Hanns-Josef Ortheil erzählt Geschichten aus dem Leben seiner beiden Kinder Lo und Lu - von Anfang an bis zu ihren ersten Jahren in der Schule. Als Schriftsteller-Vater, der zu Hause arbeitet, ist er ein guter Beobachter und Mitspieler bei den kleinen Geschichten und Begebenheiten, in denen die Kinder die Hauptrolle spielen. Ehe er sich anfangs darüber Gedanken machen kann, wie das Alltagsleben in der größer gewordenen Familie organisiert werden soll, haben schon die Kinder die Regie im Haus übernommen ...
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.12.2001Wenn der Vater mit den Kindern
Ankunft bei den Eltern: Hanns-Josef Ortheils Doppelschlag
Er ist den Blauen Weg gegangen. Ohne links oder rechts zu schauen rein ins Gartenhaus, hoch über Stuttgart, tief im Grünen. "Er ist jetzt zu Haus, er ist angekommen zu Haus", hat Hanns-Josef Ortheil als Schlußpunkt in sein Tagebuch "Blauer Weg" (1996) notiert. Und zu Haus, hoch über Stuttgart, tief im Grünen, da steht ein Schreibtisch - und ein Wickeltisch. Da ist Phantásien für den Romancier und für seine Kleinen: für Lo und für Lu. Lotta kam 1993 zur Welt, Lukas zwei Jahre später und Vater Ortheil mit jedem Kind noch mal neu. Wie das geht, und wie sich das anfühlt, erzählt er in seinem "Roman eines Vaters" unter dem Titel "Lo und Lu".
Er könnte auch "Roman aller Eltern" heißen: "Lo und Lu" ist ein Tagebuch, das uns aus der Seele geschrieben wurde, mit leichter Hand, mit vollem Herz. Sechs Jahre lang hat Ortheil Kinderszenen gesammelt, vom ersten Tag allein zu Haus mit Lu, dem zwei Monate alten Baby, bis zu den ersten Schuljahren von Lo. "La Mamma", die Verlegerin, geht arbeiten, und Papa, der Schreiberling, bleibt daheim am Schreibtisch - oder eben am Wickeltisch. Denn Zeit und Kraft reichen gerade für ein paar Aufzeichnungen aus dem Alltag als schöngeistiger Haus-, besser: Kindermann; und diese Aufzeichnungen bestätigen alles, was die Dinki-(Double-Income-No-kids-)Gesellschaft je über spätberufene Eltern gespottet hat: blind, blöd, besessen. Und?
"Ich kann nichts mehr schreiben, ich kann einfach nicht mehr. Seit ich mit Lo und Lu lebe, habe ich mich immer mehr vom Leben draußen verabschiedet, denn ich lebe nur noch mit Lo und mit Lu. Ich gehe nicht mehr ins Kino und nicht mehr ins Theater, ich treffe meine Freunde kaum mehr, und ich lese Zeitungen nur noch mit Widerwillen (. . .) und ich würde mit keinem Menschen der Welt tauschen wollen." Cocooning zu dritt. Der erste Besuch eines kinderlosen Paars ist ein Debakel; die erste Reise ohne Kinder ein Drama.
Und wenn der Papa morgens mit dem Kinderwagen loslegt, hält er ihn ganz ganz fest. "Ich bin bereit, es mit jedem Feind aufzunehmen." Die kleine Lo hüpft in Sichtweite voraus, der kleine Lu lächelt nichtsahnend vor sich hin, nur Ortheil geht "zum Zermalmen gespannt" den friedlichen Höhenweg entlang, bildet mit dem Kinderwagen eine "schützende Außenhaut" um Lu. Beim kleinsten falschen Wort wird die Museumswärterin angepflaumt, drohen dem Zirkusclown Handgreiflichkeiten, und der städtischen Bürokratie wird, extra für Lu, ein ungesetzliches Schnippchen geschlagen: ein Papa wie ein Löwe.
