Was als Spaziergang beginnt, entpuppt sich bald als Tour de Force, als Streitgespräch mit Bots, Bekannten, Liebhaber_innen - vor allem Leichen. Wie ein Chor aus griechischen Tragödien fordern die Toten genauso wie der lebendige digitale Livestream immer wieder das Gespräch und mit der Vergangenheit und mit der Gegenwart. In digitalen Räumen, unter Bettdecken und in Krankenhäusern: Überall fragen die Leichen, wie die Zukunft zu gestalten ist, wenn wir uns gemeinschaftlich der Realität versperren. Piekars Schreiben ist eine Einladung, mit ihm zu gehen, zu schreiten, zu rennen und innezuhalten: auf Parkbänken, unter Brücken und Verkehrsinseln.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensentin Christina Lenz lauschte bereits bei Martin Piekars Lesung in Klagenfurt dem "Urschrei der Literatur", mit den nun vorliegenden dreizehn Langgedichten dringt sie noch ein wenig weiter vor in einen Bereich jenseits der "hermeneutischen Bequemlichkeit". Das verlangt der Kritikerin zwar ein wenig Mühe ab, aber die nimmt sie gern auf sich: In den Versen, die mit verschiedenen Sprachen, Rhythmen, Schriftarten und -größen spielen und die nicht nur Bereiche zwischen Digitalem und Analogem ausloten, taucht Lenz ab in die Abgründe unserer "durchökonomisierten" Gegenwart und findet ein düsteres Bild vor: In mitten von Krankheit, Sucht, Armut, Gewalt und Rassismus zuckt ein Rest des Menschlichen, das Schreien und Singen, Würgen und Brechen ist deutlich zu vernehmen. Und doch blitzt eine Spur von Hoffnung auf in den nicht zuletzt auch politisch klugen Gedichten, schließt sie.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.11.2023Diese Unterwelt ist eine Unwelt
Lyrik, die sich nicht abfindet mit dem, was ist: Martin Piekars Gedichtband "Livestream & Leichen"
Schreie gab es in der Literatur noch nicht oft. Und wenn doch, blieben sie naturgemäß eher stumm. Einen echten, stimmhaften Schrei schenkte uns hingegen jüngst der Frankfurter Schriftsteller Martin Piekar bei den diesjährigen Tagen der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt. Wenige Sekunden lang, von zwei wohl proportionierten Pausen eingerahmt, stieß Piekar einen - man möchte sagen - Urschrei der Literatur aus. Der zum Schrei gehörige Text "mit wänden sprechen / pole sind schwierige volk" wirkte an vielen Stellen selbst so, als hätte er das Schreien nur knapp in die Sprache hinübergerettet. Unerwartet leuchtete mit Piekars Auftritt die fiebrige Intensität von Literatur wieder auf. Wohlverdient gewann er zwei Preise.
Nun schwimmen wir Leserinnen und Leser ja meist eher im gemütlichen Strom medialer Häppchen, harmloser Geschichtchen und endloser Nachrichten, lassen uns lieber in den seichten Strömungen der Verständlichkeit und des Storytelling treiben, als uns in die gefährlichen Strudel der Literatur zu begeben. Das liegt wohl auch an einer gewissen hermeneutischen Bequemlichkeit, die nur das für verständlich hält, was gar nicht erst verstanden werden muss. Oder wie es Adorno ehedem formulierte: Als vertraut berührt uns "das in Wahrheit Entfremdete, das vom Kommerz geprägte Wort".
