Ein Neurochirurg überfährt einen illegalen Einwanderer. Es gibt keine Zeugen, und der Mann wird ohnehin sterben - warum also die Karriere gefährden und den Unfall melden? Doch tags darauf steht die Frau des Opfers vor der Haustür des Arztes und macht ihm einen Vorschlag, der sein geordnetes Leben komplett aus der Bahn wirft.Wie hätte man selbst in einer solchen Situation gehandelt? Diese Frage schwebt über dem Roman, der die Grenzen zwischen Liebe und Hass, Schuld und Vergebung und Gut und Böse meisterhaft auslotet.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.02.2016Eine Schande, am Leben zu sein
Zwei Jahre nach ihrem preisgekrönten Debüt "Eine Nacht, Markowitz" legt die Psychologin Ayelet Gundar-Goshen ihren nächsten packenden Roman vor.
In der Theorie ist jeder einer von den Guten, auch Etan. Vor allem Etan. Der Einundvierzigjährige geht in seinem Beruf auf, wählt die Menschenrechtspartei Meretz und begehrt seine Frau auch nach zwölf Jahren Ehe noch wie am ersten Tag. Als er feststellt, dass sein seit Studientagen verehrter Vorgesetzter Sakkai sich bestechen lässt, wendet er sich schweren Herzens an die Krankenhausleitung - um festzustellen, dass Professor Sakkai nicht der einzige Korrupte im Kliniksystem ist. Nicht Sakkai, sondern Etan wird im wahrsten Sinne des Wortes in die Wüste geschickt: Man versetzt ihn von Tel Aviv in die nördliche Negev, nach Beer Scheva. Der Wüstenstaub, Partikel gewordene Ungerechtigkeit, legt sich über sein Leben und nimmt ihm die Farbe. Auch der Jeep, den seine Frau ihm zum Trost geschenkt hat, ist nicht mehr knallrot, sondern nur noch trübrosa: "eine Parodie seiner selbst". Nach einer Neunzehn-Stunden-Schicht treibt ein letzter Rest Noradrenalin Etan auf eine nächtliche Staubpiste.
Für den Versuch, seinen Frust mit Hochgeschwindigkeit hinter sich zu lassen, bezahlt jemand mit dem Leben. "Blut rann aus den Ohren des Mannes, hell und wässrig wegen der Zerebrospinalflüssigkeit, die schon aus dem offenen Schädel zu tropfen begann. Und doch stand er auf, lief zum Jeep und kam mit dem Verbandskasten zurück, hatte schon ein Verbandspäckchen aufgerissen, als er jäh erstarrte. Was soll das. Dieser Mann wird sterben." Etan beschließt reflexartig, sich selbst zu retten, wenn schon das Leben des Eritreers, der da namenlos vor ihm im Staub liegt, nicht mehr zu retten ist: Er begeht Fahrerflucht.
Der Versuch einer Rückkehr in sein geregeltes Leben misslingt nicht nur deswegen, weil Etans Frau Liat, eine Kriminalbeamtin, mit dem Fall beauftragt wird, sondern weil Etan beim panischen Aufbruch seine Brieftasche verloren hat. Die bringt ihm am nächsten Tag Sirkit vorbei: die Witwe des Eritreers. Sirkit hat den tödlichen Unfall mit angesehen, von Etan in der nächtlichen Dunkelheit unbemerkt, und sie macht dem Arzt klar, dass ihr Schweigen ihn etwas kosten wird. Hier landet die dreiunddreißigjährige Autorin Ayelet Gundar-Goshen ihren ersten großen Coup: Binnen Sekunden kehrt sie das klischeeartige Machtverhältnis zwischen hilfloser ärmlicher Flüchtlingsfrau und weißem gutbürgerlichen Arzt um.
