Im Zentrum dieses Buches steht die Inszenierung des Körpers, verbunden mit der Erregung der Phantasie. Niklaus Largier richtet den Blick auf die Geschichte eines zunächst asketischen Rituals der freiwilligen Geißelung und zeigt, daß hier nicht der Schmerz im Zentrum steht, sondern eine gezielte Stimulierung des Körpers, der Phantasie und der Emotionen. Der Übergang von Handlungen der Strafpraxis zu solchen der Bußpraxis steht im Zeichen einer betonten Körperlichkeit: Es ist eine Angleichung von Gott und Mensch im Leiden beabsichtigt. Schon bei der Betrachtung des asketischen Geißelns erweist sich, daß die Rolle der Imagination in der Askese und in der Erotik analog ist. Es überrascht denn auch nicht, daß die erotische und pornographische Literatur auf die asketische Praxis der Geißelung zurückgreift und sie für ihre Zwecke benutzt. Dabei bleibt die Flagellation - bis zu Marcel Proust und James Joyce, mit denen das Buch schließt - ein Ritual der Erregung, dem letztli ch auch der moderne Begriff der "Sexualität" nicht beizukommen vermag.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.10.2001Weltbild der Striemen
Niklaus Largier läßt die Peitsche rauf und runter knallen / Von Hans Ulrich Gumbrecht
Nichts haben Verlag und Autor dieser Kulturgeschichte unversucht gelassen, um das Interesse und die Gunst einer möglichst breiten Leserschaft zu gewinnen. Vor allem setzen Niklaus Largier, der mittelalterliche deutsche Literaturgeschichte im kalifornischen Berkeley lehrt, und der Beck-Verlag natürlich auf das von Titel, Untertitel und Cover kräftig unterstrichene Thema der Peitschen und Flagellanten, welches erregende Lektüre - in appetitlich-kulturhistorischer Verpackung - verspricht. Wie es zu dieser auch in Deutschland nicht mehr ganz neuen Buchgattung des weiteren gehört, ist nicht gespart worden an Illustrationen.
Nach Kräften hat sich der Autor bemüht, das komplexe Thema auf eine einzige These, die These vom "Bühnen-Charakter" der Geißelungsszenen, zu reduzieren. Andererseits liegt dem Nachwuchswissenschaftler Largier natürlich auch daran, Modernitätspunkte bei der eigenen Zunft zu sammeln. Vor allem in seiner Einleitung fällt der Begriff des "Diskurses" so oft, daß selbst dem nur halb Eingeweihten Largiers gute Absicht fast bedrohlich nahe gebracht wird, sich an die von Michel Foucault begründete Tradition der Kulturgeschichtsschreibung anzuhängen. Dies bringt dann gleich die Verpflichtung mit sich, zu betonen, daß man - vor lauter Diskursen - den historischen Gegenstand selbst natürlich gar nicht greifen könne, sowie die für alle Literarhistoriker, welche sich - wie Largier - als Kulturhistoriker erproben wollen, willkommene Entschuldigung, daß es deshalb allein um Textgeschichte und nicht um Sachgeschichte gehen könne (womit oft ein etwas herablassender Verweis auf die philosophische Naivität des Glaubens an die Möglichkeit von "Sachgeschichte" verbunden ist).
Glücklicherweise jedoch sind dieses Buch und sein Autor um vieles besser, als seine doppelte - opulent populärwissenschaftliche und beflissen diskurswissenschaftliche - Präsentation zunächst befürchten läßt. Denn Niklaus Largier verbindet erstaunliche Belesenheit und eine (trotz des Foucault-Vorbehalts) solide Sachkenntnis, die weit über das Mittelalter hinausgeht, mit einem bemerkenswerten Darstellungstalent, dem es zu verdanken ist, daß die Klarheit in der Beschreibung komplexer Phänomene der primären Faszinationskraft dieser Phänomene nie abträglich wird. Der geneigte Laie wie die Kollegin aus der Universitätsgermanistik werden bei der Lektüre nicht zuletzt deshalb auf ihre Kosten kommen, weil Largier dem zunächst erschreckend monolithisch aussehenden Thema eine reiche historische Variationsbreite abgewinnt.