Egal, wo Ortheil sich aufhält, egal, mit wem er spricht, eigentlich ist er immer bei seinen zwei Schätzen. Überall spielt die "Ästhetik des Elternblicks". Selbst die Räder des ICE singen "Lo und Lu", "Lo und Lu" - und die ganze Welt dazu. Eine Welt, die völlig anders aussieht, seit es die beiden Rangen gibt: Pferdenummern werden zum Horrortrip (wegen des bösen Manns mit der Peitsche), Rilke-Gedichte zum Renner (wegen der schönen Reime); "noch mal", sagt Lo und jubelt: "Stäbe gäbe, Stäbe gäbe . . ."
Es ist eine Welt, in der ein Dichter plötzlich über seinen Kinderglauben extemporieren muß oder Dinge denkt wie: "Der Buggy ist ein ausgesprochen schnelles Verkehrsmittel, er ist die Vorstufe des Motorrads oder der Vespa, im Gegensatz zum Kinderwagen, der so etwas wie die Nachhut der Wiege ist." Und dann von seiner eigenen Originalität so angetan ist, daß er sich sofort ein Diktiergerät wünscht.
Ob am Meer oder auf dem Fernsehturm, ob in der Bücherei oder im Kölner Dom, immer stellt sich zuerst die Frage: Ist es gut für die Kinder? Ist es schön für die Kinder? Geraten die Zeichenkünste von Lo ins Stocken, kauft Papa im teuersten Laden die teuersten Malsachen und hängt noch den gemeinsamen Besuch einer Picasso-Ausstellung dran. Ziehen die Tierkarawanen der Kinder durchs Arbeitszimmer von Papa, dann wird für ihn, gleich neben dem Gartenhaus, einfach noch ein eigenes Häuschen hingebaut - und die Tierchen bleiben, wo sie sind.
Eine Bilderbuchkindheit in Bilderbuchverhältnissen: Sie wäre ein Ärgernis für alle verzweifelten Dreizimmerwohnungseltern (der stolze Papa kann es sich etwa bei der Kinderärztin nicht verkneifen, zu prahlen: "Sie kümmert sich beinahe liebevoll um die kleinsten Blumen in unserem weiten Gartengelände"), sie wäre eine literarische Ungeschliffenheit - wenn, ja wenn da nicht dieser Ton wäre, der sofort versöhnt: der eines Vaters. Diese Mischung aus fragloser Liebe, völliger Erschöpfung und gutmütigem Spott.
Tagaus, tagein Wickeln, Füttern, Spielen, Ausfahren, In-den-Schlaf-Wiegen, Wickeln, Füttern - "und wer glaubt, daß man sich beim Bauen, Spielen und Fahren entspannen kann, kennt Bauen, Spielen und Fahren nicht richtig". Aber hallo. Da ist es schon ein Sieg, am Schreibtisch nicht einzuschlafen. "Ohne zu wanken, ohne einzuknicken, sitze ich vor dem Schreibtisch und starre ins Nichts, das ist schon allerhand, es hat etwas Asiatisches. Mir liegt allerdings wenig daran, es mit den Zen-Meistern aufzunehmen, ich will nur arbeiten, aber das ist einfach nicht möglich." Trotzdem: Kaum etwas ist schlimmer als der Tag, an dem Lo zum ersten Mal in den Kindergarten geht. Höchstens der Tag, an dem Lu zum ersten Mal in den Kindergarten geht. Auf einmal sitzt der Papa ganz allein zu Haus und ist nicht mehr Papa, sondern nur noch Schriftsteller.
Doch Hanns-Josef Ortheil hat es geschafft: Er ist von seinem Schreibtisch aus wieder ins Phantásien der Großen gereist. Dorthin, wo Achill sich verkleiden darf (vor vier Jahren entstand Ortheils Libretto "Achill unter den Mädchen"). Dorthin, wo Goethe die Liebe pflegte ("Faustinas Küsse", 1998), ein venezianischer Cicisbeo die Kunst ("Im Licht der Lagune", 1999) und Casanova die Musik ("Die Nacht des Don Juan" schloß Ortheils Romantrilogie im vergangenen Jahr ab).
Weniger kunstvoll, dafür wunderbar ungekünstelt ist allerdings die Reise, die der Fünfzigjährige mit "Lo und Lu" unternommen hat. Mit französischer Leichtigkeit à la Daniel Pennac und hiesigem Ernst ist er angekommen: zu Haus, bei einem anmutigen Elternbuch.
