Hochbrisant und topaktuell: Cory Doctorows New-York-Times Bestsellerroman über die Kraft der jungen Medien gegen die Macht des Staates
Nach dem Wahlsieg von Donald Trump aktueller denn je - ein modernes «1984» von Blogger, Aktivist und Autor Cory Doctorow
Marcus, alias «w1n5t0n», ist 17, smart und ein begeisterter Gamer. Als Terroristen die Oakland Bay Bridge in San Francisco in die Luft sprengen, befinden er und seine Freunde sich zur falschen Zeit am falschen Ort. Agenten der Sicherheitsbehörde halten sie für verdächtig und verschleppen sie auf eine geheime Insel, wo sie tagelang verhört, schikaniert und gedemütigt werden. Als Marcus freikommt, hat sich San Francisco in einen Überwachungsstaat verwandelt. Jeder Bürger - ein potentieller Terrorist; Menschenrechte - zweitrangig; Freiheit - ein «Sicherheitsrisiko».
Marcus und seine Freunde können nicht akzeptieren, was geschehen ist - und beschließen, sich zu wehren. Mit Hilfe subversiver neuer Medien organisieren sie sich zu einer «Gamer-Guerilla». Ihr Plan: Sabotage der staatlichen Überwachung. Ihre Waffen: die Zukunftstechnologien. Ihr Ziel: der Sturz der Regierung.
«Grandioser Lesestoff!» Platz 1 der NEW-YORK-TIMES-Bestsellerliste
Nach dem Wahlsieg von Donald Trump aktueller denn je - ein modernes «1984» von Blogger, Aktivist und Autor Cory Doctorow
Marcus, alias «w1n5t0n», ist 17, smart und ein begeisterter Gamer. Als Terroristen die Oakland Bay Bridge in San Francisco in die Luft sprengen, befinden er und seine Freunde sich zur falschen Zeit am falschen Ort. Agenten der Sicherheitsbehörde halten sie für verdächtig und verschleppen sie auf eine geheime Insel, wo sie tagelang verhört, schikaniert und gedemütigt werden. Als Marcus freikommt, hat sich San Francisco in einen Überwachungsstaat verwandelt. Jeder Bürger - ein potentieller Terrorist; Menschenrechte - zweitrangig; Freiheit - ein «Sicherheitsrisiko».
Marcus und seine Freunde können nicht akzeptieren, was geschehen ist - und beschließen, sich zu wehren. Mit Hilfe subversiver neuer Medien organisieren sie sich zu einer «Gamer-Guerilla». Ihr Plan: Sabotage der staatlichen Überwachung. Ihre Waffen: die Zukunftstechnologien. Ihr Ziel: der Sturz der Regierung.
«Grandioser Lesestoff!» Platz 1 der NEW-YORK-TIMES-Bestsellerliste
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.03.2010Amerikas Staatsfeinde 1 bis 4
Der Blogger Cory Doctorow hat den Thriller zur Stunde verfasst: "Little Brother" zeigt, wie man die Internetüberwachung des Staates sabotiert. Den Roman verstehen junge Leser als Anleitung.
Es ist keine Frage der technischen Verfügbarkeit. Welche Informationen sich heute aus den Datenspuren der Telekommunikation gewinnen lassen, hat Frank Rieger gerade in dieser Zeitung erläutert (F.A.Z. vom 20. Februar). Der Einsatz wird bereits verhandelt: Am Dienstag entscheidet das Bundesverfassungsgericht, ob die Vorratsdatenspeicherung zulässig ist. Was passieren kann, wenn die staatlich legitimierte elektronische Überwachung zum Gebot der Stunde wird und selbst außer Kontrolle gerät, spielt Cory Doctorow in seinem Jugendthriller "Little Brother" durch, der heute in deutscher Übersetzung erscheint.
