Kaum einer der großen asiatischen Länder ist wie Indien hin- und hergerissen zwischen den vermeintlichen Segnungen des Westens und traditionsbewusstem Beharrungswillen. Pankaj Mishra kommt aus diesem Zauberreich er liebt sein Land und kennt die ganze Welt. Seit über zehn Jahren schreibt er für internationale Zeitungen und Zeitschriften über die kulturelle und politische Aura des Subkontinents. Hier beschreibt er in vier autobiographischen Kapiteln die Zerreißprobe, mit der Indien auch die ganze Welt in Atem hält. Soll es Benares sein, die Stadt am Ganges, wo die Hindus ihre Toten verbrennen? Allahabad, Heimat der Nehrus und Gandhis? Ayodhya, Zankapfel zwischen Moslems und Hindu-Fanatikern? Oder doch lieber Bombay und Bollywood, das schrille Schaufenster zum Westen, das sich doch nirgendwo anders öffnet als in Indien?
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.10.2011Reise durch eine abgewirtschaftete Idylle
Das beste Buch in der Fülle der Indien-Literatur: Pankaj Mishra ist ein Autor, dem man sich vorbehaltlos anvertrauen kann, wenn es um Indien geht.
Von Martin Kämpchen
Pankaj Mishra, ein zweiundvierzigjähriger indischer Publizist, ist in der angelsächsischen Welt zum Sprachrohr des intellektuellen, aufgeklärten Indiens geworden. Er veröffentlicht in den führenden amerikanischen und britischen Zeitungen und Zeitschriften und tritt global auf Buchmessen und Literaturfesten auf, um eloquent über ziemlich alles zu sprechen, was sich unter dem Stichwort "Indien" einordnen lässt. Doch berühmt geworden ist Mishra nicht durch einen eigenen Text, sondern als Agent einer fremden Feder: Er las das Manuskript von Arundhati Roys Roman "Der Gott der kleinen Dinge" während einer Zugfahrt in Nordindien, sprang nach Lektüre der ersten Kapitel begeistert aus dem Abteil, um seinen Verleger anzurufen, damit ihm bei der Annahme des Manuskripts niemand zuvorkomme. Dieser Geniestreich gehört zur literarischen Folklore Indiens. Der Roman wurde ein Weltbestseller.
Dagegen las sich Mishras eigener Roman "The Romantics" wie ein blasser Reiseführer über Benares. Früh genug muss der Autor gespürt haben, dass seine Stärke nicht in der Belletristik, sondern im erzählenden Essay liegt. Im vorliegenden Band "Der Lockruf des Westens" beschreibt er geschickt autobiographische Stationen vor dem breiten Panorama der Geschichte Indiens seit der Unabhängigkeit und macht so Politik und Gesellschaft zum Greifen persönlich und lebendig. Das englische Original von 2006, zunächst in London erschienen, umfasst auch Essays über Pakistan und Afghanistan. Der Berenberg Verlag tat gut daran, sich auf vier Essays über Indien zu beschränken, welche die Namen von drei Städten - Benares, Allahabad, Ayodhya - und den von Bollywood besitzen, die Filmindustrie in Bombay. Pankaj Mishra zeichnet, repräsentiert von diesen vier Wohnorten, einen Augenzeugenbericht der politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen des Landes. Als Student oder Journalist hat er lange in den erwähnten Städten gewohnt und die Reibungen zwischen den politischen Parteien und Religionsgemeinschaften, hier insbesondere zwischen Hindus und Muslimen, miterlebt. Er erzählt von mittleren Parteigrößen und Priestern, Filmhelden und Geschäftsleuten, von kleineren und nicht so kleinen Gangstern, mit denen er Gespräche führte, die er beobachtete und deren Lebensfeld er zu verstehen suchte.
