte Würde. Und dem Leser mutet er alles zu: "Manchmal musste man, um an die Verwundeten heranzukommen, über die Leichen gehen, das war entsetzlich glitschig, das weiche, weiße Fleisch verschob sich unter meinen Stiefeln, die trügerischen Knochen brachen unter meinen Schritten und ließen mich straucheln, ich versank bis zu den Knöcheln in Schlamm und Blut." So beschreibt der Erzähler seinen Gang durch ein frisches Massengrab auf der Suche nach Juden, die zwischen all diesen Leichen noch am Leben waren. Ein Ausflug im Dienst der Menschenfreundlichkeit natürlich: "Immerhin ging es darum, den Menschen überflüssiges Leiden zu ersparen, allerdings konnte ich nur den zuoberst Liegenden den Gnadenschuss geben, unter ihnen lagen weitere Verletzte, die noch nicht ganz tot waren, es aber bald sein würden."

Man hat eigentlich nur einen Wunsch beim Lesen der ersten hundert, zweihundert Seiten dieses Romans: den Wunsch nach leisen Tönen, nach erzählerischer Zurückhaltung. Und schließlich denkt man sich, wenn der Erzähler schon den Blick nicht abwenden kann, dann muss man es als Leser selber tun und die Lektüre dieses Buchs beenden.

Gerade wenn man als Leser vielleicht noch unter dem frischen Eindruck des Gewaltepos "Leben und Schicksal" des russischen Schriftstellers Wassili Grossman steht, das im letzten Herbst erstmals ungekürzt auf Deutsch erschienen ist. Dieser Großroman über den Zweiten Weltkrieg, der weitgehend dieselben Stationen des Krieges absolviert wie sein später französischer Nachfolger, nur eben aus der russischen, nicht der deutschen Perspektive. Und wie dieser Mann, der dabei war, der jede dieser Kriegsstationen als Reporter selbst miterlebt hat, wie dieser Wassili Grossman dem Leser und sich selbst eben gerade die Details des Sterbens erspart, wie er etwa den Massenmord an den ukrainischen Juden nur durch den - erfundenen - Abschiedsbrief der eigenen Mutter beschreibt, das hat gerade durch die Zurückhaltung eine ungeheure Kraft und Macht und Eindringlichkeit. Und Littell, der Vierzigjährige, der Nachgeborene, der nicht dabei war, ausgerechnet er erzählt das alles aus. Später, viel später im Buch, wenn Max Aue zur Inspektion der Lager von Auschwitz antritt, wird er vom Kommandanten gefragt: "Was wollen Sie sehen?" Und Aue antwortet nur knapp: "Alles."

Das ist der Anspruch des eifrigen SS-Mannes Aue. Das ist das Ziel seines Berichts, das Ziel dieses Buches.

Und dann, irgendwann, wenn man lange genug der Versuchung widerstanden hat, das Buch für immer zuzuschlagen, ist man gefangen. Gefangen in der Geschichte, gefangen in all diesem Morden und Massenmorden, gefangen zwischen all diesen Leichen, dem Wahnsinn und dem Hass. Ich kann immer noch nicht genau sagen, wie es dazu kommt. Wie man gefangengenommen wird von diesem Buch. Es ist mit Sicherheit nicht Voyeurismus. Das hat man Littell von Anfang an vorgeworfen. Mit seinen drastischen Schilderungen von Sexualität und splatterhaften Morddarstellungen bediene er gezielt die voyeuristischen Bedürfnisse des zeitgenössischen Publikums, hieß es in Frankreich und auch in einigen der ersten deutschen Besprechungen. Was für ein Quatsch! Welcher Voyeur wird so ein Buch mit Freuden lesen? Welche niedrigen Instinkte werden da bedient? Nein, wer nach "Stellen" sucht, wird die 36 Euro, die das Riesenbuch kostet, sicher besser anlegen können.

Es ist etwas anderes. Man vertraut sich mit der Zeit dem Erzähler an. Alles scheint wahr zu sein, was er schreibt. Am Anfang nimmt man das so hin und ist ganz mit Abwehrarbeit beschäftigt. Irgendwann aber ist man erschüttert von der Gegenwärtigkeit des Erzählten. Richtig bewusst wird einem das erst beim Lesen einer besonders unwahrscheinlichen Szene. Max Aue begegnet auf seiner Exekutionstour einem alten Juden, der angibt, 120 Jahre alt zu sein, und das aus seinen Erzählungen auch belegen kann. Es ist eine surreale Szene, der alte Jude führt Max Aue schließlich an die Stelle, von der er weiß, dass hier sein Grab sein wird. Aue und ein Waffenkamerad heben das Grab aus und erschießen den Mann. Es ist eine Szene von solcher Grausamkeit und Wahrhaftigkeit bei aller Unwahrscheinlichkeit, dass man sich von diesem Augenblick an dem Autor anvertraut. Man hatte zwar schon früh begriffen, dass da offenbar ein Autor schreibt, der so gut wie jede Quelle zum Krieg im Osten und zum Massenmord kennt und literarisch verarbeitet, aber erst in den unwahrscheinlichsten Momenten erkennt man, dass Littell eben nicht nur ein großer Quellenkenner und Menschenentblößer ist, sondern auch ein großer Schriftsteller.