In dem Szenario, das der Blogger, Aktivist und Autor entwirft, erhält der amerikanische Heimatschutz nach einem Anschlag auf San Francisco in einem Patriot Act II Zugriff auf die Daten von Kartenzahlungen und auf die Daten, die von den Citymaut-Sendern in den Autos der Stadt empfangen werden. Der öffentliche Nahverkehr muss Tickets mit RFID, mit Funkchip, einsetzen. Flächendeckend werden Überwachungskameras installiert. Gesichtserkennungssoftware, deren Einsatz gegen simple Schulschwänzer gerade verboten worden war, wertet die Bilder aus. Alle Bürger mit auffälligen Bewegungsprofilen werden zur Rede gestellt.
Am Tag, als Terroristen die Bay Bridge in die Luft sprengten, hatte Marcus drei Freunde überredet, die Schule zu schwänzen, um die neue Aufgabe in einem übers Internet organisierten Orientierungswettspiel zu lösen: vier Siebzehnjährige, die ihre Neugier, ihr Wissen und ihre Kraft bislang zu wenig mehr verwendet hatten, als gelegentlich die elektronischen Kontrollsysteme ihrer Schulen zu überlisten. In der Panik nach dem Anschlag wird der junge Darryl verletzt, die vier suchen Hilfe und geraten an den Heimatschutz, der sie wie Verdächtige behandelt: Sie sind zur falschen Zeit am falschen Ort, haben auffälliges elektronisches Equipment dabei, werden verhaftet, verschleppt, verhört, gepeinigt. Als sie nach einigen Tagen freikommen, ist Darryl nicht dabei. Marcus beschließt zu kämpfen. Zuerst für den verletzten, vielleicht toten Freund. Und für die Freiheit. Für sein Land.
Weil sein Laptop manipuliert worden ist, hackt er eine X-Box, installiert das (bislang fiktive) Betriebssystem ParanoidLinux, das Überwachung unmöglich machen soll, verbreitet dieses Verfahren und entwickelt so ein Netz, dessen Kontrolle für den Heimatschutz kaum möglich ist. Er findet unter dem Namen M1k3y (gesprochen Mikey) Verbündete, die seine Idee begeistert aufgreifen, mit einem RFID-Kloner Marke Eigenbau die Daten von Passanten so durcheinanderzubringen, dass der Heimatschutz der Masse an Auffälligen nicht mehr Herr wird.
Natürlich rüstet der Heimatschutz auf und infiltriert das Xnet, jagt M1k3y und erwischt Marcus, der letztlich auf nahezu klassische Art gerettet wird. Dass Doctorow seinen Helden nicht nur von diesem ungleichen Kampf erzählen lässt, sondern vom Alltag eines aufgeweckten Digital Natives, von erster Liebe und anderen Teenagerthemen, gibt dem Roman Farbe und Fülle. Und ein Gegengewicht zu seinen ausführlichen datenschutz- und bürgerrechtlichen Diskussionen in Schule und Elternhaus, vor allem aber zu Erläuterungen und Exkursen vieler IT- und Hackerthemen, zur Kryptographie wie zum Domain-Name-Service-Protokoll oder, ganz praktisch, zu den Möglichkeiten, Handy-Identifikationen zu fälschen oder die Kamerakennung auf jedem digitalen Bild unkenntlich zu machen.
