Worin besteht die Faszination des Sports? Ist es die extreme körperliche Leistung, der spannende Wettbewerb oder gar die Sehnsucht nach Schönheit und Vollendung, die uns zu Bewunderern von Sportlern wie Jesse Owens und Pele macht? - Hans Ulrich Gumbrecht untersucht ein markantes Phänomen unserer Tage und beschreibt Augenblicke eigener Faszination: "Dieses Buch habe ich geschrieben, um meine berufliche Welt, die Welt der Gedanken und ihrer Geschichte, jener Welt näherzubringen, die mich außerhalb meines Berufs am stärksten fasziniert, der Welt des Sports und der Stadien. Dabei wollte ich es vermeiden, aus jener Perspektive zu schreiben, die seit langem für westliche Intellektuelle die typische - vielleicht die einzige - Perspektive des Schreibens und des Denkens geworden ist. Statt 'kritisch' oder gar 'herablassend' zu schreiben, ging es darum, in der Analyse des Sports und seiner Faszination auch meine Dankbarkeit spüren zu lassen, für all die Momente der Intensität und des ästhetischen Genusses, den mir die Stunden im Stadion und die großen Sportler gegeben haben."
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.03.2005Körper, vereinigt euch!
Schön verklärt: Hans-Ulrich Gumbrecht spielt seine typische Intellektualität am Sportlerstammtisch aus / Von Dirk Schümer
Loben ist eine schöne Sache, behagt dem Lobenden, erfreut das Herz des Gelobten und verbreitet gute Laune beim Publikum - um so mehr, wenn das Objekt des Lobs das Lob auch verdient. Dennoch - oder vielleicht gerade wegen seiner affirmativen Eindeutigkeit - hat das Loben bei den zergliedernden Geisteswissenschaften, deren höchste Erfüllung die kantianischen Kritiken markieren, eine eher gebrochene Tradition. Wenn Wissenschaftler - man denke an das Genre der Laudatio - sich aus mehr oder weniger opportunistischen Gründen nicht gegenseitig loben, so ist reines Lob des richtigen Lebens nicht erst seit Adorno verpönt. Schon Erasmus von Rotterdams "Lob der Torheit" ist eine gesellschaftskritische Eulenspiegelei, deren ätzende Kritik nur ironischerweise im Gewand des Lobs daherkommt. Paraphrasiert der amerikanische Literaturwissenschaftler Hans-Ulrich Gumbrecht nun den erasmischen Titel durch ein "Lob des Sports", so könnte man gleichfalls eine höhnische Generalabrechnung mit dem agonalen Vergnügen erwarten, das als dubioses Phänomen der kapitalistischen Massenunterhaltung nicht erst seit Robert Hoyzer seine berechtigten Kritiker findet. Aber keine Bange, Gumbrecht meint es bitter ernst mit seiner Lobpreisung.
Er geht sogar mit der hyperkritischen Beckmesserei seiner Zunft ins Gericht, immer nur Abfälliges über populäre Phänomene wie den Sport zusammenzutragen: "Wenn Intellektuelle, selbst solche, die sich für Sport begeistern, über Sportler und Sportereignisse schreiben, dann fühlen sie sich meist verpflichtet, den Sport als Symptom höchst unerwünschter Funktionen und Tendenzen zu intepretieren." Gumbrecht, der im kalifornischen Stanford arbeitet und nebenbei viel Sport rezipiert, scheint bei dieser Rüge der Boom affirmativer Sporthudelei entgangen zu sein, die gerade bei Journalisten, Schriftstellern und Akademikern seit Jahren in Mode gekommen ist - so sehr, daß sich mancher Sportstar wie Günter Netzer euphorische Lesarten seiner Person (etwa als kickender Dutschke) ausdrücklich verbitten mußte. In Stanford immerhin, offenbar einem Refugium alteuropäischer Strenge des Intellekts, scheint die Sporthudelei der Intellektuellen noch nicht angekommen - oder eben erst jetzt mit dem wackeren Gumbrecht.