Im Kapitel "Allahabad" beschreibt der Autor die Geschicke der ersten Politfamilie des Landes, den Nehrus, bis hin zu Indira Gandhi und ihren Söhnen Sanjay und Rajiv, einer verwestlichten, verwöhnten Familie, die seit dem Unabhängigkeitskampf der dreißiger Jahre bis heute das Schicksal des Landes maßgeblich beeinflusst. Nebenhandlung ist die allmähliche Entfaltung eines nationalen Wahlkampfes. In "Ayodhya", der vishnuitischen Pilgerstadt und dem mythischen Geburtsort von Gott Rama, beschäftigen den Autor die Hintergründe der Zerstörung der Babri-Moschee im Dezember 1992, eines Wendepunkts der indischen Geschichte, der dann auch zu dem Massaker an zweitausend Muslimen in Ahmedabad 2002 führte. In "Bollywood" geht es um die Machenschaften der Filmindustrie im Spannungsfeld von Ehrgeiz, mafiösen Unterweltgeschäften, politischen Intrigen und unglaublichen Zufällen.
Pankaj Mishra schreibt nüchtern, detailgetreu, unaufgeregt, niemals übertreibend, geradezu bieder. Im Stil ist nichts zu spüren von der hitzigen, quirlenden, hektisch-lauten Atmosphäre der Städte. Mishra schildert Korruption und Opportunismus, ihn lässt die fanatische Mentalität der Hindu-Nationalisten nicht los. Das Indien, das er dem Leser vorstellt, hat nichts von einer Idylle; es ist ein düsteres, schmieriges, hässliches, moralisch abgewirtschaftetes Indien, das dem "unglaublichen" Reiseland Indien ebenso knallhart widerspricht wie dem erwachenden Wirtschaftsgiganten.
Pankaj Mishra ist selbst in einer Kleinstadt Nordindiens und in bescheidenen Verhältnissen aufgewachsen. Im Gegensatz zu vielen anderen Indien-Büchern kann Mishra die Not der Armen mit Sympathie und ohne oberflächliche Sensationsmacherei darstellen, was dem Buch seine Rundheit und Fülle gibt. Derzeit erscheint ein Buch nach dem anderen, das Indien "erklären" will. Nicht nur Journalisten, auch Unternehmer und Diplomaten beteiligen sich an dem ehrgeizigen Geschäft. Pankaj Mishras reifes Werk sticht unter ihnen hervor, man darf sich ihm ohne Vorbehalte anvertrauen.
Pankaj Mishra: "Lockruf des Westens". Modernes Indien.
Aus dem Englischen von Matthias Wolf. Berenberg Verlag, Berlin 2011. 208 S., geb., 24,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Das beste Buch in der Fülle der Indien-Literatur: Pankaj Mishra ist ein Autor, dem man sich vorbehaltlos anvertrauen kann, wenn es um Indien geht.
Von Martin Kämpchen
Pankaj Mishra, ein zweiundvierzigjähriger indischer Publizist, ist in der angelsächsischen Welt zum Sprachrohr des intellektuellen, aufgeklärten Indiens geworden. Er veröffentlicht in den führenden amerikanischen und britischen Zeitungen und Zeitschriften und tritt global auf Buchmessen und Literaturfesten auf, um eloquent über ziemlich alles zu sprechen, was sich unter dem Stichwort "Indien" einordnen lässt. Doch berühmt geworden ist Mishra nicht durch einen eigenen Text, sondern als Agent einer fremden Feder: Er las das Manuskript von Arundhati Roys Roman "Der Gott der kleinen Dinge" während einer Zugfahrt in Nordindien, sprang nach Lektüre der ersten Kapitel begeistert aus dem Abteil, um seinen Verleger anzurufen, damit ihm bei der Annahme des Manuskripts niemand zuvorkomme. Dieser Geniestreich gehört zur literarischen Folklore Indiens. Der Roman wurde ein Weltbestseller.