Konvergenzpunkt für die Vielfalt der evozierten und analysierten Phänomene sind zum einen selbstredend die Peitsche und das Peitschen, wobei dem Autor eine Abgrenzung zwischen den Ritualen des Peitschens und anderen Formen von Körperberührung und Körpererregung wahrscheinlich zu noch klarerer Themenkonturierung verholfen hätte. Was nämlich den Gestus des Peitschens und seinen kulturellen Stellenwert ausmacht, so scheint er durch die relative Oberflächlichkeit und mithin durch den vorübergehenden Status der dem Köper zugefügten Verletzungen und Stimulationen bestimmt - was die Flagellation absetzt von der in ihren Folgen unumkehrbaren Penetration einer Körperoberfläche. Largier ist aber mehr an der Theatralität des Peitschens gelegen als an seiner Wirkung auf den Körper des Gepeitschten: "Wo die Peitsche erhoben wird, stehen wir vor einer Bühne", heißt es schon im Klappentext. Das will der Autor in dem zweifachen Sinn verstanden wissen, daß Peitschenhiebe sowohl die Imagination des von der Peitsche Getroffenen als auch die voyeuristischen Instinkte der, wie er glaubt, stets und notwendig anwesenden Zuschauer anregen. Und so genau erklärt sich die Bedeutung des im Untertitel erwähnten und für die Homogenität dieses Buchs ausschlaggebenden Begriffs der "Erregung".
Wir alle wissen aus eigener Erfahrung, daß unsere Phantasien - und nicht allein unsere sexuellen Phantasien - gewisse Körperreaktionen auslösen können und daß umgekehrt gewisse Körperbewegungen und Körperberührungen imaginationsfördernd wirken. Aber so vertraut diese doppelseitige Erfahrung einerseits ist, so sehr hat sie sich andererseits bis heute allen Versuchen der Theoretisierung und der begrifflichen Fassonierung entzogen. Und das gilt zumindest dann auch weiterhin, wenn man Largier in dem Urteil zustimmt, daß Theorien und Begriffe Freudscher Inspiration die Komplexität und die historische Vielfalt dieses Themas auf ein allzu enges Erklärungsparadigma festlegen würden. Vielleicht ist es genau das Eingeständnis einer Grenze in den Möglichkeiten seiner wissenschaftlichen Behandlung, welches das besondere intellektuelle Interesse am Thema der Flagellation ausmacht. Eben wegen dieser Grenze jedenfalls gibt es keine Alternative zu einer entschieden historischen Behandlung der von Peitschen provozierten Erregung.
