Der junge Franz streift mit seiner Clique durch das überbordende Berlin der 1920er Jahre und ist hin- und hergerissen zwischen den ungeahnten Möglichkeiten und den Gefahren einer Stadt im Rausch. Liv reist wie viele junge Israeli durch die Welt. Sie hat ihren Militärdienst allerdings nicht bereits absolviert, sondern flieht vor ihm - und einem unerträglichen Gefühl der Enge - ins Ausland. Während ihrer Reise erobert sie einen neuen Kontinent: Sie wird zu einer Social-Media-Ikone, deren Posts viele Tausende lesen. Zwischen Liv und Franz liegen beinahe 100 Jahre, aber sie gehen wie Geschwister durch dieselbe Welt. Beide suchen nach einer Perspektive abseits der Euphorie ihrer Epochen, nach Autarkie in der Masse. Kevin Kuhn stellt sich den drängenden Fragen unserer Zeit und zeigt uns überraschende Wege durch die Fremde, die längst zu unserer Wirklichkeit geworden ist.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.10.2017Es gab und es gibt immer noch kein echtes Leben im Falschen
Kevin Kuhn hat einen psychologischen Roman über die metaphysisch obdachlose Digitalgeneration geschrieben: treffend im Ton, leicht angestrengt in der Konstruktion.
Von Oliver Jungen
Dass Medien die Macht übernehmen, um schließlich nur noch mit sich selbst zu kommunizieren, wissen wir spätestens seit Marshall McLuhan. Und da war die finale Offensive, die Digitalisierung, noch nicht abzusehen. Im Medienabsolutismus des Internetzeitalters, so kann man das sehen, ist der Zwischenraum derart aufgequollen, dass es fast kein Außen mehr gibt. An den Rändern droht der Mensch zu verschwinden. Kevin Kuhn, ein immer noch junger Autor, entwickelt sich gerade zum Spezialisten für postmodern labile Existenzen, die bemerken, dass ihre fluchtartige Selbstauslieferung an die große Kommunikationsmaschine sie erst recht heimat- und fühllos macht.
Kuhns Debütroman "Hikikomori" (2012) hatte von einem Schulversager gehandelt, der sein analoges Ich auf ein Minimum reduziert, um in einer digitalen Parallelwelt sein Glück zu finden. Der doppelt so umfangreiche Roman "Liv" geht noch einen Schritt weiter: Der Autor versucht zu ergründen, was das mehr oder weniger öffentliche Doppelleben in sozialen Netzwerken mit der Seele eines Menschen macht. Liv - bereits im Namen der Heldin schwingt das Lebenshungrige mit - ist eine junge Israelin, die aus Abneigung gegen den Militärdienst ihr Land für immer verlässt und ziellos durch die Welt reist. Das Smartphone, immer zur Hand und ständig genutzt (was als Leseerfahrung einigermaßen eintönig ist), dient ihr dabei als Anker, Partner und Schneckenhaus. Es geht also auch um die virulente Frage, ob im Falschen - der auf Herzen und Likes zielenden Abbildung - das Echte noch ein Refugium hat.
Mit nicht überaus originellen, aber authentisch wirkenden Posts avanciert Liv zum Social-Media-Star. Angesichts ihrer Followerzahl lassen teure Hotels sie sogar umsonst übernachten. Worauf sich ihre Berühmtheit in der Online-Welt eigentlich gründet, bleibt indes unklar: Liv ist eine Ikone der Bedeutungslosigkeit, nicht sonderlich sympathisch, aber auch nicht unsympathisch, sofern man ihr unablässiges Veröffentlichen von Bildern und Informationen über andere Personen nicht als Angriff auf deren Intimsphäre wertet. Datenschutz interessiert hier jedoch kaum jemanden.