Cory Doctorow ist Mitherausgeber des populären Blogs "Boingboing", Zeitungskolumnist, Verfasser einiger Cyberthriller und Vortragsreisender. Zuvor leitete der heute 38 Jahre alte gebürtige Kanadier in London vier Jahre lang das europäische Büro der Electronic Frontier Foundation, einer Organisation, die für Datenschutz und Selbstverteidigung gegen Überwachung eintritt. In seinem Roman stellt er auf einem von den Widerständlern organisierten Freiluftkonzert, dessen Besucher mit Tränengas und Schlagstöcken überwältigt werden, eine Veteranin vor die Jugendlichen auf die Bühne: "Ihr seid die erste Generation, die im GULag Amerika aufwächst", ruft sie, "und ihr wisst auf den letzten gottverdammten Cent genau, was eure Freiheit wert ist!" Sie selbst sei für diesen Kampf mit ihren zweiunddreißig Jahren zu alt, lasse ihre Freiheit beschneiden, statt zu begreifen, dass man sich seine Freiheit nehmen muss. "Little Brother", Doctorows erster Roman für Jugendliche, liest sich auch als Weckruf: für alle, die glauben, nichts zu verbergen zu haben, und für unbedachte Eigendatenschleudern in sozialen Netzwerken. Mehr als das: Er liest sich als Handlungsanleitung. Und seine Leser handeln, oft zur Begeisterung des Autors, unter einer Creative-Commons-Lizenz, die das Buch im Internet frei zugänglich macht und zu seiner Bearbeitung einlädt: In einer Wiki-Version des Buches können Fans Kommentare absetzen. In der Google Group "Watching Back" tauschen sich Jugendliche über Freiheit in der elektronischen Welt aus - ganz im Sinne des "Little Brother", der dem Blick des Orwellschen "Big Brother" standhält. Eine Website erklärt die im Buch angeführten Tricks, Überwachung zu erkennen und zu verhindern, Programmierer wollen ParanoidLinux Wirklichkeit werden lassen, es gibt zahllose nichtkommerzielle Übersetzungen, allein in vier burmesische Sprachen.
Christian Wöhrl, der schon im Juni vergangenen Jahres eine eigene deutsche Übersetzung des Romans ins Netz gestellt hat, spricht von mehr als 140000 Abrufen seiner PDF-Datei. Was heißt das für das gedruckte Buch, das jetzt bei Rowohlt erscheint (512 S., br., 14,95 [Euro])? Cory Doctorow ist überzeugt, dass die freie Verbreitung im Internet den Verkaufszahlen seines Buchs nicht schadet. Und genutzt hat Wöhrls Arbeit zumindest einem: Uwe-Michael Gutzschhahn, der das Buch für den Verlag aus dem Englischen übertragen hat, war froh, bei all den Fachbegriffen nachschauen zu können, wie der Amateurkollege aus dem Internet sie übersetzt hat.
FRIDTJOF KÜCHEMANN
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der Blogger Cory Doctorow hat den Thriller zur Stunde verfasst: "Little Brother" zeigt, wie man die Internetüberwachung des Staates sabotiert. Den Roman verstehen junge Leser als Anleitung.
Es ist keine Frage der technischen Verfügbarkeit. Welche Informationen sich heute aus den Datenspuren der Telekommunikation gewinnen lassen, hat Frank Rieger gerade in dieser Zeitung erläutert (F.A.Z. vom 20. Februar). Der Einsatz wird bereits verhandelt: Am Dienstag entscheidet das Bundesverfassungsgericht, ob die Vorratsdatenspeicherung zulässig ist. Was passieren kann, wenn die staatlich legitimierte elektronische Überwachung zum Gebot der Stunde wird und selbst außer Kontrolle gerät, spielt Cory Doctorow in seinem Jugendthriller "Little Brother" durch, der heute in deutscher Übersetzung erscheint.
In dem Szenario, das der Blogger, Aktivist und Autor entwirft, erhält der amerikanische Heimatschutz nach einem Anschlag auf San Francisco in einem Patriot Act II Zugriff auf die Daten von Kartenzahlungen und auf die Daten, die von den Citymaut-Sendern in den Autos der Stadt empfangen werden. Der öffentliche Nahverkehr muss Tickets mit RFID, mit Funkchip, einsetzen. Flächendeckend werden Überwachungskameras installiert. Gesichtserkennungssoftware, deren Einsatz gegen simple Schulschwänzer gerade verboten worden war, wertet die Bilder aus. Alle Bürger mit auffälligen Bewegungsprofilen werden zur Rede gestellt.
