"Das Risiko ist der alles entscheidende Augenblick." Anne Dufourmantelle.Im Risiko, im Unvorhersehbaren liegt eine ungeahnte Kraft. Wenn wir etwas wagen, ohne zu wissen, wo es uns hinführt, können wir nur gewinnen: Handlungsräume, Kreativität und Selbstbestimmung. Das größte Risiko unseres Lebens ist und bleibt die Liebe. Die Philosophin und Psychoanalytikerin Anne Dufourmantelle hat stets nach dieser Maxime gelebt. Als sie im Sommer 2017 zwei Kinder vor dem Ertrinken rettete, hat sie ihr eigenes Leben riskiert - und verloren. Dieses Buch ist ihr Appell, die Fenster aufzureißen, um das Ungewisse in unser Leben zu lassen."Ihre Worte, ihre Intelligenz, ihre Sanftheit werden uns fehlen, weil sie uns halfen, das Risiko einzugehen, sich anderen und der Welt gegenüber zu öffnen." Libération."In ihren Arbeiten verband Dufourmantelle auf vornehmste Art philosophisches Denken mit gesellschaftlicher Realität." Süddeutsche Zeitung.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.09.2018Statt der Gewissheiten
Anne Dufourmantelle sinnt dem Risiko nach
Am 21. Juli 2017 erlag die französische Philosophin und Psychoanalytikerin Anne Dufourmantelle einem Herzstillstand, nachdem sie zwei ertrinkende Kinder zu retten versucht hatte. In keinem der zahlreichen Nachrufe, die ihr auch hierzulande gewidmet wurden, versäumte man es, diesen Tod als Beglaubigung ihres Philosophierens zu deuten. Sie selbst hätte diese Lust an der Verklärung wohl am wenigsten geteilt.
Eine der zentralen Fragen, die sie in ihrem 2011 auf Französisch und nun auch auf Deutsch erschienenen "Lob des Risikos" stellte, lautet gerade, warum wir nur noch in der Lage sind, das Risiko zu denken, indem wir es "zu einem heldenhaften Akt, zu purem Irrsinn, zu einem abweichenden Verhalten" erklären. Die Heroisierung des Risikos, so zeigt sie, ist lediglich die Kehrseite seiner Pathologisierung. Derart entlarvt sie beide Auffassungen als falsche Alternativen, die stets auf dasselbe hinauslaufen: den Ausschluss des Ungewissen zugunsten eines Phantasmas der absoluten Sicherheit, des "Null-Risikos".
Von diesem Phantasma sah Dufourmantelle die westlichen Gesellschaften schon vor sieben Jahren zunehmend beherrscht. Programme und Prognosen, Kalküle und Präventionen entsprächen dem Wunsch nach größtmöglicher Berechenbarkeit. Obwohl das Leben durch diese Verwaltung des Zufalls immer sicherer werde, verschwinde die Angst keineswegs. Im Gegenteil: Die Bereitschaft jedes Einzelnen wachse, sich einer "freiwilligen Knechtschaft durch Sicherheitsnormen und Überwachung" zu unterwerfen. Die Ursache dafür erblickt Dufourmantelle in einer Spaltung des Subjekts, die mit dem Verlust an persönlicher Verantwortung innerhalb der "Vorsehungsgesellschaft" einhergehe: Ein triebgesteuertes Wesen, das nach Freiheit verlange, ohne deren Folgen übernehmen zu wollen, und mithin vor sich selbst geschützt werden müsse, stehe einem vernunftgeleiteten Wesen, das nie sicher genug gehen könne, vermittlungslos gegenüber.
Die erträumte Stabilität sei jedoch auf gesellschaftlicher wie individueller Ebene nur um den Preis einer inneren Verödung, einer Wiederkehr des Immergleichen zu haben. Sein Leben zu riskieren heißt für Dufourmantelle daher in erster Linie, "sich dem Sterben zu verweigern: einem Sterben zu Lebzeiten", das aus der langsamen Erstarrung in alltäglichen Zwängen und Gewohnheiten resultiere. Vor diesem Hintergrund deutet sie das Risiko als das Gegenteil der Neurose, dieser "geduldigen Ökonomie des Wartens und des Verzichts", die keinen Raum für eine Zukunft lasse, die anders wäre als die wiederum nach den vergangenen Erfahrungen geformte Gegenwart. Erst das Risiko eröffne als "positives Trauma" ein anderes Zeitgefüge, das in der Gerichtetheit auf das Kommende auch in der Vergangenheit einen "Vorrat an Freiheit" offenbare. Ein solcher Begriff des Risikos hat weniger mit einer wagemutigen Tat als mit einer inneren Haltung, einem Bewusstsein der Vorläufigkeit jeder Gewissheit zu tun, das seinen besten Ausdruck in der Leichtigkeit des Humors oder in den Kaprizen einer "süßen Unverschämtheit" findet.