Wie wunderbar unvertraut streift uns da Piekars Literatur - besonders in seinem neuen Gedichtband "Livestream & Leichen". Denn hier stemmt sich eine Sprache mit größter poetischer Anstrengung gegen das gefällige, glatte, marktkonforme Sprechen unserer Gegenwart. Dreizehn Langgedichte revoltieren Vers um Vers gegen das alltagshermeneutische Diktat seichter Selbstverständlichkeit. Aus unterschiedlichen Sprachen, Rhythmen, Schriftarten und Schriftgrößen schöpfend, falten und entfalten sich Piekars Gedichte in dunklen Nischen und zwielichtigen Zwischenräumen: zwischen Wörtern und ihren möglichen Bedeutungen, zwischen Deutsch und Polnisch, zwischen der Stadt und deren Rändern, zwischen analogem und digitalem Erleben. Wer sich in die Windungen und Ungereimtheiten dieser Lyrik begibt, weiß sofort, dass es kein Spaziergang wird. Oder nur "ein spaziergang für all jene, die keinen weg sehen".
Als poetischer Flaneur durch die sprachlichen Abgründe von Ich und Welt wandelt Piekar natürlich auch auf vertrauten Wegen. Schon Baudelaire und Mallarmé erklärten Fremdheit, Dissonanz und Dunkelheit zum avantgardistischen Zentrum ihrer Dichtung. Schon die moderne Lyrik von der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts an suchte mit diesem Stil nach Antworten auf die Frage, wie Poesie in der kommerzialisierten und technisierten Welt überhaupt noch möglich sei.
Auf dieser Spur erkundet Piekar nun die sprachlichen Dissonanzen unserer durchökonomisierten Gegenwart und öffnet den Blick auf ein postmodern und digital beschädigtes Leben. In seiner Sprachwelt gibt es kein einfaches Weiter-so, kein versöhnendes "alles gut". Vielmehr entlarven seine Gedichte solche Phrasen als Hohn und Blindheit gegenüber einer verdrehten kalten Welt.
Um von dieser Welt zu sprechen, begibt sich die Sprache zwingend auf Abwege, auf denen sie noch nicht auf ihr bloßes Funktionieren zurückgestutzt ist. Mit grellem poetischen Licht leuchten viele Gedichte auf die Zuckungen des Menschlichen direkt vor unserer Haustür. Piekar schreibt konsequent am abgeklärten, verlogenen Zentrum der Alltagssprache vorbei und taucht so in die unheimlichen Abgründe unserer Welt: Dort dümpeln Armut und Krankheit, Sucht und Einsamkeit, Gewalt und Rassismus. Ein zitterndes "ich" empfängt die unheimlichen Echos von Hanau, NSU und Halle und besingt die vielen Toten, die am Grunde unserer strahlend gesunden Zivilisation treiben ("wie kann man da nicht auf mittag scheißen / wo menschenwert bepreist wird").
Piekars Verse steigen hinab in eine Unterwelt, eine Unwelt, gepflastert mit Leichen und umgeben von Nacht und Dunkelheit. Sie sprechen von Randzonen, in die das herkömmliche Sprechen nicht mehr hinreicht: "ich hoffe auf den nicht gentrifizierbaren Rest / ich hoffe, dass er schreit, dass er singt". Je tiefer man sich in den Strudel solcher Verse begibt, desto eher erscheinen nicht mehr die Gedichte als Deformationen und Fassaden der Realität, sondern das alltägliche Gerede im Modus der Normalität.
Der nicht "gentrifizierbare Rest" überlebt in Piekars Gedichten oft als nackte sprachliche Geste: als Schreien und Singen, Würgen und Räuspern, Pusten, Seufzen und sich Übergeben. Dies sind offenbar die letzten Ausdrucksformen eines Lebens, dessen Antlitz immer öfter hinter der Übermacht von Marktlogik und Daten verschwindet. Es sind auch die Seufzer eines "ich", das sich verlässlich in den unendlichen Spiegeln des Digitalen verliert. Die einsamen Wortinseln und abgebrochenen Versfetzen wirken da wie letzte dünne Halme, die dieses "ich" vor dem Ertrinken im technisierten Sprachstrom retten.