"Im besten Fall", wettert er, "versuchen uns Sozial- wie Humanwissenschaftler darüber aufzuklären, daß der Sport etwas anderes sei, als es den Anschein hat." Also: Opium fürs Volk, Absahnerei für überbezahlte Stars, Körperkult für Militaristen, Quotensegen für Medienmogule. Solche "Geste der Herablassung" indes sei Gumbrecht fern. Statt dessen erinnert er sich verzückt an die Glücksmomente, die gelungene Spielzüge in Base-, Foot-, Fußball oder Eishockey oft noch nach langen Jahren bei ihm auslösen. Diese wahrhaft utopischen Verheißungen, "daß wir als Zuschauer plötzlich eins werden können mit manchen dieser schön verklärten Körper", sind für den Autor bereits Grund genug, den Sport rundum klasse zu finden.
Dagegen ist wenig oder nichts einzuwenden, nur manövriert sich Gumbrecht damit in eine taktische Sackgasse. Zergliedern und zerreden möchte er die sakralen Gesten der Sporthistorie und -gegenwart keineswegs, aber einfach nur drauflosjubeln wie ein Fan nach dem entscheidenden Torschuß ist für ein Buch der Reihe "Bibliothek der Lebenskunst" auch ein bißchen mager. Pures Einverständnis, vor dem bereits Kants Ästhetik als "interesseloses Wohlgefallen" kapitulierte, bedarf eigentlich keiner langen Erklärung. Sport ist schön und daher beliebt, weil er schön und daher beliebt ist. Und ein Lob ist ein Lob ist ein Lob.
Gumbrecht insistiert mit der berechtigten Pose eines Zen-Weisen auf dem Augenblickscharakter sportlicher Epiphanien, deren Reiz unerklärbar bleibt und schon in dem Moment verfliegt, da sie passieren - darin vergleichbar der ewig verklingenden Schönheit der Musik. Aber wie die technische Reproduzierbarkeit von Klängen die Musik speicher- und wiederholbar gemacht hat, so gerinnt auch die Sportschönheit in den Fernsehbildern zu Geschichte. Wo waren wir, als Deutschland 1974 Fußball-Weltmeister wurde? In welchem kostbaren Hirnwinkel verwahren wir die Sprünge der kraftvollen Handball-Lgenden Hansi Schmidt oder Jo Deckarm? Wieso stellt unsere sonst so eilige Zeitwahrnehmung die Sekunden von Libudas Bogenlampe des Glasgower Europapokaltriumphs von Borussia Dortmund gegen Liverpool ähnlich still wie die des Kunstweitschusses seines Nachfolgers Ricken beim Sieg der Borussia der Champions League 1997?
Gumbrecht möchte die Weihe solch schöner Erinnerungen nicht stören, sondern evoziert sie lieber ausdauernd. Das beginnt mit Hymnen auf den Montrealer Eishockeytorhüter Patrick Roy, setzt sich fort über den mehr als massigen Sumo-Großmeister Akebono bis hin zu Gumbrechts Lieblingsfußballer Mané Garrincha, des krummbeinigen brasilianischen Linksaußen der späten fünfziger und frühen sechziger Glanzjahre. Gumbrechts Kenntnisse der Sporthistorie sind wirklich außergewöhnlich und vor allem außergewöhnlich breit gefächert. Er weiß von der spritzigen Anmut der rumänischen Turnerin Nadia Comaneci oder dem deutschen Dressurolympiaseriensieger Dr. Rainer Klimke ebenso zu schwärmen wie von der Boston-New Yorker Baseball-Legende Babe Ruth. Selbst für halb vergessene Idole wie den amerikanischen Turmspringer Greg Louganis oder das italienische Autorenn-As Tazio Nuvolari finden sich rühmende und sehr treffende Worte. An Gumbrecht ist wirklich ein großer Sportreporter in der Tradition von Herbert Zimmermann, Heinz-Florian Oertel oder Werner Hansch verlorengegangen, etwa wenn er die schlecht überlieferte Grazie des uruguayischen Fußballstars José Leandro Andrade als Schönheit des Unsichtbaren preist: "Das Bild vom Sportler Andrade ist wie das Bild, das wir vom Anfang des Universums haben. Noch immer empfangen wir Wellen einer außerordentlichen Erschütterung, die ohne Zweifel stattgefunden haben muß, aber wir haben diese Erschütterung nicht gesehen und werden sie auch nie sehen."