Am Tag, als Terroristen die Bay Bridge in die Luft sprengten, hatte Marcus drei Freunde überredet, die Schule zu schwänzen, um die neue Aufgabe in einem übers Internet organisierten Orientierungswettspiel zu lösen: vier Siebzehnjährige, die ihre Neugier, ihr Wissen und ihre Kraft bislang zu wenig mehr verwendet hatten, als gelegentlich die elektronischen Kontrollsysteme ihrer Schulen zu überlisten. In der Panik nach dem Anschlag wird der junge Darryl verletzt, die vier suchen Hilfe und geraten an den Heimatschutz, der sie wie Verdächtige behandelt: Sie sind zur falschen Zeit am falschen Ort, haben auffälliges elektronisches Equipment dabei, werden verhaftet, verschleppt, verhört, gepeinigt. Als sie nach einigen Tagen freikommen, ist Darryl nicht dabei. Marcus beschließt zu kämpfen. Zuerst für den verletzten, vielleicht toten Freund. Und für die Freiheit. Für sein Land.
Weil sein Laptop manipuliert worden ist, hackt er eine X-Box, installiert das (bislang fiktive) Betriebssystem ParanoidLinux, das Überwachung unmöglich machen soll, verbreitet dieses Verfahren und entwickelt so ein Netz, dessen Kontrolle für den Heimatschutz kaum möglich ist. Er findet unter dem Namen M1k3y (gesprochen Mikey) Verbündete, die seine Idee begeistert aufgreifen, mit einem RFID-Kloner Marke Eigenbau die Daten von Passanten so durcheinanderzubringen, dass der Heimatschutz der Masse an Auffälligen nicht mehr Herr wird.
Natürlich rüstet der Heimatschutz auf und infiltriert das Xnet, jagt M1k3y und erwischt Marcus, der letztlich auf nahezu klassische Art gerettet wird. Dass Doctorow seinen Helden nicht nur von diesem ungleichen Kampf erzählen lässt, sondern vom Alltag eines aufgeweckten Digital Natives, von erster Liebe und anderen Teenagerthemen, gibt dem Roman Farbe und Fülle. Und ein Gegengewicht zu seinen ausführlichen datenschutz- und bürgerrechtlichen Diskussionen in Schule und Elternhaus, vor allem aber zu Erläuterungen und Exkursen vieler IT- und Hackerthemen, zur Kryptographie wie zum Domain-Name-Service-Protokoll oder, ganz praktisch, zu den Möglichkeiten, Handy-Identifikationen zu fälschen oder die Kamerakennung auf jedem digitalen Bild unkenntlich zu machen.
Cory Doctorow ist Mitherausgeber des populären Blogs "Boingboing", Zeitungskolumnist, Verfasser einiger Cyberthriller und Vortragsreisender. Zuvor leitete der heute 38 Jahre alte gebürtige Kanadier in London vier Jahre lang das europäische Büro der Electronic Frontier Foundation, einer Organisation, die für Datenschutz und Selbstverteidigung gegen Überwachung eintritt. In seinem Roman stellt er auf einem von den Widerständlern organisierten Freiluftkonzert, dessen Besucher mit Tränengas und Schlagstöcken überwältigt werden, eine Veteranin vor die Jugendlichen auf die Bühne: "Ihr seid die erste Generation, die im GULag Amerika aufwächst", ruft sie, "und ihr wisst auf den letzten gottverdammten Cent genau, was eure Freiheit wert ist!" Sie selbst sei für diesen Kampf mit ihren zweiunddreißig Jahren zu alt, lasse ihre Freiheit beschneiden, statt zu begreifen, dass man sich seine Freiheit nehmen muss. "Little Brother", Doctorows erster Roman für Jugendliche, liest sich auch als Weckruf: für alle, die glauben, nichts zu verbergen zu haben, und für unbedachte Eigendatenschleudern in sozialen Netzwerken. Mehr als das: Er liest sich als Handlungsanleitung. Und seine Leser handeln, oft zur Begeisterung des Autors, unter einer Creative-Commons-Lizenz, die das Buch im Internet frei zugänglich macht und zu seiner Bearbeitung einlädt: In einer Wiki-Version des Buches können Fans Kommentare absetzen. In der Google Group "Watching Back" tauschen sich Jugendliche über Freiheit in der elektronischen Welt aus - ganz im Sinne des "Little Brother", der dem Blick des Orwellschen "Big Brother" standhält. Eine Website erklärt die im Buch angeführten Tricks, Überwachung zu erkennen und zu verhindern, Programmierer wollen ParanoidLinux Wirklichkeit werden lassen, es gibt zahllose nichtkommerzielle Übersetzungen, allein in vier burmesische Sprachen.