Der Clou des Romans besteht darin, Livs Geschichte, die mit dem Abflug von Israel nach Mexiko beginnt und bald immer abenteuerlicher, surrealer und tragischer wird, kapitelweise alternierend in einer zweiten Erzählung zu spiegeln, die ein knappes Jahrhundert zuvor, also zur Hochzeit einer früheren Medienrevolution ("Die Zeit ist elektrisch") in Berlin spielt und erstaunlich viele Parallelen aufweist. Dieser Erzählstrang, der gegen Ende des Romans nur halbelegant mit dem ersten verknüpft wird, handelt vom eher schüchternen Franz Frey, der mit Freunden feiernd durch Nachtclubs zieht oder mit seiner märchenhaft am Glücksrad gewonnenen Leica-Kamera das Ereignis des Tages verfolgt, den Berlin-Aufenthalt der mit dem Luftschiff "Graf Zeppelin" angereisten Varieté-Berühmtheit Kiki. Nachdem ihm bei einem überraschenden Plausch ein aufsehenerregendes Kiki-Porträt gelungen ist, das alle Titelblätter ziert, feiert ihn Berlin als neues Künstlergenie, bis er von den Zeitungen als Stalker gebrandmarkt wird und ein handfester Shitstorm losbricht.
In der Tat ähneln gesellschaftliche Umbruchsituationen einander über die Zeiten hinweg. Dennoch wirkt die narrativ schlichte Franz-Handlung arg konstruiert und angestrengt. Der Protagonist bleibt blass. Auch die übrigen Figuren sind puppenhaft, während sich der (Ich-)Erzähler wahren Atmo-Exzessen hingibt, um nur keine Errungenschaft der Moderne auszulassen, von der Luftschifffahrt über Warenhäuser und Fließbandproduktion bis hin zu Radio- und Kinokultur, Betonkult, Tauchsiedern, Rohrpostkommunikation, Bildtelegraphie und Telefon-Shopping. Liv hat also eine Art geisterhaften Vorläufer oder auch asynchronen Avatar in Franz - zumal es auch sie schließlich nach Berlin verschlägt. Was uns diese Verdopplung mit ihren aufdringlichen Bezugnahmen ("Warum interessiert es dich, was andere über dich denken?" - "Ich habe Angst, nicht mehr ich zu sein.") und der fast schon heinrichböllhaften Medienkritik (sie machen dich groß; sie können dich zerstören) eigentlich sagen soll (Mache Authentizität nie zur Ware?), ist jedoch kaum zu erkennen. Zwar wird später eine Erklärung nachgereicht, die mit der fingierten Autorschaft dieser Kapitel zu tun hat, aber eine Nebenhandlung von solcher Dimension sollte wohl zugleich eine poetologische Legitimation haben. Sie müsste literarisch auch separat funktionieren.
Erzählerisch stärker und psychologisch dichter sind gegenüber den Franz-Kapiteln die Liv-Abschnitte. Wenn die Heldin in mexikanischen Hostels eincheckt, meint man, die mal schluffige, dann wieder überhebliche Backpacker-Szene direkt vor Augen zu haben, so gut sind die Charaktere getroffen. Gefährten zu finden fällt hier so leicht wie eine Freundschaftsanfrage im Netzwerk. Gut gelingt es Kuhn, die Ruhelosigkeit der nach außen hin phlegmatischen Heldin sichtbar zu machen, das Gefühl einer unklaren Dringlichkeit, die Liv das wahre Leben suchen lässt, während die Welt, so suggerieren es die von ihr widerwillig, aber zwanghaft gelesenen Schlagzeilen, in Hass und Gewalt zu versinken scheint. Die Liebe wäre eine Rettung, aber aus einem Missverständnis heraus forciert gerade sie hier das Gegenteil.
Der stark handlungsgetriebene Roman stellt sich im Vorübergehen entscheidenden Fragen der Digitalmoderne, wo die scheinbare Verbindung aller mit allen so leicht auch zum Trennenden wird. Es geht um die Verlogenheit in der Selbstdarstellung ("Es sah wirklich aus, als passierte eine ganze Menge in ihrem Leben"), die Leere hinter den Bildern, die falsche Unsterblichkeit im Netz und den überzeitlich mächtigen Wunsch, sich zu spüren. Dies alles im treffend leichten Tonfall als Heldenreise ohne Rückfahrtticket gestaltet zu haben, ist ein reizvolles Kunststück.