Das ist wunderschön gesagt - und widerlegt nebenbei Gumbrechts eigene, in Anbetracht des folgenden Buches merkwürdige Prämisse: "Erinnerungen sind im Sport sekundär." Denn aus was anderem besteht die Substanz dieses Traktates, wenn nicht aus Erinnerungen? Jeden Versuch einer systematischen Deutung sportlicher Faszination und sportlicher Schönheit bricht Gumbrecht im Keime ab, weil er ja gerade nicht zu den besserwisserischen Intellektuellen gehören möchte. Er rühmt halt gern. So gehören die stärksten, weil kundigsten Passagen dieser Laudatio zu den unerschöpflichen Weißt-du-noch-Geschichten, wie sie an jedem Sportlerstammtisch gepflegt werden. Für europäische Leser sind nur die Baseball-Anekdoten schwerer verständlich - nicht nur, weil man sie hierzulande nicht kennt, sondern weil auf den unamerikanischen Betrachter ein Baseball-Match etwa so spannend und ästhetisch wirkt wie eine Kakteenschau.
Warum sich aber ein halbes oder gerne auch ein ganzes Leben bequem in der Rückschau auf Gnadenmomente der Sporthistorie verbringen läßt, darauf hat Gumbrecht die Standard-Antworten der Sozialwissenschaften seit Huizinga und Caillois parat: Sportliche Höchstleistungen werden erbracht im Rahmen von kollektiven Zeremonien, bei denen sich Dinge ereignen, die eigentlich unmöglich erscheinen. Damit eignet dem Sport der Charakter des Religiösen. Die Epiphanien dieses Kultes gliedert Gumbrecht rudimentär in solche der Körperschönheit (Leichtathletik), des Todesmutes (Rennfahren, Boxen), der Eleganz (Turnen), des Rekords, der Unterwerfung unter Regeln (Turnen, Turmspringen, Eiskunstlauf) sowie Epiphanien der Form (wie sie bei Spielzügen aller Ballsportarten bis zum Eishockey aufscheinen).
Fast scheint es, als schrecke der Autor bereits vor diesen Zergliederungen zurück, schließlich bekennt er sympathischerweise, daß "der ausschließlich zerebrale Ton der akademisch-intellektuellen Welt, zu der ich gehöre (und deren typischer Vertreter ich vielleicht bin), mir schon seit geraumer Zeit auf die Nerven geht". Darum hält er es bei seinen Andeutungen und persönlichen Bekenntnissen zum Sport mit der bescheidenen (oder besonders weisen) Erkenntnis, daß der Sport vielleicht gerade darum so weltumspannend beliebt ist, weil er nichts bedeutet als sich selbst. Aber ob das reicht für ein ganzes Buch?
Wir haben es also hier eher mit dem Werk eines schwärmenden, beständig den eigenen Überschwang wiederholenden Mystikers als dem eines systematischen Theologen zu tun. Aber gerade weil Gumbrecht nichts Tiefgründiges über die Ökonomie, die Soziologie, die Philosophie des Sports verbreiten möchte, ist man als Leser am Ende so klug als wie zuvor. Daß Sport - wie meinetwegen Gärtnern, Sex, Vogelbeobachten, Computerspiele, Basteln - eine "Liebe zum Leben" ausdrückt, daß er - egal warum - einfach schön und spannend und faszinierend ist, daß mit ihm das Göttliche in die Welt hereinlugt und die Sportler einen Glücksmoment, "versunken in fokussierter Intensität", erleben, mag ja alles gut und richtig sein. Aber mit dem Loben des Sports ergeht es einem nicht anders als mit dem Sport selbst: Ungeübte sind bald erschöpft.
Hans-Ulrich Gumbrecht: "Lob des Sports". Aus dem Amerikanischen von Georg Deggerich. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2005. 176 S., geb., 16,90 [Euro].