Christian Wöhrl, der schon im Juni vergangenen Jahres eine eigene deutsche Übersetzung des Romans ins Netz gestellt hat, spricht von mehr als 140000 Abrufen seiner PDF-Datei. Was heißt das für das gedruckte Buch, das jetzt bei Rowohlt erscheint (512 S., br., 14,95 [Euro])? Cory Doctorow ist überzeugt, dass die freie Verbreitung im Internet den Verkaufszahlen seines Buchs nicht schadet. Und genutzt hat Wöhrls Arbeit zumindest einem: Uwe-Michael Gutzschhahn, der das Buch für den Verlag aus dem Englischen übertragen hat, war froh, bei all den Fachbegriffen nachschauen zu können, wie der Amateurkollege aus dem Internet sie übersetzt hat.
FRIDTJOF KÜCHEMANN
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 01.04.2010Zur falschen Zeit am falschen Ort
Cory Doctorow verwickelt seinen Helden in „Little Brother ” in einen gefährlichen Cyberwar mit dem Heimatschutz
„Stell dir mal vor”, heißt es irgendwo in der Mitte des Buches, „du würdest hinten in einem Polizeiwagen festgehalten und aufgefordert nachzuweisen, dass du KEIN Terrorist bist.” Der Leser, der dem Gang der erschütternden Handlung bis dahin gefolgt ist, wird sofort einräumen, dass tatsächlich nichts schwieriger zu sein scheint, als die eigene Harmlosigkeit zu beweisen und sich als der unbedarfte Zeitgenosse auszuweisen, der man wohl mehr oder minder tatsächlich ist. In der nur leicht in die Zukunft versetzten Welt des Marcus Yallow, eines technisch äußerst versierten 17-Jährigen aus San Francisco, ist der Unschuldsbeweis sogar nahezu völlig unmöglich geworden. Denn jeder ist verdächtig, und jeder wird auch verdächtigt. Überwachungs-High-Tech: Funkchips in U-Bahn-Tickets und Autos, Überwachungskameras drinnen wie draußen, Gesichts- und Gangscanner, verwanzte Notebooks und infiltrierte Chats zeichnen nahezu jede Bewegung, jede Kommunikation, jede angesteuerte Webseite, jede Kartenzahlung von Jedem in der Stadt auf. Polizei und Heimatschutz suchen in den anfallenden Datenbergen nach verdächtigen Mustern, erkennen Profile und verhören alle, die wegen irgendwelcher Auffälligkeiten in ihr Fahndungsraster geraten. Marcus etwa, dessen Noms de guerre im Cyberspace „W1n5t0n” (gesprochen: Winston) und „M1k3y” (gesprochen: Mikey) lauten, gerät wegen unerklärlicher Fahrten mit der U-Bahn ins Visier. Aber zu dem Zeitpunkt ist er längst über den Punkt hinaus, das noch sonderlich bedrohlich zu finden, denn er ist auf der Flucht. Auf einer inneren Flucht allerdings. Und er hat eine Mission. Denn zuvor war er auffällig geworden und von brutalen Beamten des Heimatschutzes aufgegriffen worden, weil er sich zum Zeitpunkt eines terroristischen Anschlags in relativer Nähe des Ziels dieser Attacke aufhielt. „Zur falschen Zeit am falschen Ort”, wie es im Buch heißt.