ALEXANDRA KEDVES
Hanns-Josef Ortheil: "Lo und Lu". Roman eines Vaters. Luchterhand-Literaturverlag, München 2001. 350 S., geb., 36,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ankunft bei den Eltern: Hanns-Josef Ortheils Doppelschlag
Er ist den Blauen Weg gegangen. Ohne links oder rechts zu schauen rein ins Gartenhaus, hoch über Stuttgart, tief im Grünen. "Er ist jetzt zu Haus, er ist angekommen zu Haus", hat Hanns-Josef Ortheil als Schlußpunkt in sein Tagebuch "Blauer Weg" (1996) notiert. Und zu Haus, hoch über Stuttgart, tief im Grünen, da steht ein Schreibtisch - und ein Wickeltisch. Da ist Phantásien für den Romancier und für seine Kleinen: für Lo und für Lu. Lotta kam 1993 zur Welt, Lukas zwei Jahre später und Vater Ortheil mit jedem Kind noch mal neu. Wie das geht, und wie sich das anfühlt, erzählt er in seinem "Roman eines Vaters" unter dem Titel "Lo und Lu".
Er könnte auch "Roman aller Eltern" heißen: "Lo und Lu" ist ein Tagebuch, das uns aus der Seele geschrieben wurde, mit leichter Hand, mit vollem Herz. Sechs Jahre lang hat Ortheil Kinderszenen gesammelt, vom ersten Tag allein zu Haus mit Lu, dem zwei Monate alten Baby, bis zu den ersten Schuljahren von Lo. "La Mamma", die Verlegerin, geht arbeiten, und Papa, der Schreiberling, bleibt daheim am Schreibtisch - oder eben am Wickeltisch. Denn Zeit und Kraft reichen gerade für ein paar Aufzeichnungen aus dem Alltag als schöngeistiger Haus-, besser: Kindermann; und diese Aufzeichnungen bestätigen alles, was die Dinki-(Double-Income-No-kids-)Gesellschaft je über spätberufene Eltern gespottet hat: blind, blöd, besessen. Und?
"Ich kann nichts mehr schreiben, ich kann einfach nicht mehr. Seit ich mit Lo und Lu lebe, habe ich mich immer mehr vom Leben draußen verabschiedet, denn ich lebe nur noch mit Lo und mit Lu. Ich gehe nicht mehr ins Kino und nicht mehr ins Theater, ich treffe meine Freunde kaum mehr, und ich lese Zeitungen nur noch mit Widerwillen (. . .) und ich würde mit keinem Menschen der Welt tauschen wollen." Cocooning zu dritt. Der erste Besuch eines kinderlosen Paars ist ein Debakel; die erste Reise ohne Kinder ein Drama.
Und wenn der Papa morgens mit dem Kinderwagen loslegt, hält er ihn ganz ganz fest. "Ich bin bereit, es mit jedem Feind aufzunehmen." Die kleine Lo hüpft in Sichtweite voraus, der kleine Lu lächelt nichtsahnend vor sich hin, nur Ortheil geht "zum Zermalmen gespannt" den friedlichen Höhenweg entlang, bildet mit dem Kinderwagen eine "schützende Außenhaut" um Lu. Beim kleinsten falschen Wort wird die Museumswärterin angepflaumt, drohen dem Zirkusclown Handgreiflichkeiten, und der städtischen Bürokratie wird, extra für Lu, ein ungesetzliches Schnippchen geschlagen: ein Papa wie ein Löwe.
Egal, wo Ortheil sich aufhält, egal, mit wem er spricht, eigentlich ist er immer bei seinen zwei Schätzen. Überall spielt die "Ästhetik des Elternblicks". Selbst die Räder des ICE singen "Lo und Lu", "Lo und Lu" - und die ganze Welt dazu. Eine Welt, die völlig anders aussieht, seit es die beiden Rangen gibt: Pferdenummern werden zum Horrortrip (wegen des bösen Manns mit der Peitsche), Rilke-Gedichte zum Renner (wegen der schönen Reime); "noch mal", sagt Lo und jubelt: "Stäbe gäbe, Stäbe gäbe . . ."