Sein größter Kunstgriff ist die Figur des Erzählers. Nicht eine Sekunde ist der Leser versucht, diesen Max Aue etwa sympathisch zu finden. Er ist der Kameramann des Grauens, ein überzeugter Nazi, einer, der nicht gerade mit Freuden tötet, aber dessen Abscheu vor den Juden doch so groß ist, dass er nicht allzu viele Skrupel überwinden muss. Dass man diesem Aue folgt, auf seinem Weg vom Liebhaber seiner Schwester im Paradies der Kindheit hinaus in die Felder des Kriegs, in die Lager, in den Untergang, das ist die große Kunst des Jonathan Littell.

Und bald schon wird auch deutlich, warum all die Drastik der Beschreibung, all der konkrete Horror des Tötens sein muss. Es ist der Horror der Täter, der Horror, den auch die Täter am Anfang empfunden haben müssen. Am Anfang, als das Morden begann. Littell schildert präzise die Wahnsinnsausbrüche auf Seiten der Täter, die Selbstmorde, den Irrsinn, die Angst, den erbitterten Streit zwischen Wehrmacht und SS, wer für die Morde zuständig sei. Alles ohne Mitleid, aber genau. Dieses Grauen unter den Tätern ist die Grundlage für den Auftritt Adolf Eichmanns, die Verkörperung des Prinzips Abstraktion des Massenmordes. Je weiter das Buch voranschreitet, umso größer wird die Rolle Eichmanns, umso bedeutender die Frage der technischen Abwicklung des Judenmords.

In dem Buch herrscht eine unglaubliche Kälte. Da man sich mit keinem Protagonisten identifizieren kann und auch die Opfer immer nur als Schreckensbilder kurz eingeblendet werden, fehlt es dem Leser an einem Halt. Das ist schwer erträglich, aber die Energie und Kraft der Erzählung halten einen fest. Während Grossmans Werk noch von einem tiefen Glauben an die menschliche Güte getragen ist, an Möglichkeiten der Menschlichkeit in dieser Welt, glaubt dieses Buch nichts mehr. Alles ist immer möglich. Und die Taten der Täter sind nicht die Taten von Monstern, sondern von Menschen, die die Umstände zu Mördern gemacht oder denen die Umstände erlaubt haben, zu Mördern zu werden. "Aber das Unmenschliche - ich bitte um Entschuldigung -, das gibt es nicht. Es gibt nur das Menschliche, immer nur das Menschliche", sagt Aue und scheint damit zunächst sich selbst von übergroßer Schuld freisprechen zu wollen. Doch in Wahrheit ist das der Skandal seines Lebens und der Skandal dieses Buchs. Es gibt keine Flucht in das Monströse. Nicht für die Täter. Und auch nicht für uns, für die Nachgeborenen. Zu einem Gedenken, das nicht in Gedenkroutine erstarren will, gehört das Bedenken der Möglichkeit des eigenen Mitmachens immer mit dazu: "Ich will hier nicht behaupten, ich sei an diesem oder jenem nicht schuldig", erklärt Max Aue gleich zu Beginn seines Berichts. "Ich bin schuldig, ihr seid es nicht, wie schön für euch. Trotzdem könntet ihr euch sagen, dass ihr das, was ich getan habe, genauso hättet tun können. Vielleicht mit weniger Eifer, dafür möglicherweise auch mit weniger Verzweiflung."

Es gibt Szenen unglaublicher Schönheit in diesem Buch, Szenen der Stille und des Schauens in eine leere Welt, ein Gespräch Aues mit einem Kommunisten in Stalingrad, das als Hommage an Grossman konzipiert scheint, Szenen von unglaublicher Intensität und Kraft. Es ist fast unglaublich, dass nach all den Bildern, die man von diesen Schrecken sah, nach all den Filmen, die man kennt, den Büchern, die man gelesen hat, dass nach all dem immer noch eine tiefe Erschütterung und Verstörung möglich ist. Jonathan Littell ist es gelungen, dass einem die Vergangenheit die Zähne ins Fleisch schlägt.