Marcus hatte seine Freunde überredet, die Schule zu schwänzen, um an einer über das Internet ausgeheckten Schnitzeljagd teilzunehmen. Sie waren also in der Nähe der Bay Bridge, als Terroristen diese und dazu zeitgleich auch die U-Bahn in die Luft jagten. In der ausbrechenden Panik wird einer der Freunde schwer verletzt, die anderen suchen Hilfe, landen dabei aber ausgerechnet in den Fängen des sofort ausgeschwärmten Heimatschutzes, der Marcus und seine Freunde festnimmt, verschleppt und tagelang in einem Militärgefängnis unter Einsatz schlimmster Methoden verhört. Jede Ähnlichkeit in der Schilderung von Demütigung, Fesselung, Folter, Erpressung, Aberkennung persönlicher Rechte und der Unmöglichkeit zu Verteidigung mit den bekannt gewordenen Vorgängen im Gefangenenlager Guantanamo muss als gewollt bezeichnet werden.
Marcus erwischt es am schlimmsten, weil er sich zu Beginn seiner Tortur weigerte, den Pin-Code seines Handys rauszurücken und nach einem Anwalt verlangte. Doch alle Aufmüpfigkeit des Jungen ist nach ein paar Tagen gebrochen: „Ich wäre lieber gestorben, als noch einmal zurück in meine Zelle gegangen. Ich bettelte, als sie mich zurück brachten. Ich sagte ihnen, ich würde alles unterschreiben. Einer von ihnen schob mir einen Stift zu. Natürlich unterschrieb ich.” Kurz zuvor hatte einer seiner Peiniger erklärt: „Wir lassen dich frei, aber du bist ein gezeichneter Mann. Wir haben nicht feststellen können, dass du über alle Zweifel erhaben bist – von jetzt an gehörst du uns. Wir werden dich im Auge behalten. Wir werden nur darauf warten, dass du einen Fehler machst. Ist dir klar, dass wir dich von nun an peinlich genau überwachen können?”
Ja, das ist Marcus klar. Doch er schwört Rache, auch für die Prinzipien seines Landes. Denn: „Mir war nun alles egal. Die Leute, die meine Stadt besetzt hielten, die Leute vom Heimatschutz, scherten sich nicht darum, was wir wollten. Sie waren eine Besatzerarmee.” Und darum bekämpft Marcus die Okkupatoren mit seinem Wissen, seiner Raffinesse und avanciertester Digital-Technik. Cory Doctorow, der Autor von Little Brother, so der Buchtitel dieser gerade auf Deutsch erschienenen Geschichte eines jugendlichen Rebellen unter den verschärften Bedingungen des Cyberwar, ist selber Blogger, zudem ist er Autor für eines der weltweit wichtigsten Blogs: „Boing Boing”, und er ist Internet-Aktivist. Er arbeitete für die Electronic Frontier Foundation (EFF) und wurde 2007 mit dem EFF Pioneer Award ausgezeichnet. 2005 wurde er der Mitgründer der Open Rights Group in England die sich, ähnlich wie die EFF, für eine Liberalisierung des Urheberrechts einsetzt. Entsprechend hat er seinen ersten Roman Little Brother, dessen Titel natürlich eine Anspielung auf den „Big Brother” Orwells ist, unter einer Creative Commons Lizenz zum kostenlosen Download ins Netz gestellt (http://craphound.com/littlebrother/download/), in der Übersetzung von Christian Wöhrl sogar auf Deutsch (cwoehrl.de/files/lbdt_v1.pdf). Was das für den Verkaufserfolg der gerade im Rowohlt Taschenbuch Verlag erschienenen und vorzüglich von Uwe-Michael Gutzschhahn übersetzten Printfassung bedeutet, ist schwer auszumalen. Doch egal, in welcher Version man Little Brother liest, es ist ein unter die Haut gehender Genuss: realistisch trotz der Verlagerung in die nahe Zukunft, inspiriert, witzig und beklemmend, ja aufwühlend gut informiert über das, was möglich ist mit unseren Daten und möglich werden könnte, wenn man der schier grenzenlosen Daten-Sammellust einiger für gewöhnlich gut alarmierten Kreise keinen Einhalt gebietet. BERND GRAFF