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Schön verklärt: Hans-Ulrich Gumbrecht spielt seine typische Intellektualität am Sportlerstammtisch aus / Von Dirk Schümer
Loben ist eine schöne Sache, behagt dem Lobenden, erfreut das Herz des Gelobten und verbreitet gute Laune beim Publikum - um so mehr, wenn das Objekt des Lobs das Lob auch verdient. Dennoch - oder vielleicht gerade wegen seiner affirmativen Eindeutigkeit - hat das Loben bei den zergliedernden Geisteswissenschaften, deren höchste Erfüllung die kantianischen Kritiken markieren, eine eher gebrochene Tradition. Wenn Wissenschaftler - man denke an das Genre der Laudatio - sich aus mehr oder weniger opportunistischen Gründen nicht gegenseitig loben, so ist reines Lob des richtigen Lebens nicht erst seit Adorno verpönt. Schon Erasmus von Rotterdams "Lob der Torheit" ist eine gesellschaftskritische Eulenspiegelei, deren ätzende Kritik nur ironischerweise im Gewand des Lobs daherkommt. Paraphrasiert der amerikanische Literaturwissenschaftler Hans-Ulrich Gumbrecht nun den erasmischen Titel durch ein "Lob des Sports", so könnte man gleichfalls eine höhnische Generalabrechnung mit dem agonalen Vergnügen erwarten, das als dubioses Phänomen der kapitalistischen Massenunterhaltung nicht erst seit Robert Hoyzer seine berechtigten Kritiker findet. Aber keine Bange, Gumbrecht meint es bitter ernst mit seiner Lobpreisung.
Er geht sogar mit der hyperkritischen Beckmesserei seiner Zunft ins Gericht, immer nur Abfälliges über populäre Phänomene wie den Sport zusammenzutragen: "Wenn Intellektuelle, selbst solche, die sich für Sport begeistern, über Sportler und Sportereignisse schreiben, dann fühlen sie sich meist verpflichtet, den Sport als Symptom höchst unerwünschter Funktionen und Tendenzen zu intepretieren." Gumbrecht, der im kalifornischen Stanford arbeitet und nebenbei viel Sport rezipiert, scheint bei dieser Rüge der Boom affirmativer Sporthudelei entgangen zu sein, die gerade bei Journalisten, Schriftstellern und Akademikern seit Jahren in Mode gekommen ist - so sehr, daß sich mancher Sportstar wie Günter Netzer euphorische Lesarten seiner Person (etwa als kickender Dutschke) ausdrücklich verbitten mußte. In Stanford immerhin, offenbar einem Refugium alteuropäischer Strenge des Intellekts, scheint die Sporthudelei der Intellektuellen noch nicht angekommen - oder eben erst jetzt mit dem wackeren Gumbrecht.
"Im besten Fall", wettert er, "versuchen uns Sozial- wie Humanwissenschaftler darüber aufzuklären, daß der Sport etwas anderes sei, als es den Anschein hat." Also: Opium fürs Volk, Absahnerei für überbezahlte Stars, Körperkult für Militaristen, Quotensegen für Medienmogule. Solche "Geste der Herablassung" indes sei Gumbrecht fern. Statt dessen erinnert er sich verzückt an die Glücksmomente, die gelungene Spielzüge in Base-, Foot-, Fußball oder Eishockey oft noch nach langen Jahren bei ihm auslösen. Diese wahrhaft utopischen Verheißungen, "daß wir als Zuschauer plötzlich eins werden können mit manchen dieser schön verklärten Körper", sind für den Autor bereits Grund genug, den Sport rundum klasse zu finden.
Dagegen ist wenig oder nichts einzuwenden, nur manövriert sich Gumbrecht damit in eine taktische Sackgasse. Zergliedern und zerreden möchte er die sakralen Gesten der Sporthistorie und -gegenwart keineswegs, aber einfach nur drauflosjubeln wie ein Fan nach dem entscheidenden Torschuß ist für ein Buch der Reihe "Bibliothek der Lebenskunst" auch ein bißchen mager. Pures Einverständnis, vor dem bereits Kants Ästhetik als "interesseloses Wohlgefallen" kapitulierte, bedarf eigentlich keiner langen Erklärung. Sport ist schön und daher beliebt, weil er schön und daher beliebt ist. Und ein Lob ist ein Lob ist ein Lob.