Die über fünfzig, oftmals nur wenige Seiten umfassenden Kapitel, in denen Dufourmantelle die Bereitschaft zum Risiko erkundet, decken ein weites Spektrum bisweilen unerwarteter Phänomene ab: Nicht nur von der Liebe, dieser "Kunst der Abhängigkeit", ist die Rede, sondern auch vom Risiko der Einsamkeit, des Geistes oder des Zeitverlierens. Der antike Mythos der Eurydike bildet ebenso einen ihrer Bezugspunkte wie das Denken von Kierkegaard, Levinas und Maurice Blanchot. Diese theoretischen Ausführungen verwebt Dufourmantelle mit literarisch stilisierten Fallberichten aus ihrer Tätigkeit als Analytikerin. Den Bezug zwischen diesen auch typographisch voneinander abgegrenzten Textebenen zu finden bleibt dem Leser überlassen.
Dufourmantelle setzt nicht auf starke Thesen oder eingängige Formulierungen, und trotz seiner lebensbezogenen Problematik gehört ihr Buch, anders als es der Titel oder die Gestaltung des Umschlags suggerieren könnten, nicht zur Ratgeberliteratur. Dazu könnte schon ihre die Denkbewegung mehr andeutende als nachzeichnende, Theorie und Poesie mutwillig vermischende Schreibweise manch einem Konsumenten dieses Genres zu ätherisch anmuten. Jene gleichschwebende Aufmerksamkeit, die Freud zum Prinzip der psychoanalytischen Kur erklärte, wird hier Sprache. Das gewollt Unscharfe zu übersetzen, ohne ins Beliebige abzugleiten oder ihm eine Eindeutigkeit zu verleihen, die es im Original nicht hat, ist dabei ein Risiko ganz eigener Art. Die Übersetzerin Nicola Denis hat es mit sicherer Hand gemeistert.
MAXIMILIAN GILLESSEN
Anne Dufourmantelle: "Lob des Risikos". Ein Plädoyer für das Ungewisse.
Aus dem Französischen von Nicola Denis. Aufbau Verlag, Berlin 2018. 320 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Anne Dufourmantelle sinnt dem Risiko nach
Am 21. Juli 2017 erlag die französische Philosophin und Psychoanalytikerin Anne Dufourmantelle einem Herzstillstand, nachdem sie zwei ertrinkende Kinder zu retten versucht hatte. In keinem der zahlreichen Nachrufe, die ihr auch hierzulande gewidmet wurden, versäumte man es, diesen Tod als Beglaubigung ihres Philosophierens zu deuten. Sie selbst hätte diese Lust an der Verklärung wohl am wenigsten geteilt.
Eine der zentralen Fragen, die sie in ihrem 2011 auf Französisch und nun auch auf Deutsch erschienenen "Lob des Risikos" stellte, lautet gerade, warum wir nur noch in der Lage sind, das Risiko zu denken, indem wir es "zu einem heldenhaften Akt, zu purem Irrsinn, zu einem abweichenden Verhalten" erklären. Die Heroisierung des Risikos, so zeigt sie, ist lediglich die Kehrseite seiner Pathologisierung. Derart entlarvt sie beide Auffassungen als falsche Alternativen, die stets auf dasselbe hinauslaufen: den Ausschluss des Ungewissen zugunsten eines Phantasmas der absoluten Sicherheit, des "Null-Risikos".