Dagegen las sich Mishras eigener Roman "The Romantics" wie ein blasser Reiseführer über Benares. Früh genug muss der Autor gespürt haben, dass seine Stärke nicht in der Belletristik, sondern im erzählenden Essay liegt. Im vorliegenden Band "Der Lockruf des Westens" beschreibt er geschickt autobiographische Stationen vor dem breiten Panorama der Geschichte Indiens seit der Unabhängigkeit und macht so Politik und Gesellschaft zum Greifen persönlich und lebendig. Das englische Original von 2006, zunächst in London erschienen, umfasst auch Essays über Pakistan und Afghanistan. Der Berenberg Verlag tat gut daran, sich auf vier Essays über Indien zu beschränken, welche die Namen von drei Städten - Benares, Allahabad, Ayodhya - und den von Bollywood besitzen, die Filmindustrie in Bombay. Pankaj Mishra zeichnet, repräsentiert von diesen vier Wohnorten, einen Augenzeugenbericht der politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen des Landes. Als Student oder Journalist hat er lange in den erwähnten Städten gewohnt und die Reibungen zwischen den politischen Parteien und Religionsgemeinschaften, hier insbesondere zwischen Hindus und Muslimen, miterlebt. Er erzählt von mittleren Parteigrößen und Priestern, Filmhelden und Geschäftsleuten, von kleineren und nicht so kleinen Gangstern, mit denen er Gespräche führte, die er beobachtete und deren Lebensfeld er zu verstehen suchte.
Im Kapitel "Allahabad" beschreibt der Autor die Geschicke der ersten Politfamilie des Landes, den Nehrus, bis hin zu Indira Gandhi und ihren Söhnen Sanjay und Rajiv, einer verwestlichten, verwöhnten Familie, die seit dem Unabhängigkeitskampf der dreißiger Jahre bis heute das Schicksal des Landes maßgeblich beeinflusst. Nebenhandlung ist die allmähliche Entfaltung eines nationalen Wahlkampfes. In "Ayodhya", der vishnuitischen Pilgerstadt und dem mythischen Geburtsort von Gott Rama, beschäftigen den Autor die Hintergründe der Zerstörung der Babri-Moschee im Dezember 1992, eines Wendepunkts der indischen Geschichte, der dann auch zu dem Massaker an zweitausend Muslimen in Ahmedabad 2002 führte. In "Bollywood" geht es um die Machenschaften der Filmindustrie im Spannungsfeld von Ehrgeiz, mafiösen Unterweltgeschäften, politischen Intrigen und unglaublichen Zufällen.
Pankaj Mishra schreibt nüchtern, detailgetreu, unaufgeregt, niemals übertreibend, geradezu bieder. Im Stil ist nichts zu spüren von der hitzigen, quirlenden, hektisch-lauten Atmosphäre der Städte. Mishra schildert Korruption und Opportunismus, ihn lässt die fanatische Mentalität der Hindu-Nationalisten nicht los. Das Indien, das er dem Leser vorstellt, hat nichts von einer Idylle; es ist ein düsteres, schmieriges, hässliches, moralisch abgewirtschaftetes Indien, das dem "unglaublichen" Reiseland Indien ebenso knallhart widerspricht wie dem erwachenden Wirtschaftsgiganten.
Pankaj Mishra ist selbst in einer Kleinstadt Nordindiens und in bescheidenen Verhältnissen aufgewachsen. Im Gegensatz zu vielen anderen Indien-Büchern kann Mishra die Not der Armen mit Sympathie und ohne oberflächliche Sensationsmacherei darstellen, was dem Buch seine Rundheit und Fülle gibt. Derzeit erscheint ein Buch nach dem anderen, das Indien "erklären" will. Nicht nur Journalisten, auch Unternehmer und Diplomaten beteiligen sich an dem ehrgeizigen Geschäft. Pankaj Mishras reifes Werk sticht unter ihnen hervor, man darf sich ihm ohne Vorbehalte anvertrauen.
Pankaj Mishra: "Lockruf des Westens". Modernes Indien.
Aus dem Englischen von Matthias Wolf. Berenberg Verlag, Berlin 2011. 208 S., geb., 24,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Indien ist wirtschaftlich groß im Kommen, weiß Rezensent Detlev Claussen. Mit politischer Propaganda und millionenschweren Kampagnen soll das Image des Landes international aufpoliert werden. Einen spannenden Blick auf das andere Indien bietet Pankaj Mishras "Lockruf des Westens". Die Reportagen des Autors zeigen nach Ansicht Claussens auch die "hässlichen Seiten" des Landes. Eindrucksvoll schildert Mishra für ihn etwa die Kehrseiten des Hindunationalismus. Dazu gehöre auch der Hass auf die 135 Millionen Muslime im Land. Claussens Fazit: "Hinter den Kulissen Bollywoods ist es nicht nur schön."
© Perlentaucher Medien GmbH
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