Largier erzählt drei Geschichten, die tendenziell (aber doch mit deutlichen Überlappungen) chronologisch angeordnet sind und die sich - um bei Foucaults Terminologie zu bleiben - auf drei verschiedene Diskurse beziehen: auf "Askese" (mit Schwerpunkt im späten Mittelalter), auf "Erotik" (vor allem im Blick auf die Zeit vom siebzehnten bis zum neunzehnten Jahrhundert) und auf "Therapeutik" (einen Diskurs mit antiken Ursprüngen, der aber erst im neunzehnten Jahrhundert dominant wird). Spätestens seit dem elften Jahrhundert, so erfahren wir, hatte die Flagellation einen festen Ort in der täglichen Disziplin des christlichen Klosterlebens. Primär wurde sie verstanden als eine Kasteiung des durch jede Versuchung gefährdeten Körpers - aber es gehört zu den Glanzpunkten in seinem Askese-Kapitel, daß Largier eine entscheidende Ambivalenz herausarbeitet: als Teil der Nachfolge im Leiden Christi - ist die asketische Auspeitschung immer auch Affirmation des Körpers, worin sie der Praxis der Körperstigmatisierung in der Nachahmung der Wundmale Christi ähnelt. Schwierigkeiten hat der Autor allerdings damit, im Mittelalter-Teil seines Buchs die Universalthese von der Theatralität der Auspeitschung plausibel zu machen. Denn selbst die in mehreren Wellen während des dreizehnten und vierzehnten Jahrhunderts über Europa hereinbrechenden Flagellantenprozessionen folgten zwar gewissen Choreographien - aber die These, daß sie primär für ein Publikum inszeniert gewesen seien, scheint doch etwas weit hergeholt. Das ändert sich dann in jenen Jahrzehnten, welche wir heute als die historische Schwelle vom späten Mittelalter zur frühen Neuzeit ansehen. Nicht nur war der Reformator Martin Luther einer der ersten Theologen, der Geißelung und Selbstgeißelung als Frömmigkeitspraktiken explizit und ohne Konzessionen ablehnte. Eben in seiner Zeit erstarrten Flagellantenrituale auch immer wieder zu "lebenden Bildern", die nun ohne Zweifel Zuschauerblicke auf sich ziehen wollten.
Dies markiert in Largiers Geschichte den Beginn des Zeitalters der "Erotik", in dem sich nun tatsächlich die Erregung durch den Zuschauerblick auf selbstauferlegte Kasteiung zu einem Stimulans entwickelt, welches der Erregung durch Kasteiung selbst gleichkommt. Kein Priester entrinnt deshalb in den Romanen des späten achtzehnten Jahrhunderts dem Verdacht des (ihn sozusagen "heimlich" beobachtenden) Lesers, seine spirituelle Autorität zu gewaltsamer Sexualität zu mißbrauchen. Nicht umsonst mühen sich die flagellationsbesessenen Protagonisten in den Texten des Marquis de Sade rund um die Uhr damit ab, Peitschenhiebe, Ejakulationen und Orgasmen in hochkomplexen, ja geradezu mathematisierten "tableaux" zu koordinieren.
Während sich die Kulisse dieser europäisch-obsessiven Phantasien nach 1800 von Frankreich nach England verschiebt (wobei es sich erneut als eine Stärke von Largier erweist, daß er diese historische Entwicklung einfach im Detail beschreibt, ohne sie unter eine forcierte Hypothese zu pressen), legt sich der am Horizont immer schon präsente Diskurs der "Therapeutik" über die asketischen und erotischen Faszinationen des Flagellantentums. Ein auf Reproduktion in der bürgerlichen Ehe zentriertes "Paradigma der Sexualität" scheint die erotische Imagination und am Ende auch noch die meisten Praktiken der Körperaffirmation gelähmt zu haben. Allein als wohldosierte - kompensatorische - Therapie und als therapiebedürftige Pathologie können das Peitschen und das Gepeitschtwerden seither noch in den Blick unserer Kultur kommen. Soweit Niklaus Largiers am Ende erstaunlich gelungener Balanceakt, der wohl die Faszination von kulturhistorischen Laien ebenso wecken und wachhalten wird wie das Interesse der wissenschaftlichen Leser.
Aus wissenschaftlicher Perspektive kann man natürlich immer über die Möglichkeit spekulieren (und das macht unsere interessantesten Debatten aus), wie sich dieselben Befunde anders deuten und zu einer anderen historischen Erzählung hätten konfigurieren lassen. Welche Geschichte wäre zum Beispiel entstanden, wenn Largier seine Zentralthese von der Theatralität der Flagellation etwas weniger konsequent durchgepeitscht, wenn er sich also etwas mehr Distanz gegenüber dieser Perspektive gestattet hätte? Solche Distanz hätte es ihm wohl - erstens - gestattet, das Flagellantentum des Mittelalters als eine religiöse Praxis innerhalb des Paradigmas der Herstellung von "Realpräsenz" zu sehen. Die obsessive Verkörperung der Geißelungsepisode aus der Passion Christi wäre unter dieser Perspektive zu einem Dispositiv ihrer realen Wieder-Vergegenwärtigung (im wörtlichen Sinn) geworden - innerhalb der die Imitatio Christi ausmachenden Ambivalenz zwischen auf Distanz bleibender Nachfolge und Identität mit Christus als Vorbild herstellender Nachahmung.