VOLKER WEIDERMANN

Jonathan Littell: "Die Wohlgesinnten". Roman. Aus dem Französischen von Hainer Kober. Berlin-Verlag 2008, 1400 Seiten, 36 Euro

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 11.03.2009

Anspruchslos und abstoßend
Littells „Wohlgesinnte” floppen in der amerikanischen Literaturkritik
Das hätte sich Jonathan Littell wohl nicht träumen lassen, als er über seinem Holocaust-Roman „Les Bienveillantes” (Die Wohlgesinnten) saß: Dass man sein Buch in den USA einmal mit den Memoiren von Britney Spears in Verbindung bringen würde. Genau das geschah letzte Woche im Wall Street Journal, wo das durch gründliche PR-Massage vorbereitete Erscheinen der amerikanischen Übersetzung – Titel: „The Kindly Ones” – als Symptom für den Niedergang der amerikanischen Verlagskultur herhalten musste. „Es geht immer weniger darum, Autoren zu finden und zu pflegen, es geht darum, viel Wind zu machen.” Kurz: Die Verlage übernähmen die Methoden der Hollywood-Studios, für die nichts wertvoller ist als geschickt erzeugter buzz, der den Film aus dem Einerlei seiner Konkurrenten hervorstechen lässt und ihm den kommerziellen Erfolg sichert.
Genau dazu eigne sich, so die Autorin Sara Nelson, ein Buch wie „The Kindly Ones” ebenso gut wie die noch ungeschriebenen Spears-Memoiren. „Sie sind beide fixiert auf das Sexuelle; und ihre Verleger hoffen und zählen auf den scheinbar unbegrenzten amerikanischen Appetit auf den Skandal.”
In Frankreich, wo das Buch des Amerikaners und Wahlfranzosen Littell vor drei Jahren erschien, fiel das Echo ganz anders aus. „Les Bienveillantes” wurde mehrfach ausgezeichnet und als literarische Sensation gefeiert. Wenig später rissen sich die Verlage um die Übersetzungsrechte. Harper zahlte für die US-Rechte nicht weniger als eine Million Dollar. Ob sich die Investition gelohnt hat, ist zweifelhaft. Die New York Times widmete der Frage einen eigenen Artikel. Ein Buchhändler meint dort: „Habe ich wirklich genug Zeit und emotionale Ressourcen, um sie in ein 1000-seitiges Buch über den Holocaust zu investieren, das klingt wie ein Protokoll von Pasolinis ,120 Tagen von Sodom‘?”
50 Jahre nach Adorno
Die amerikanische Kritik scheint dem Buch jedenfalls nicht zu helfen. Am heftigsten tobte Michiko Kakutani von der Times, die das Buch „absichtlich sensationalistisch und bewusst abstoßend” fand und Littell als „schlechten Imitator von Genet oder de Sade” abqualifizierte. Die Schrecken des Holocausts darzustellen, gelinge auf diese Weise nicht. Sie schließt ihren Text mit einem kräftigen Hieb auf das französische Literatur-Establishment: „Dass ein solcher Roman zwei der wichtigsten französischen Literaturpreise gewinnt, ist nicht nur ein Beispiel für den gelegentlich perversen französischen Geschmack, sondern auch ein Anzeichen dafür, wie drastisch sich das Verhältnis der Literatur zum Holocaust gewandelt hat.” 50 Jahre nach Adorno „haben wir einen Punkt erreicht, wo das Porträt eines psychopathischen Nazis von Le Monde als ,atemberaubender Triumph‘ gefeiert wird”.
Zwei Wochen später legte nun die Times mit der gewohnten zweiten Rezension nach. David Gates kritisiert das Buch dort vor allem für seine konzeptuellen und literarischen Schwächen. Er nennt es süffisant ein „nicht allzu anspruchsvolles Geschichtsepos”. Für Gates steht die Hauptfigur in der abgeschmackten Tradition von „kinky, stinky Nazis”, die zwar von Literaten geliebt werden, aber nicht dazu taugen, Neues zum Verständnis des Holocausts beizutragen. Deshalb sei „The Kindly Ones” „weniger eine moralische Herausforderung als ein Ausdauertest.”
Niemand aber hat sich in der amerikanischen Presse bislang gründlicher mit Littells Buch beschäftigt als Daniel Mendelssohn in der New York Review of Books. Als Einziger verteidigt er Littell gegen den Pornographie-Vorwurf: Sie sei notwendig, um „uns zu zeigen, wie Leben außerhalb der Moral aussieht, klingt, schmeckt und sich anfühlt”. Die pornographischen Passagen dienten dazu, unsere Vorstellung von einem Roman über Nazis zu torpedieren. Damit begebe sich Littell in die Nachfolge von de Sade und Bataille. Allerdings stelle Littell dadurch die andere Seite seines Romans in Frage, die historische und dokumentarische, wo er dem Leser vorführt, wie schnell auch er sich an die monotone Wiederholung des Grauens gewöhnt. JÖRG HÄNTZSCHEL
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