Kevin Kuhn: "Liv". Roman.
Berlin Verlag, München 2017. 494 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Kevin Kuhn hat einen psychologischen Roman über die metaphysisch obdachlose Digitalgeneration geschrieben: treffend im Ton, leicht angestrengt in der Konstruktion.
Von Oliver Jungen
Dass Medien die Macht übernehmen, um schließlich nur noch mit sich selbst zu kommunizieren, wissen wir spätestens seit Marshall McLuhan. Und da war die finale Offensive, die Digitalisierung, noch nicht abzusehen. Im Medienabsolutismus des Internetzeitalters, so kann man das sehen, ist der Zwischenraum derart aufgequollen, dass es fast kein Außen mehr gibt. An den Rändern droht der Mensch zu verschwinden. Kevin Kuhn, ein immer noch junger Autor, entwickelt sich gerade zum Spezialisten für postmodern labile Existenzen, die bemerken, dass ihre fluchtartige Selbstauslieferung an die große Kommunikationsmaschine sie erst recht heimat- und fühllos macht.
Kuhns Debütroman "Hikikomori" (2012) hatte von einem Schulversager gehandelt, der sein analoges Ich auf ein Minimum reduziert, um in einer digitalen Parallelwelt sein Glück zu finden. Der doppelt so umfangreiche Roman "Liv" geht noch einen Schritt weiter: Der Autor versucht zu ergründen, was das mehr oder weniger öffentliche Doppelleben in sozialen Netzwerken mit der Seele eines Menschen macht. Liv - bereits im Namen der Heldin schwingt das Lebenshungrige mit - ist eine junge Israelin, die aus Abneigung gegen den Militärdienst ihr Land für immer verlässt und ziellos durch die Welt reist. Das Smartphone, immer zur Hand und ständig genutzt (was als Leseerfahrung einigermaßen eintönig ist), dient ihr dabei als Anker, Partner und Schneckenhaus. Es geht also auch um die virulente Frage, ob im Falschen - der auf Herzen und Likes zielenden Abbildung - das Echte noch ein Refugium hat.
Mit nicht überaus originellen, aber authentisch wirkenden Posts avanciert Liv zum Social-Media-Star. Angesichts ihrer Followerzahl lassen teure Hotels sie sogar umsonst übernachten. Worauf sich ihre Berühmtheit in der Online-Welt eigentlich gründet, bleibt indes unklar: Liv ist eine Ikone der Bedeutungslosigkeit, nicht sonderlich sympathisch, aber auch nicht unsympathisch, sofern man ihr unablässiges Veröffentlichen von Bildern und Informationen über andere Personen nicht als Angriff auf deren Intimsphäre wertet. Datenschutz interessiert hier jedoch kaum jemanden.
Der Clou des Romans besteht darin, Livs Geschichte, die mit dem Abflug von Israel nach Mexiko beginnt und bald immer abenteuerlicher, surrealer und tragischer wird, kapitelweise alternierend in einer zweiten Erzählung zu spiegeln, die ein knappes Jahrhundert zuvor, also zur Hochzeit einer früheren Medienrevolution ("Die Zeit ist elektrisch") in Berlin spielt und erstaunlich viele Parallelen aufweist. Dieser Erzählstrang, der gegen Ende des Romans nur halbelegant mit dem ersten verknüpft wird, handelt vom eher schüchternen Franz Frey, der mit Freunden feiernd durch Nachtclubs zieht oder mit seiner märchenhaft am Glücksrad gewonnenen Leica-Kamera das Ereignis des Tages verfolgt, den Berlin-Aufenthalt der mit dem Luftschiff "Graf Zeppelin" angereisten Varieté-Berühmtheit Kiki. Nachdem ihm bei einem überraschenden Plausch ein aufsehenerregendes Kiki-Porträt gelungen ist, das alle Titelblätter ziert, feiert ihn Berlin als neues Künstlergenie, bis er von den Zeitungen als Stalker gebrandmarkt wird und ein handfester Shitstorm losbricht.