Davon hätten sich - zweitens - die Peitschenhiebe in den Jahrhunderten seit der frühen Neuzeit abheben lassen als Rituale im "Zeitalter des Weltbilds" (wie Martin Heidegger die Neuzeit einmal gedeutet hat), das heißt: als Rituale einer Kultur, in der sich die Menschen nicht mehr als Teil der göttlichen Schöpfung verstehen, sondern als Beobachter einer Welt, welche ihnen als ein "Weltbild" gegenübersteht. Dieser Paradigmawechsel von der "Realpräsenz" zum "Weltbild" könnte unter anderem erklären, warum in der modernen Welt - wie seit Jacques Lacan die intellektuellen Spatzen von den Dächern pfeifen - das auf den Anderen gerichtete sexuelle Begehren unweigerlich an das Begehren gebunden ist, selbst vom Anderen als Objekt seiner Begierde gesehen zu werden.
In der Flagellantenepisode aus dem Roman von der "Wiedergefundenen Zeit" am Ende von Marcel Prousts Romanzyklus "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit", mit der Largier sein Buch zum "Lob der Peitsche" beschließt, kommen diese beiden Paradigmen zusammen. Unter den Schmerzen der Peitschenhiebe, die er in einem Schwulenbordell kauft, wird dem Baron de Charlus das Objekt seines sexuellen Begehrens gegenwärtig - und zugleich genießt er es, selbst als Bild des Ausgepeitschten solches Begehren zu wecken. Zu den Zuschauern solcher Szenerien werden sich nun auch Niklaus Largiers Leser gesellen können.
Niklaus Largier: "Lob der Peitsche". Eine Kulturgeschichte der Erregung. Verlag C.H. Beck, München 2001. 440 S., 51 Abb., geb., 58,90 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Niklaus Largier läßt die Peitsche rauf und runter knallen / Von Hans Ulrich Gumbrecht
Nichts haben Verlag und Autor dieser Kulturgeschichte unversucht gelassen, um das Interesse und die Gunst einer möglichst breiten Leserschaft zu gewinnen. Vor allem setzen Niklaus Largier, der mittelalterliche deutsche Literaturgeschichte im kalifornischen Berkeley lehrt, und der Beck-Verlag natürlich auf das von Titel, Untertitel und Cover kräftig unterstrichene Thema der Peitschen und Flagellanten, welches erregende Lektüre - in appetitlich-kulturhistorischer Verpackung - verspricht. Wie es zu dieser auch in Deutschland nicht mehr ganz neuen Buchgattung des weiteren gehört, ist nicht gespart worden an Illustrationen.
Nach Kräften hat sich der Autor bemüht, das komplexe Thema auf eine einzige These, die These vom "Bühnen-Charakter" der Geißelungsszenen, zu reduzieren. Andererseits liegt dem Nachwuchswissenschaftler Largier natürlich auch daran, Modernitätspunkte bei der eigenen Zunft zu sammeln. Vor allem in seiner Einleitung fällt der Begriff des "Diskurses" so oft, daß selbst dem nur halb Eingeweihten Largiers gute Absicht fast bedrohlich nahe gebracht wird, sich an die von Michel Foucault begründete Tradition der Kulturgeschichtsschreibung anzuhängen. Dies bringt dann gleich die Verpflichtung mit sich, zu betonen, daß man - vor lauter Diskursen - den historischen Gegenstand selbst natürlich gar nicht greifen könne, sowie die für alle Literarhistoriker, welche sich - wie Largier - als Kulturhistoriker erproben wollen, willkommene Entschuldigung, daß es deshalb allein um Textgeschichte und nicht um Sachgeschichte gehen könne (womit oft ein etwas herablassender Verweis auf die philosophische Naivität des Glaubens an die Möglichkeit von "Sachgeschichte" verbunden ist).