Mit diesen poetischen Bruchstücken bauen Piekars Gedichte eine "brücke ins schummrige", die einen Blick von unten auf die Welt erlaubt. In ihr tummeln sich Leichen, Menschen ohne Geld, "Heimlose", Hungernde, ein "bankier", der "über dem mülltonnenfeuer sein h" kocht, Menschen, "die nur beim einkaufen glück empfinden" oder "schüler*innen, die angst vorm werden haben". Und man erkennt zuletzt, dass sich Piekars Verse auch hin zu einer großen Hoffnung spannen: "ich will dunkleres werden, das allen die hand reicht / & sanft zu ihnen spricht: hier ist nicht das ende / wo du nicht siehst, geht es weiter". Auf dieser Reise ins Unbekannte ist Piekars Lyrik zwar hermeneutisch anstrengend, aber politisch hellsichtig. CHRISTINA LENZ
Martin Piekar:
"Livestream & Leichen". Gedichte.
Mit Illustrationen von Nina Kaun. Verlagshaus Berlin, Berlin 2023.
160 S., Abb., br., 22,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Lyrik, die sich nicht abfindet mit dem, was ist: Martin Piekars Gedichtband "Livestream & Leichen"
Schreie gab es in der Literatur noch nicht oft. Und wenn doch, blieben sie naturgemäß eher stumm. Einen echten, stimmhaften Schrei schenkte uns hingegen jüngst der Frankfurter Schriftsteller Martin Piekar bei den diesjährigen Tagen der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt. Wenige Sekunden lang, von zwei wohl proportionierten Pausen eingerahmt, stieß Piekar einen - man möchte sagen - Urschrei der Literatur aus. Der zum Schrei gehörige Text "mit wänden sprechen / pole sind schwierige volk" wirkte an vielen Stellen selbst so, als hätte er das Schreien nur knapp in die Sprache hinübergerettet. Unerwartet leuchtete mit Piekars Auftritt die fiebrige Intensität von Literatur wieder auf. Wohlverdient gewann er zwei Preise.
Nun schwimmen wir Leserinnen und Leser ja meist eher im gemütlichen Strom medialer Häppchen, harmloser Geschichtchen und endloser Nachrichten, lassen uns lieber in den seichten Strömungen der Verständlichkeit und des Storytelling treiben, als uns in die gefährlichen Strudel der Literatur zu begeben. Das liegt wohl auch an einer gewissen hermeneutischen Bequemlichkeit, die nur das für verständlich hält, was gar nicht erst verstanden werden muss. Oder wie es Adorno ehedem formulierte: Als vertraut berührt uns "das in Wahrheit Entfremdete, das vom Kommerz geprägte Wort".
Wie wunderbar unvertraut streift uns da Piekars Literatur - besonders in seinem neuen Gedichtband "Livestream & Leichen". Denn hier stemmt sich eine Sprache mit größter poetischer Anstrengung gegen das gefällige, glatte, marktkonforme Sprechen unserer Gegenwart. Dreizehn Langgedichte revoltieren Vers um Vers gegen das alltagshermeneutische Diktat seichter Selbstverständlichkeit. Aus unterschiedlichen Sprachen, Rhythmen, Schriftarten und Schriftgrößen schöpfend, falten und entfalten sich Piekars Gedichte in dunklen Nischen und zwielichtigen Zwischenräumen: zwischen Wörtern und ihren möglichen Bedeutungen, zwischen Deutsch und Polnisch, zwischen der Stadt und deren Rändern, zwischen analogem und digitalem Erleben. Wer sich in die Windungen und Ungereimtheiten dieser Lyrik begibt, weiß sofort, dass es kein Spaziergang wird. Oder nur "ein spaziergang für all jene, die keinen weg sehen".
Als poetischer Flaneur durch die sprachlichen Abgründe von Ich und Welt wandelt Piekar natürlich auch auf vertrauten Wegen. Schon Baudelaire und Mallarmé erklärten Fremdheit, Dissonanz und Dunkelheit zum avantgardistischen Zentrum ihrer Dichtung. Schon die moderne Lyrik von der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts an suchte mit diesem Stil nach Antworten auf die Frage, wie Poesie in der kommerzialisierten und technisierten Welt überhaupt noch möglich sei.