Gumbrecht insistiert mit der berechtigten Pose eines Zen-Weisen auf dem Augenblickscharakter sportlicher Epiphanien, deren Reiz unerklärbar bleibt und schon in dem Moment verfliegt, da sie passieren - darin vergleichbar der ewig verklingenden Schönheit der Musik. Aber wie die technische Reproduzierbarkeit von Klängen die Musik speicher- und wiederholbar gemacht hat, so gerinnt auch die Sportschönheit in den Fernsehbildern zu Geschichte. Wo waren wir, als Deutschland 1974 Fußball-Weltmeister wurde? In welchem kostbaren Hirnwinkel verwahren wir die Sprünge der kraftvollen Handball-Lgenden Hansi Schmidt oder Jo Deckarm? Wieso stellt unsere sonst so eilige Zeitwahrnehmung die Sekunden von Libudas Bogenlampe des Glasgower Europapokaltriumphs von Borussia Dortmund gegen Liverpool ähnlich still wie die des Kunstweitschusses seines Nachfolgers Ricken beim Sieg der Borussia der Champions League 1997?
Gumbrecht möchte die Weihe solch schöner Erinnerungen nicht stören, sondern evoziert sie lieber ausdauernd. Das beginnt mit Hymnen auf den Montrealer Eishockeytorhüter Patrick Roy, setzt sich fort über den mehr als massigen Sumo-Großmeister Akebono bis hin zu Gumbrechts Lieblingsfußballer Mané Garrincha, des krummbeinigen brasilianischen Linksaußen der späten fünfziger und frühen sechziger Glanzjahre. Gumbrechts Kenntnisse der Sporthistorie sind wirklich außergewöhnlich und vor allem außergewöhnlich breit gefächert. Er weiß von der spritzigen Anmut der rumänischen Turnerin Nadia Comaneci oder dem deutschen Dressurolympiaseriensieger Dr. Rainer Klimke ebenso zu schwärmen wie von der Boston-New Yorker Baseball-Legende Babe Ruth. Selbst für halb vergessene Idole wie den amerikanischen Turmspringer Greg Louganis oder das italienische Autorenn-As Tazio Nuvolari finden sich rühmende und sehr treffende Worte. An Gumbrecht ist wirklich ein großer Sportreporter in der Tradition von Herbert Zimmermann, Heinz-Florian Oertel oder Werner Hansch verlorengegangen, etwa wenn er die schlecht überlieferte Grazie des uruguayischen Fußballstars José Leandro Andrade als Schönheit des Unsichtbaren preist: "Das Bild vom Sportler Andrade ist wie das Bild, das wir vom Anfang des Universums haben. Noch immer empfangen wir Wellen einer außerordentlichen Erschütterung, die ohne Zweifel stattgefunden haben muß, aber wir haben diese Erschütterung nicht gesehen und werden sie auch nie sehen."
Das ist wunderschön gesagt - und widerlegt nebenbei Gumbrechts eigene, in Anbetracht des folgenden Buches merkwürdige Prämisse: "Erinnerungen sind im Sport sekundär." Denn aus was anderem besteht die Substanz dieses Traktates, wenn nicht aus Erinnerungen? Jeden Versuch einer systematischen Deutung sportlicher Faszination und sportlicher Schönheit bricht Gumbrecht im Keime ab, weil er ja gerade nicht zu den besserwisserischen Intellektuellen gehören möchte. Er rühmt halt gern. So gehören die stärksten, weil kundigsten Passagen dieser Laudatio zu den unerschöpflichen Weißt-du-noch-Geschichten, wie sie an jedem Sportlerstammtisch gepflegt werden. Für europäische Leser sind nur die Baseball-Anekdoten schwerer verständlich - nicht nur, weil man sie hierzulande nicht kennt, sondern weil auf den unamerikanischen Betrachter ein Baseball-Match etwa so spannend und ästhetisch wirkt wie eine Kakteenschau.