Sirkit zwingt Etan, seine Nächte fortan in einer verlassenen Autowerkstatt zu verbringen, um Flüchtlinge medizinisch zu versorgen. Das unfreiwillige Ehrenamt bringt Etan bald an den Rand seiner Kraft: Er belügt seine Frau, erklärt die nächtliche Abwesenheit mit Sonderschichten im Krankenhaus, obwohl er sich dort längst krankgemeldet hat und nur alle paar Wochen zur Arbeit geht, um Medikamente zu stehlen. Vor allem aber macht Etan die neue Welt zu schaffen, in die er so plötzlich katapultiert wurde. "Er kam nach einem ganzen Tag im Hellen abends in die Werkstatt, blickte die Leute an und begriff nicht. Wie beim Schulausflug in der Grundschule, als der Lehrer einen harmlosen Stein aufhob und darunter plötzlich schwarze, böse Erde aufbrach. Würmer, Maden, finsteres, verborgenes Leben ... Die ganze Zeit war es dort unten gewesen, und er hatte es nicht gewusst." Einwanderer aus Eritrea oder dem Sudan sind für ihn plötzlich keine anonymen "Infiltranten" mehr, die in den Nachrichten von rechten Politikern als "Krebsgeschwür" im Landeskörper bezeichnet werden, sondern Menschen mit schmerzverzerrten Gesichtern, die vor Etan auf einem rostigen Metalltisch liegen. Menschen mit eiternden Schnittwunden und mit Ermüdungsbrüchen, mit Tuberkulose und Tumorknoten.
Ayelet Gundar-Goshen sagte in einem Interview, dass Zeitungsartikel nie das Ausmaß an Realität überschreiten dürften, das dem Leser sein Frühstück vergälle, sie aber dafür sorgen wolle, "dass die Leser ihren Kaffee über den Tisch spucken". In der Tat spart die Autorin nicht mit beklemmenden Details, wenn sie zeigt, wie schnell ein Leben in Schieflage geraten und jede Selbstverständlichkeit ins Gestern kippen kann: Etan hätte niemals erwartet, nach einem "Leben mit rücksichtsvollem Fahren, Medizinstudium, Heimtragen von Supermarkttüten für alte Damen" zum Mörder zu werden; Sirkit hätte niemals geglaubt, dass sie eines Tages schwer traumatisiert aus ihrem Heimatland fliehen würde, nur um in der Wüste von Beduinenschleppern gequält und schließlich im Alter von 31 Jahren in Israel zur schmutzstarrenden Unperson zu werden, in ein Schattendasein gezwungen, weil sie sonst dank des "Gesetzes zur Bekämpfung der Infiltration" wahlweise in ein Internierungslager verfrachtet oder direkt abgeschoben würde - zurück nach Eritrea, dessen Regime von UN-Ermittlern systematische Folter, Vergewaltigungen und Hinrichtungen vorgeworfen werden.
Es zählt zu den großen Stärken der Autorin, dass sie Flüchtlinge, allen voran Sirkit, so komplex zeichnet, dass der Leser es sich nicht leichtmachen und sie als Opfer abtun kann. Sobald Etan, der sich zunehmend von seiner Frau und seinem Alltagsleben entfremdet, in der Erpresserin eine still leidende Witwe und Wohltäterin erkannt zu haben glaubt, zieht die Autorin ihm den scheinbar sicheren Reflexionsboden unter den Füßen weg: Sirkit weint ihrem verstorbenen Mann keine Träne nach und lässt Etan die Notfallambulanz in der verlassenen Werkstatt keineswegs aus wohltätigen Motiven betreiben. "Ehe er den Mund aufbekam, lachte sie ... Sie hätte wissen müssen, dass er sie lieber als Opfer denn als Täter sieht. Ihr Arzt liebt heilige Menschen, egal, wie sehr sie mit Füßen getreten werden. Im Gegenteil, das macht sie nur noch heiliger. Und sie, sie hat nun gerade keine Lust darauf, heilig zu sein."
In einer Zeit, da Hunderte von Flüchtlingen vor Europas Küsten umkommen und die Körper der Verstorbenen teilweise wie Schlachtabfälle in Müllsäcken gelagert werden, in einer Zeit, da Regierungsmaßnahmen sich darauf konzentrieren, Schlepperboote qua Militäreinsatz zu zerstören, und Millionen in Grenzpolizei, Stahlzäune und Forschung zu drohnenbasierter Überwachung oder künstlichen Detektoren investieren, die Menschen anhand ihres Geruchs erkennen sollen, braucht es solch mutige Romane wie "Löwen wecken". Die praktizierende Psychologin Ayelet Gundar-Goshen zoomt tief ins Seelenleben ihrer scheinbar fernen, fremden Figuren hinein und leuchtet sie aus, bis wir uns wiedererkennen.