Es ist eine Welt, in der ein Dichter plötzlich über seinen Kinderglauben extemporieren muß oder Dinge denkt wie: "Der Buggy ist ein ausgesprochen schnelles Verkehrsmittel, er ist die Vorstufe des Motorrads oder der Vespa, im Gegensatz zum Kinderwagen, der so etwas wie die Nachhut der Wiege ist." Und dann von seiner eigenen Originalität so angetan ist, daß er sich sofort ein Diktiergerät wünscht.
Ob am Meer oder auf dem Fernsehturm, ob in der Bücherei oder im Kölner Dom, immer stellt sich zuerst die Frage: Ist es gut für die Kinder? Ist es schön für die Kinder? Geraten die Zeichenkünste von Lo ins Stocken, kauft Papa im teuersten Laden die teuersten Malsachen und hängt noch den gemeinsamen Besuch einer Picasso-Ausstellung dran. Ziehen die Tierkarawanen der Kinder durchs Arbeitszimmer von Papa, dann wird für ihn, gleich neben dem Gartenhaus, einfach noch ein eigenes Häuschen hingebaut - und die Tierchen bleiben, wo sie sind.
Eine Bilderbuchkindheit in Bilderbuchverhältnissen: Sie wäre ein Ärgernis für alle verzweifelten Dreizimmerwohnungseltern (der stolze Papa kann es sich etwa bei der Kinderärztin nicht verkneifen, zu prahlen: "Sie kümmert sich beinahe liebevoll um die kleinsten Blumen in unserem weiten Gartengelände"), sie wäre eine literarische Ungeschliffenheit - wenn, ja wenn da nicht dieser Ton wäre, der sofort versöhnt: der eines Vaters. Diese Mischung aus fragloser Liebe, völliger Erschöpfung und gutmütigem Spott.
Tagaus, tagein Wickeln, Füttern, Spielen, Ausfahren, In-den-Schlaf-Wiegen, Wickeln, Füttern - "und wer glaubt, daß man sich beim Bauen, Spielen und Fahren entspannen kann, kennt Bauen, Spielen und Fahren nicht richtig". Aber hallo. Da ist es schon ein Sieg, am Schreibtisch nicht einzuschlafen. "Ohne zu wanken, ohne einzuknicken, sitze ich vor dem Schreibtisch und starre ins Nichts, das ist schon allerhand, es hat etwas Asiatisches. Mir liegt allerdings wenig daran, es mit den Zen-Meistern aufzunehmen, ich will nur arbeiten, aber das ist einfach nicht möglich." Trotzdem: Kaum etwas ist schlimmer als der Tag, an dem Lo zum ersten Mal in den Kindergarten geht. Höchstens der Tag, an dem Lu zum ersten Mal in den Kindergarten geht. Auf einmal sitzt der Papa ganz allein zu Haus und ist nicht mehr Papa, sondern nur noch Schriftsteller.
Doch Hanns-Josef Ortheil hat es geschafft: Er ist von seinem Schreibtisch aus wieder ins Phantásien der Großen gereist. Dorthin, wo Achill sich verkleiden darf (vor vier Jahren entstand Ortheils Libretto "Achill unter den Mädchen"). Dorthin, wo Goethe die Liebe pflegte ("Faustinas Küsse", 1998), ein venezianischer Cicisbeo die Kunst ("Im Licht der Lagune", 1999) und Casanova die Musik ("Die Nacht des Don Juan" schloß Ortheils Romantrilogie im vergangenen Jahr ab).
Weniger kunstvoll, dafür wunderbar ungekünstelt ist allerdings die Reise, die der Fünfzigjährige mit "Lo und Lu" unternommen hat. Mit französischer Leichtigkeit à la Daniel Pennac und hiesigem Ernst ist er angekommen: zu Haus, bei einem anmutigen Elternbuch.
ALEXANDRA KEDVES
Hanns-Josef Ortheil: "Lo und Lu". Roman eines Vaters. Luchterhand-Literaturverlag, München 2001. 350 S., geb., 36,- DM.
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