Cory Doctorow
Little Brother
Aus dem Englischen von Uwe-Michael Gutzschhahn. Rowohlt Taschenbuchverlag 2010. 489 Seiten, 14,95 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de
Cory Doctorow verwickelt seinen Helden in „Little Brother ” in einen gefährlichen Cyberwar mit dem Heimatschutz
„Stell dir mal vor”, heißt es irgendwo in der Mitte des Buches, „du würdest hinten in einem Polizeiwagen festgehalten und aufgefordert nachzuweisen, dass du KEIN Terrorist bist.” Der Leser, der dem Gang der erschütternden Handlung bis dahin gefolgt ist, wird sofort einräumen, dass tatsächlich nichts schwieriger zu sein scheint, als die eigene Harmlosigkeit zu beweisen und sich als der unbedarfte Zeitgenosse auszuweisen, der man wohl mehr oder minder tatsächlich ist. In der nur leicht in die Zukunft versetzten Welt des Marcus Yallow, eines technisch äußerst versierten 17-Jährigen aus San Francisco, ist der Unschuldsbeweis sogar nahezu völlig unmöglich geworden. Denn jeder ist verdächtig, und jeder wird auch verdächtigt. Überwachungs-High-Tech: Funkchips in U-Bahn-Tickets und Autos, Überwachungskameras drinnen wie draußen, Gesichts- und Gangscanner, verwanzte Notebooks und infiltrierte Chats zeichnen nahezu jede Bewegung, jede Kommunikation, jede angesteuerte Webseite, jede Kartenzahlung von Jedem in der Stadt auf. Polizei und Heimatschutz suchen in den anfallenden Datenbergen nach verdächtigen Mustern, erkennen Profile und verhören alle, die wegen irgendwelcher Auffälligkeiten in ihr Fahndungsraster geraten. Marcus etwa, dessen Noms de guerre im Cyberspace „W1n5t0n” (gesprochen: Winston) und „M1k3y” (gesprochen: Mikey) lauten, gerät wegen unerklärlicher Fahrten mit der U-Bahn ins Visier. Aber zu dem Zeitpunkt ist er längst über den Punkt hinaus, das noch sonderlich bedrohlich zu finden, denn er ist auf der Flucht. Auf einer inneren Flucht allerdings. Und er hat eine Mission. Denn zuvor war er auffällig geworden und von brutalen Beamten des Heimatschutzes aufgegriffen worden, weil er sich zum Zeitpunkt eines terroristischen Anschlags in relativer Nähe des Ziels dieser Attacke aufhielt. „Zur falschen Zeit am falschen Ort”, wie es im Buch heißt.
Marcus hatte seine Freunde überredet, die Schule zu schwänzen, um an einer über das Internet ausgeheckten Schnitzeljagd teilzunehmen. Sie waren also in der Nähe der Bay Bridge, als Terroristen diese und dazu zeitgleich auch die U-Bahn in die Luft jagten. In der ausbrechenden Panik wird einer der Freunde schwer verletzt, die anderen suchen Hilfe, landen dabei aber ausgerechnet in den Fängen des sofort ausgeschwärmten Heimatschutzes, der Marcus und seine Freunde festnimmt, verschleppt und tagelang in einem Militärgefängnis unter Einsatz schlimmster Methoden verhört. Jede Ähnlichkeit in der Schilderung von Demütigung, Fesselung, Folter, Erpressung, Aberkennung persönlicher Rechte und der Unmöglichkeit zu Verteidigung mit den bekannt gewordenen Vorgängen im Gefangenenlager Guantanamo muss als gewollt bezeichnet werden.