Glücklicherweise jedoch sind dieses Buch und sein Autor um vieles besser, als seine doppelte - opulent populärwissenschaftliche und beflissen diskurswissenschaftliche - Präsentation zunächst befürchten läßt. Denn Niklaus Largier verbindet erstaunliche Belesenheit und eine (trotz des Foucault-Vorbehalts) solide Sachkenntnis, die weit über das Mittelalter hinausgeht, mit einem bemerkenswerten Darstellungstalent, dem es zu verdanken ist, daß die Klarheit in der Beschreibung komplexer Phänomene der primären Faszinationskraft dieser Phänomene nie abträglich wird. Der geneigte Laie wie die Kollegin aus der Universitätsgermanistik werden bei der Lektüre nicht zuletzt deshalb auf ihre Kosten kommen, weil Largier dem zunächst erschreckend monolithisch aussehenden Thema eine reiche historische Variationsbreite abgewinnt.
Konvergenzpunkt für die Vielfalt der evozierten und analysierten Phänomene sind zum einen selbstredend die Peitsche und das Peitschen, wobei dem Autor eine Abgrenzung zwischen den Ritualen des Peitschens und anderen Formen von Körperberührung und Körpererregung wahrscheinlich zu noch klarerer Themenkonturierung verholfen hätte. Was nämlich den Gestus des Peitschens und seinen kulturellen Stellenwert ausmacht, so scheint er durch die relative Oberflächlichkeit und mithin durch den vorübergehenden Status der dem Köper zugefügten Verletzungen und Stimulationen bestimmt - was die Flagellation absetzt von der in ihren Folgen unumkehrbaren Penetration einer Körperoberfläche. Largier ist aber mehr an der Theatralität des Peitschens gelegen als an seiner Wirkung auf den Körper des Gepeitschten: "Wo die Peitsche erhoben wird, stehen wir vor einer Bühne", heißt es schon im Klappentext. Das will der Autor in dem zweifachen Sinn verstanden wissen, daß Peitschenhiebe sowohl die Imagination des von der Peitsche Getroffenen als auch die voyeuristischen Instinkte der, wie er glaubt, stets und notwendig anwesenden Zuschauer anregen. Und so genau erklärt sich die Bedeutung des im Untertitel erwähnten und für die Homogenität dieses Buchs ausschlaggebenden Begriffs der "Erregung".
Wir alle wissen aus eigener Erfahrung, daß unsere Phantasien - und nicht allein unsere sexuellen Phantasien - gewisse Körperreaktionen auslösen können und daß umgekehrt gewisse Körperbewegungen und Körperberührungen imaginationsfördernd wirken. Aber so vertraut diese doppelseitige Erfahrung einerseits ist, so sehr hat sie sich andererseits bis heute allen Versuchen der Theoretisierung und der begrifflichen Fassonierung entzogen. Und das gilt zumindest dann auch weiterhin, wenn man Largier in dem Urteil zustimmt, daß Theorien und Begriffe Freudscher Inspiration die Komplexität und die historische Vielfalt dieses Themas auf ein allzu enges Erklärungsparadigma festlegen würden. Vielleicht ist es genau das Eingeständnis einer Grenze in den Möglichkeiten seiner wissenschaftlichen Behandlung, welches das besondere intellektuelle Interesse am Thema der Flagellation ausmacht. Eben wegen dieser Grenze jedenfalls gibt es keine Alternative zu einer entschieden historischen Behandlung der von Peitschen provozierten Erregung.