Warum sich aber ein halbes oder gerne auch ein ganzes Leben bequem in der Rückschau auf Gnadenmomente der Sporthistorie verbringen läßt, darauf hat Gumbrecht die Standard-Antworten der Sozialwissenschaften seit Huizinga und Caillois parat: Sportliche Höchstleistungen werden erbracht im Rahmen von kollektiven Zeremonien, bei denen sich Dinge ereignen, die eigentlich unmöglich erscheinen. Damit eignet dem Sport der Charakter des Religiösen. Die Epiphanien dieses Kultes gliedert Gumbrecht rudimentär in solche der Körperschönheit (Leichtathletik), des Todesmutes (Rennfahren, Boxen), der Eleganz (Turnen), des Rekords, der Unterwerfung unter Regeln (Turnen, Turmspringen, Eiskunstlauf) sowie Epiphanien der Form (wie sie bei Spielzügen aller Ballsportarten bis zum Eishockey aufscheinen).
Fast scheint es, als schrecke der Autor bereits vor diesen Zergliederungen zurück, schließlich bekennt er sympathischerweise, daß "der ausschließlich zerebrale Ton der akademisch-intellektuellen Welt, zu der ich gehöre (und deren typischer Vertreter ich vielleicht bin), mir schon seit geraumer Zeit auf die Nerven geht". Darum hält er es bei seinen Andeutungen und persönlichen Bekenntnissen zum Sport mit der bescheidenen (oder besonders weisen) Erkenntnis, daß der Sport vielleicht gerade darum so weltumspannend beliebt ist, weil er nichts bedeutet als sich selbst. Aber ob das reicht für ein ganzes Buch?
Wir haben es also hier eher mit dem Werk eines schwärmenden, beständig den eigenen Überschwang wiederholenden Mystikers als dem eines systematischen Theologen zu tun. Aber gerade weil Gumbrecht nichts Tiefgründiges über die Ökonomie, die Soziologie, die Philosophie des Sports verbreiten möchte, ist man als Leser am Ende so klug als wie zuvor. Daß Sport - wie meinetwegen Gärtnern, Sex, Vogelbeobachten, Computerspiele, Basteln - eine "Liebe zum Leben" ausdrückt, daß er - egal warum - einfach schön und spannend und faszinierend ist, daß mit ihm das Göttliche in die Welt hereinlugt und die Sportler einen Glücksmoment, "versunken in fokussierter Intensität", erleben, mag ja alles gut und richtig sein. Aber mit dem Loben des Sports ergeht es einem nicht anders als mit dem Sport selbst: Ungeübte sind bald erschöpft.
Hans-Ulrich Gumbrecht: "Lob des Sports". Aus dem Amerikanischen von Georg Deggerich. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2005. 176 S., geb., 16,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
" Dirk Schümer fühlte sich "bald erschöpft" von Hans-Ulrich Gumbrechts "Lob des Sports". Dabei preist er durchaus des Stanforder Literaturwissenschaftlers sachliche Kundigkeit und seine Fähigkeit, jene Momente, die zu loben er angetreten ist, die epiphanischen Momente einer Sportmassenkultur, sprachlich zu veredeln. Nein, was Schümer aufreibt, ist ein Selbstwiderspruch des Werks. Möchte Gumbrecht sich einerseits bewusst absetzen von der in seiner Zunft herrschenden Tendenz, über den Sport nur Schlechtes zu reden, und ganz unironisch eine Lobrede halten (Schümer weist zurecht darauf hin, dass, wenigstens hierzulande, das Flirten mit dem Sport längst zum guten Ton der Intellektuellen gehört, siehe die Begeisterung über Günter Netzer), so vermag er doch dem Rezensenten auf der anderen Seite nicht plausibel zu machen, warum er denn dann 176 Seiten lang seine ganz privaten Glücksmomente ausbreiten muss. So ist es letztlich "die ewige Frage: Wozu", die Schümer die Lektüre vergällt.
© Perlentaucher Medien GmbH"
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