Marcus erwischt es am schlimmsten, weil er sich zu Beginn seiner Tortur weigerte, den Pin-Code seines Handys rauszurücken und nach einem Anwalt verlangte. Doch alle Aufmüpfigkeit des Jungen ist nach ein paar Tagen gebrochen: „Ich wäre lieber gestorben, als noch einmal zurück in meine Zelle gegangen. Ich bettelte, als sie mich zurück brachten. Ich sagte ihnen, ich würde alles unterschreiben. Einer von ihnen schob mir einen Stift zu. Natürlich unterschrieb ich.” Kurz zuvor hatte einer seiner Peiniger erklärt: „Wir lassen dich frei, aber du bist ein gezeichneter Mann. Wir haben nicht feststellen können, dass du über alle Zweifel erhaben bist – von jetzt an gehörst du uns. Wir werden dich im Auge behalten. Wir werden nur darauf warten, dass du einen Fehler machst. Ist dir klar, dass wir dich von nun an peinlich genau überwachen können?”
Ja, das ist Marcus klar. Doch er schwört Rache, auch für die Prinzipien seines Landes. Denn: „Mir war nun alles egal. Die Leute, die meine Stadt besetzt hielten, die Leute vom Heimatschutz, scherten sich nicht darum, was wir wollten. Sie waren eine Besatzerarmee.” Und darum bekämpft Marcus die Okkupatoren mit seinem Wissen, seiner Raffinesse und avanciertester Digital-Technik. Cory Doctorow, der Autor von Little Brother, so der Buchtitel dieser gerade auf Deutsch erschienenen Geschichte eines jugendlichen Rebellen unter den verschärften Bedingungen des Cyberwar, ist selber Blogger, zudem ist er Autor für eines der weltweit wichtigsten Blogs: „Boing Boing”, und er ist Internet-Aktivist. Er arbeitete für die Electronic Frontier Foundation (EFF) und wurde 2007 mit dem EFF Pioneer Award ausgezeichnet. 2005 wurde er der Mitgründer der Open Rights Group in England die sich, ähnlich wie die EFF, für eine Liberalisierung des Urheberrechts einsetzt. Entsprechend hat er seinen ersten Roman Little Brother, dessen Titel natürlich eine Anspielung auf den „Big Brother” Orwells ist, unter einer Creative Commons Lizenz zum kostenlosen Download ins Netz gestellt (http://craphound.com/littlebrother/download/), in der Übersetzung von Christian Wöhrl sogar auf Deutsch (cwoehrl.de/files/lbdt_v1.pdf). Was das für den Verkaufserfolg der gerade im Rowohlt Taschenbuch Verlag erschienenen und vorzüglich von Uwe-Michael Gutzschhahn übersetzten Printfassung bedeutet, ist schwer auszumalen. Doch egal, in welcher Version man Little Brother liest, es ist ein unter die Haut gehender Genuss: realistisch trotz der Verlagerung in die nahe Zukunft, inspiriert, witzig und beklemmend, ja aufwühlend gut informiert über das, was möglich ist mit unseren Daten und möglich werden könnte, wenn man der schier grenzenlosen Daten-Sammellust einiger für gewöhnlich gut alarmierten Kreise keinen Einhalt gebietet. BERND GRAFF
Cory Doctorow
Little Brother
Aus dem Englischen von Uwe-Michael Gutzschhahn. Rowohlt Taschenbuchverlag 2010. 489 Seiten, 14,95 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Fridtjof Küchemann klopft Cory Doctorows ersten Jugendroman auf seine Aktualität ab und stellt fest: Der Autor und sein Buch, das sich mit dem außer Kontrolle geratenen Überwachungsstaat befasst und das heute in deutscher Übersetzung erscheint, haben bereits die Konsequenzen aus dem beschriebenen Szenario gezogen. Während Doctorow seine Leser für Bewegungsprofile und Gesichtserkennung sensibilisiert, Hackerthemen verhandelt und seinen Blick auf die jungen Digital Natives der Farbigkeit wegen mit herkömmlichen Teenagerthemen garniert, flottiert sein Text, zur individuellen Bearbeitung freigegeben, längst frei im Netz und hat schon eine riesengroße Community. So, freut sich Küchemann, müssen Handlungsanleitungen aussehen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Unbedingt empfehlenswert! Literaturen