Largier erzählt drei Geschichten, die tendenziell (aber doch mit deutlichen Überlappungen) chronologisch angeordnet sind und die sich - um bei Foucaults Terminologie zu bleiben - auf drei verschiedene Diskurse beziehen: auf "Askese" (mit Schwerpunkt im späten Mittelalter), auf "Erotik" (vor allem im Blick auf die Zeit vom siebzehnten bis zum neunzehnten Jahrhundert) und auf "Therapeutik" (einen Diskurs mit antiken Ursprüngen, der aber erst im neunzehnten Jahrhundert dominant wird). Spätestens seit dem elften Jahrhundert, so erfahren wir, hatte die Flagellation einen festen Ort in der täglichen Disziplin des christlichen Klosterlebens. Primär wurde sie verstanden als eine Kasteiung des durch jede Versuchung gefährdeten Körpers - aber es gehört zu den Glanzpunkten in seinem Askese-Kapitel, daß Largier eine entscheidende Ambivalenz herausarbeitet: als Teil der Nachfolge im Leiden Christi - ist die asketische Auspeitschung immer auch Affirmation des Körpers, worin sie der Praxis der Körperstigmatisierung in der Nachahmung der Wundmale Christi ähnelt. Schwierigkeiten hat der Autor allerdings damit, im Mittelalter-Teil seines Buchs die Universalthese von der Theatralität der Auspeitschung plausibel zu machen. Denn selbst die in mehreren Wellen während des dreizehnten und vierzehnten Jahrhunderts über Europa hereinbrechenden Flagellantenprozessionen folgten zwar gewissen Choreographien - aber die These, daß sie primär für ein Publikum inszeniert gewesen seien, scheint doch etwas weit hergeholt. Das ändert sich dann in jenen Jahrzehnten, welche wir heute als die historische Schwelle vom späten Mittelalter zur frühen Neuzeit ansehen. Nicht nur war der Reformator Martin Luther einer der ersten Theologen, der Geißelung und Selbstgeißelung als Frömmigkeitspraktiken explizit und ohne Konzessionen ablehnte. Eben in seiner Zeit erstarrten Flagellantenrituale auch immer wieder zu "lebenden Bildern", die nun ohne Zweifel Zuschauerblicke auf sich ziehen wollten.
Dies markiert in Largiers Geschichte den Beginn des Zeitalters der "Erotik", in dem sich nun tatsächlich die Erregung durch den Zuschauerblick auf selbstauferlegte Kasteiung zu einem Stimulans entwickelt, welches der Erregung durch Kasteiung selbst gleichkommt. Kein Priester entrinnt deshalb in den Romanen des späten achtzehnten Jahrhunderts dem Verdacht des (ihn sozusagen "heimlich" beobachtenden) Lesers, seine spirituelle Autorität zu gewaltsamer Sexualität zu mißbrauchen. Nicht umsonst mühen sich die flagellationsbesessenen Protagonisten in den Texten des Marquis de Sade rund um die Uhr damit ab, Peitschenhiebe, Ejakulationen und Orgasmen in hochkomplexen, ja geradezu mathematisierten "tableaux" zu koordinieren.
Während sich die Kulisse dieser europäisch-obsessiven Phantasien nach 1800 von Frankreich nach England verschiebt (wobei es sich erneut als eine Stärke von Largier erweist, daß er diese historische Entwicklung einfach im Detail beschreibt, ohne sie unter eine forcierte Hypothese zu pressen), legt sich der am Horizont immer schon präsente Diskurs der "Therapeutik" über die asketischen und erotischen Faszinationen des Flagellantentums. Ein auf Reproduktion in der bürgerlichen Ehe zentriertes "Paradigma der Sexualität" scheint die erotische Imagination und am Ende auch noch die meisten Praktiken der Körperaffirmation gelähmt zu haben. Allein als wohldosierte - kompensatorische - Therapie und als therapiebedürftige Pathologie können das Peitschen und das Gepeitschtwerden seither noch in den Blick unserer Kultur kommen. Soweit Niklaus Largiers am Ende erstaunlich gelungener Balanceakt, der wohl die Faszination von kulturhistorischen Laien ebenso wecken und wachhalten wird wie das Interesse der wissenschaftlichen Leser.