DANA BUCHZIK
Ayelet Gundar-Goshen: "Löwen wecken". Roman.
Aus dem Hebräischen übersetzt von Ruth Achlama. Verlag Kein & Aber, Zürich 2015. 432 S., geb., 22,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Zwei Jahre nach ihrem preisgekrönten Debüt "Eine Nacht, Markowitz" legt die Psychologin Ayelet Gundar-Goshen ihren nächsten packenden Roman vor.
In der Theorie ist jeder einer von den Guten, auch Etan. Vor allem Etan. Der Einundvierzigjährige geht in seinem Beruf auf, wählt die Menschenrechtspartei Meretz und begehrt seine Frau auch nach zwölf Jahren Ehe noch wie am ersten Tag. Als er feststellt, dass sein seit Studientagen verehrter Vorgesetzter Sakkai sich bestechen lässt, wendet er sich schweren Herzens an die Krankenhausleitung - um festzustellen, dass Professor Sakkai nicht der einzige Korrupte im Kliniksystem ist. Nicht Sakkai, sondern Etan wird im wahrsten Sinne des Wortes in die Wüste geschickt: Man versetzt ihn von Tel Aviv in die nördliche Negev, nach Beer Scheva. Der Wüstenstaub, Partikel gewordene Ungerechtigkeit, legt sich über sein Leben und nimmt ihm die Farbe. Auch der Jeep, den seine Frau ihm zum Trost geschenkt hat, ist nicht mehr knallrot, sondern nur noch trübrosa: "eine Parodie seiner selbst". Nach einer Neunzehn-Stunden-Schicht treibt ein letzter Rest Noradrenalin Etan auf eine nächtliche Staubpiste.
Für den Versuch, seinen Frust mit Hochgeschwindigkeit hinter sich zu lassen, bezahlt jemand mit dem Leben. "Blut rann aus den Ohren des Mannes, hell und wässrig wegen der Zerebrospinalflüssigkeit, die schon aus dem offenen Schädel zu tropfen begann. Und doch stand er auf, lief zum Jeep und kam mit dem Verbandskasten zurück, hatte schon ein Verbandspäckchen aufgerissen, als er jäh erstarrte. Was soll das. Dieser Mann wird sterben." Etan beschließt reflexartig, sich selbst zu retten, wenn schon das Leben des Eritreers, der da namenlos vor ihm im Staub liegt, nicht mehr zu retten ist: Er begeht Fahrerflucht.
Der Versuch einer Rückkehr in sein geregeltes Leben misslingt nicht nur deswegen, weil Etans Frau Liat, eine Kriminalbeamtin, mit dem Fall beauftragt wird, sondern weil Etan beim panischen Aufbruch seine Brieftasche verloren hat. Die bringt ihm am nächsten Tag Sirkit vorbei: die Witwe des Eritreers. Sirkit hat den tödlichen Unfall mit angesehen, von Etan in der nächtlichen Dunkelheit unbemerkt, und sie macht dem Arzt klar, dass ihr Schweigen ihn etwas kosten wird. Hier landet die dreiunddreißigjährige Autorin Ayelet Gundar-Goshen ihren ersten großen Coup: Binnen Sekunden kehrt sie das klischeeartige Machtverhältnis zwischen hilfloser ärmlicher Flüchtlingsfrau und weißem gutbürgerlichen Arzt um.
Sirkit zwingt Etan, seine Nächte fortan in einer verlassenen Autowerkstatt zu verbringen, um Flüchtlinge medizinisch zu versorgen. Das unfreiwillige Ehrenamt bringt Etan bald an den Rand seiner Kraft: Er belügt seine Frau, erklärt die nächtliche Abwesenheit mit Sonderschichten im Krankenhaus, obwohl er sich dort längst krankgemeldet hat und nur alle paar Wochen zur Arbeit geht, um Medikamente zu stehlen. Vor allem aber macht Etan die neue Welt zu schaffen, in die er so plötzlich katapultiert wurde. "Er kam nach einem ganzen Tag im Hellen abends in die Werkstatt, blickte die Leute an und begriff nicht. Wie beim Schulausflug in der Grundschule, als der Lehrer einen harmlosen Stein aufhob und darunter plötzlich schwarze, böse Erde aufbrach. Würmer, Maden, finsteres, verborgenes Leben ... Die ganze Zeit war es dort unten gewesen, und er hatte es nicht gewusst." Einwanderer aus Eritrea oder dem Sudan sind für ihn plötzlich keine anonymen "Infiltranten" mehr, die in den Nachrichten von rechten Politikern als "Krebsgeschwür" im Landeskörper bezeichnet werden, sondern Menschen mit schmerzverzerrten Gesichtern, die vor Etan auf einem rostigen Metalltisch liegen. Menschen mit eiternden Schnittwunden und mit Ermüdungsbrüchen, mit Tuberkulose und Tumorknoten.