In der Tat ähneln gesellschaftliche Umbruchsituationen einander über die Zeiten hinweg. Dennoch wirkt die narrativ schlichte Franz-Handlung arg konstruiert und angestrengt. Der Protagonist bleibt blass. Auch die übrigen Figuren sind puppenhaft, während sich der (Ich-)Erzähler wahren Atmo-Exzessen hingibt, um nur keine Errungenschaft der Moderne auszulassen, von der Luftschifffahrt über Warenhäuser und Fließbandproduktion bis hin zu Radio- und Kinokultur, Betonkult, Tauchsiedern, Rohrpostkommunikation, Bildtelegraphie und Telefon-Shopping. Liv hat also eine Art geisterhaften Vorläufer oder auch asynchronen Avatar in Franz - zumal es auch sie schließlich nach Berlin verschlägt. Was uns diese Verdopplung mit ihren aufdringlichen Bezugnahmen ("Warum interessiert es dich, was andere über dich denken?" - "Ich habe Angst, nicht mehr ich zu sein.") und der fast schon heinrichböllhaften Medienkritik (sie machen dich groß; sie können dich zerstören) eigentlich sagen soll (Mache Authentizität nie zur Ware?), ist jedoch kaum zu erkennen. Zwar wird später eine Erklärung nachgereicht, die mit der fingierten Autorschaft dieser Kapitel zu tun hat, aber eine Nebenhandlung von solcher Dimension sollte wohl zugleich eine poetologische Legitimation haben. Sie müsste literarisch auch separat funktionieren.
Erzählerisch stärker und psychologisch dichter sind gegenüber den Franz-Kapiteln die Liv-Abschnitte. Wenn die Heldin in mexikanischen Hostels eincheckt, meint man, die mal schluffige, dann wieder überhebliche Backpacker-Szene direkt vor Augen zu haben, so gut sind die Charaktere getroffen. Gefährten zu finden fällt hier so leicht wie eine Freundschaftsanfrage im Netzwerk. Gut gelingt es Kuhn, die Ruhelosigkeit der nach außen hin phlegmatischen Heldin sichtbar zu machen, das Gefühl einer unklaren Dringlichkeit, die Liv das wahre Leben suchen lässt, während die Welt, so suggerieren es die von ihr widerwillig, aber zwanghaft gelesenen Schlagzeilen, in Hass und Gewalt zu versinken scheint. Die Liebe wäre eine Rettung, aber aus einem Missverständnis heraus forciert gerade sie hier das Gegenteil.
Der stark handlungsgetriebene Roman stellt sich im Vorübergehen entscheidenden Fragen der Digitalmoderne, wo die scheinbare Verbindung aller mit allen so leicht auch zum Trennenden wird. Es geht um die Verlogenheit in der Selbstdarstellung ("Es sah wirklich aus, als passierte eine ganze Menge in ihrem Leben"), die Leere hinter den Bildern, die falsche Unsterblichkeit im Netz und den überzeitlich mächtigen Wunsch, sich zu spüren. Dies alles im treffend leichten Tonfall als Heldenreise ohne Rückfahrtticket gestaltet zu haben, ist ein reizvolles Kunststück.
Kevin Kuhn: "Liv". Roman.
Berlin Verlag, München 2017. 494 S., geb., 22,- [Euro].
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»In Kevin Kuhns Roman 'Liv' werden die Zwanzigerjahre zu einer Art Echokammer der Gegenwart. Kuhn setzt darin sehr virtuos eine Parallelaktion in Gang.« Die Welt am Sonntag 20171008