Aus wissenschaftlicher Perspektive kann man natürlich immer über die Möglichkeit spekulieren (und das macht unsere interessantesten Debatten aus), wie sich dieselben Befunde anders deuten und zu einer anderen historischen Erzählung hätten konfigurieren lassen. Welche Geschichte wäre zum Beispiel entstanden, wenn Largier seine Zentralthese von der Theatralität der Flagellation etwas weniger konsequent durchgepeitscht, wenn er sich also etwas mehr Distanz gegenüber dieser Perspektive gestattet hätte? Solche Distanz hätte es ihm wohl - erstens - gestattet, das Flagellantentum des Mittelalters als eine religiöse Praxis innerhalb des Paradigmas der Herstellung von "Realpräsenz" zu sehen. Die obsessive Verkörperung der Geißelungsepisode aus der Passion Christi wäre unter dieser Perspektive zu einem Dispositiv ihrer realen Wieder-Vergegenwärtigung (im wörtlichen Sinn) geworden - innerhalb der die Imitatio Christi ausmachenden Ambivalenz zwischen auf Distanz bleibender Nachfolge und Identität mit Christus als Vorbild herstellender Nachahmung.
Davon hätten sich - zweitens - die Peitschenhiebe in den Jahrhunderten seit der frühen Neuzeit abheben lassen als Rituale im "Zeitalter des Weltbilds" (wie Martin Heidegger die Neuzeit einmal gedeutet hat), das heißt: als Rituale einer Kultur, in der sich die Menschen nicht mehr als Teil der göttlichen Schöpfung verstehen, sondern als Beobachter einer Welt, welche ihnen als ein "Weltbild" gegenübersteht. Dieser Paradigmawechsel von der "Realpräsenz" zum "Weltbild" könnte unter anderem erklären, warum in der modernen Welt - wie seit Jacques Lacan die intellektuellen Spatzen von den Dächern pfeifen - das auf den Anderen gerichtete sexuelle Begehren unweigerlich an das Begehren gebunden ist, selbst vom Anderen als Objekt seiner Begierde gesehen zu werden.
In der Flagellantenepisode aus dem Roman von der "Wiedergefundenen Zeit" am Ende von Marcel Prousts Romanzyklus "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit", mit der Largier sein Buch zum "Lob der Peitsche" beschließt, kommen diese beiden Paradigmen zusammen. Unter den Schmerzen der Peitschenhiebe, die er in einem Schwulenbordell kauft, wird dem Baron de Charlus das Objekt seines sexuellen Begehrens gegenwärtig - und zugleich genießt er es, selbst als Bild des Ausgepeitschten solches Begehren zu wecken. Zu den Zuschauern solcher Szenerien werden sich nun auch Niklaus Largiers Leser gesellen können.
Niklaus Largier: "Lob der Peitsche". Eine Kulturgeschichte der Erregung. Verlag C.H. Beck, München 2001. 440 S., 51 Abb., geb., 58,90 DM.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Olaf B. Rader findet an Niklaus Largiers "Lob der Peitsche" viel Gefallen. Die detaillierte kulturgeschichtliche Studie behandle mit der Peitsche einen kulturhistorischen Gegenstand, an dem sich immer wiederkehrende menschliche Phänomene verdeutlichen lassen: die Inszenierungen des Körpers und die Erregung der Phantasie. Die "Rezensentenpeitsche" gebraucht Rader nur gegen kleinere Punkte. Kritisch befragt er Largies Begriff der "Öffentlichkeit" und zweifelt daran, dass von den Geißlern keine sozialrevolutionäre Wirkungen - etwa auf die Bauernkriege - ausgingen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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