Ayelet Gundar-Goshen sagte in einem Interview, dass Zeitungsartikel nie das Ausmaß an Realität überschreiten dürften, das dem Leser sein Frühstück vergälle, sie aber dafür sorgen wolle, "dass die Leser ihren Kaffee über den Tisch spucken". In der Tat spart die Autorin nicht mit beklemmenden Details, wenn sie zeigt, wie schnell ein Leben in Schieflage geraten und jede Selbstverständlichkeit ins Gestern kippen kann: Etan hätte niemals erwartet, nach einem "Leben mit rücksichtsvollem Fahren, Medizinstudium, Heimtragen von Supermarkttüten für alte Damen" zum Mörder zu werden; Sirkit hätte niemals geglaubt, dass sie eines Tages schwer traumatisiert aus ihrem Heimatland fliehen würde, nur um in der Wüste von Beduinenschleppern gequält und schließlich im Alter von 31 Jahren in Israel zur schmutzstarrenden Unperson zu werden, in ein Schattendasein gezwungen, weil sie sonst dank des "Gesetzes zur Bekämpfung der Infiltration" wahlweise in ein Internierungslager verfrachtet oder direkt abgeschoben würde - zurück nach Eritrea, dessen Regime von UN-Ermittlern systematische Folter, Vergewaltigungen und Hinrichtungen vorgeworfen werden.
Es zählt zu den großen Stärken der Autorin, dass sie Flüchtlinge, allen voran Sirkit, so komplex zeichnet, dass der Leser es sich nicht leichtmachen und sie als Opfer abtun kann. Sobald Etan, der sich zunehmend von seiner Frau und seinem Alltagsleben entfremdet, in der Erpresserin eine still leidende Witwe und Wohltäterin erkannt zu haben glaubt, zieht die Autorin ihm den scheinbar sicheren Reflexionsboden unter den Füßen weg: Sirkit weint ihrem verstorbenen Mann keine Träne nach und lässt Etan die Notfallambulanz in der verlassenen Werkstatt keineswegs aus wohltätigen Motiven betreiben. "Ehe er den Mund aufbekam, lachte sie ... Sie hätte wissen müssen, dass er sie lieber als Opfer denn als Täter sieht. Ihr Arzt liebt heilige Menschen, egal, wie sehr sie mit Füßen getreten werden. Im Gegenteil, das macht sie nur noch heiliger. Und sie, sie hat nun gerade keine Lust darauf, heilig zu sein."
In einer Zeit, da Hunderte von Flüchtlingen vor Europas Küsten umkommen und die Körper der Verstorbenen teilweise wie Schlachtabfälle in Müllsäcken gelagert werden, in einer Zeit, da Regierungsmaßnahmen sich darauf konzentrieren, Schlepperboote qua Militäreinsatz zu zerstören, und Millionen in Grenzpolizei, Stahlzäune und Forschung zu drohnenbasierter Überwachung oder künstlichen Detektoren investieren, die Menschen anhand ihres Geruchs erkennen sollen, braucht es solch mutige Romane wie "Löwen wecken". Die praktizierende Psychologin Ayelet Gundar-Goshen zoomt tief ins Seelenleben ihrer scheinbar fernen, fremden Figuren hinein und leuchtet sie aus, bis wir uns wiedererkennen.
DANA BUCHZIK
Ayelet Gundar-Goshen: "Löwen wecken". Roman.
Aus dem Hebräischen übersetzt von Ruth Achlama. Verlag Kein & Aber, Zürich 2015. 432 S., geb., 22,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Eine seltene Tiefenbohrung in die menschliche Seele. Ein unglaublich intensiver, spannender Roman.« Peer Teuwsen, NZZ Bücher am Sonntag, 24.11.2024 NZZ Bücher am Sonntag 20241124