Auf dieser Spur erkundet Piekar nun die sprachlichen Dissonanzen unserer durchökonomisierten Gegenwart und öffnet den Blick auf ein postmodern und digital beschädigtes Leben. In seiner Sprachwelt gibt es kein einfaches Weiter-so, kein versöhnendes "alles gut". Vielmehr entlarven seine Gedichte solche Phrasen als Hohn und Blindheit gegenüber einer verdrehten kalten Welt.
Um von dieser Welt zu sprechen, begibt sich die Sprache zwingend auf Abwege, auf denen sie noch nicht auf ihr bloßes Funktionieren zurückgestutzt ist. Mit grellem poetischen Licht leuchten viele Gedichte auf die Zuckungen des Menschlichen direkt vor unserer Haustür. Piekar schreibt konsequent am abgeklärten, verlogenen Zentrum der Alltagssprache vorbei und taucht so in die unheimlichen Abgründe unserer Welt: Dort dümpeln Armut und Krankheit, Sucht und Einsamkeit, Gewalt und Rassismus. Ein zitterndes "ich" empfängt die unheimlichen Echos von Hanau, NSU und Halle und besingt die vielen Toten, die am Grunde unserer strahlend gesunden Zivilisation treiben ("wie kann man da nicht auf mittag scheißen / wo menschenwert bepreist wird").
Piekars Verse steigen hinab in eine Unterwelt, eine Unwelt, gepflastert mit Leichen und umgeben von Nacht und Dunkelheit. Sie sprechen von Randzonen, in die das herkömmliche Sprechen nicht mehr hinreicht: "ich hoffe auf den nicht gentrifizierbaren Rest / ich hoffe, dass er schreit, dass er singt". Je tiefer man sich in den Strudel solcher Verse begibt, desto eher erscheinen nicht mehr die Gedichte als Deformationen und Fassaden der Realität, sondern das alltägliche Gerede im Modus der Normalität.
Der nicht "gentrifizierbare Rest" überlebt in Piekars Gedichten oft als nackte sprachliche Geste: als Schreien und Singen, Würgen und Räuspern, Pusten, Seufzen und sich Übergeben. Dies sind offenbar die letzten Ausdrucksformen eines Lebens, dessen Antlitz immer öfter hinter der Übermacht von Marktlogik und Daten verschwindet. Es sind auch die Seufzer eines "ich", das sich verlässlich in den unendlichen Spiegeln des Digitalen verliert. Die einsamen Wortinseln und abgebrochenen Versfetzen wirken da wie letzte dünne Halme, die dieses "ich" vor dem Ertrinken im technisierten Sprachstrom retten.
Mit diesen poetischen Bruchstücken bauen Piekars Gedichte eine "brücke ins schummrige", die einen Blick von unten auf die Welt erlaubt. In ihr tummeln sich Leichen, Menschen ohne Geld, "Heimlose", Hungernde, ein "bankier", der "über dem mülltonnenfeuer sein h" kocht, Menschen, "die nur beim einkaufen glück empfinden" oder "schüler*innen, die angst vorm werden haben". Und man erkennt zuletzt, dass sich Piekars Verse auch hin zu einer großen Hoffnung spannen: "ich will dunkleres werden, das allen die hand reicht / & sanft zu ihnen spricht: hier ist nicht das ende / wo du nicht siehst, geht es weiter". Auf dieser Reise ins Unbekannte ist Piekars Lyrik zwar hermeneutisch anstrengend, aber politisch hellsichtig. CHRISTINA LENZ
Martin Piekar:
"Livestream & Leichen". Gedichte.
Mit Illustrationen von Nina Kaun. Verlagshaus Berlin, Berlin 2023.
160 S., Abb., br., 22,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main