Von diesem Phantasma sah Dufourmantelle die westlichen Gesellschaften schon vor sieben Jahren zunehmend beherrscht. Programme und Prognosen, Kalküle und Präventionen entsprächen dem Wunsch nach größtmöglicher Berechenbarkeit. Obwohl das Leben durch diese Verwaltung des Zufalls immer sicherer werde, verschwinde die Angst keineswegs. Im Gegenteil: Die Bereitschaft jedes Einzelnen wachse, sich einer "freiwilligen Knechtschaft durch Sicherheitsnormen und Überwachung" zu unterwerfen. Die Ursache dafür erblickt Dufourmantelle in einer Spaltung des Subjekts, die mit dem Verlust an persönlicher Verantwortung innerhalb der "Vorsehungsgesellschaft" einhergehe: Ein triebgesteuertes Wesen, das nach Freiheit verlange, ohne deren Folgen übernehmen zu wollen, und mithin vor sich selbst geschützt werden müsse, stehe einem vernunftgeleiteten Wesen, das nie sicher genug gehen könne, vermittlungslos gegenüber.
Die erträumte Stabilität sei jedoch auf gesellschaftlicher wie individueller Ebene nur um den Preis einer inneren Verödung, einer Wiederkehr des Immergleichen zu haben. Sein Leben zu riskieren heißt für Dufourmantelle daher in erster Linie, "sich dem Sterben zu verweigern: einem Sterben zu Lebzeiten", das aus der langsamen Erstarrung in alltäglichen Zwängen und Gewohnheiten resultiere. Vor diesem Hintergrund deutet sie das Risiko als das Gegenteil der Neurose, dieser "geduldigen Ökonomie des Wartens und des Verzichts", die keinen Raum für eine Zukunft lasse, die anders wäre als die wiederum nach den vergangenen Erfahrungen geformte Gegenwart. Erst das Risiko eröffne als "positives Trauma" ein anderes Zeitgefüge, das in der Gerichtetheit auf das Kommende auch in der Vergangenheit einen "Vorrat an Freiheit" offenbare. Ein solcher Begriff des Risikos hat weniger mit einer wagemutigen Tat als mit einer inneren Haltung, einem Bewusstsein der Vorläufigkeit jeder Gewissheit zu tun, das seinen besten Ausdruck in der Leichtigkeit des Humors oder in den Kaprizen einer "süßen Unverschämtheit" findet.
Die über fünfzig, oftmals nur wenige Seiten umfassenden Kapitel, in denen Dufourmantelle die Bereitschaft zum Risiko erkundet, decken ein weites Spektrum bisweilen unerwarteter Phänomene ab: Nicht nur von der Liebe, dieser "Kunst der Abhängigkeit", ist die Rede, sondern auch vom Risiko der Einsamkeit, des Geistes oder des Zeitverlierens. Der antike Mythos der Eurydike bildet ebenso einen ihrer Bezugspunkte wie das Denken von Kierkegaard, Levinas und Maurice Blanchot. Diese theoretischen Ausführungen verwebt Dufourmantelle mit literarisch stilisierten Fallberichten aus ihrer Tätigkeit als Analytikerin. Den Bezug zwischen diesen auch typographisch voneinander abgegrenzten Textebenen zu finden bleibt dem Leser überlassen.
Dufourmantelle setzt nicht auf starke Thesen oder eingängige Formulierungen, und trotz seiner lebensbezogenen Problematik gehört ihr Buch, anders als es der Titel oder die Gestaltung des Umschlags suggerieren könnten, nicht zur Ratgeberliteratur. Dazu könnte schon ihre die Denkbewegung mehr andeutende als nachzeichnende, Theorie und Poesie mutwillig vermischende Schreibweise manch einem Konsumenten dieses Genres zu ätherisch anmuten. Jene gleichschwebende Aufmerksamkeit, die Freud zum Prinzip der psychoanalytischen Kur erklärte, wird hier Sprache. Das gewollt Unscharfe zu übersetzen, ohne ins Beliebige abzugleiten oder ihm eine Eindeutigkeit zu verleihen, die es im Original nicht hat, ist dabei ein Risiko ganz eigener Art. Die Übersetzerin Nicola Denis hat es mit sicherer Hand gemeistert.
MAXIMILIAN GILLESSEN
Anne Dufourmantelle: "Lob des Risikos". Ein Plädoyer für das Ungewisse.
Aus dem Französischen von Nicola Denis. Aufbau Verlag, Berlin 2018. 320 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Dufourmantelles Buch ist eine Poesie. Ein Leserisiko, das sich einzugehen lohnt.« ORF 20181016