Die Geschichte schien an ein Ende gekommen, als Fredi Linden verhaftet wurde. Wollte er tatsächlich das Völkerschlachtdenkmal in die Luft jagen? In der Obhut einer staatssichernden Institution begann der knorzige Sprengmeister zu erzählen: vom Schicksal seiner geliebten Stadt Leipzig seit den Kämpfen gegen Napoleon, von großer Historie und kleinen Helden, von seinem Leben in zwei Weltkriegen und unter gegensätzlichen politischen Systemen. Seine trüben Aussichten: DDR auf ewig.
Doch dann kam Bewegung in die Sache. Demonstranten zogen montags über den Leipziger Ring, die Mauer fiel, alles sortierte sich neu: Viel Stoff, auch viel Zündstoff für den alten Fredi Linden. Also berichtet der streitbare Chronist weiter, von Marxköpfen und Wendehälsen und ganz neuen Kämpfen im Schatten des wuchtigen Denkmals.
1984 erschien der große Roman »Völkerschlachtdenkmal«. Ihn hat Erich Loest in seine Neufassung einbezogen, um von nunmehr zwei Jahrhunderten deutscher Geschichte zu erzählen am Beispiel Lindens wie seiner eigenen Heimat, der Stadt mit dem Löwen im Wappen
Doch dann kam Bewegung in die Sache. Demonstranten zogen montags über den Leipziger Ring, die Mauer fiel, alles sortierte sich neu: Viel Stoff, auch viel Zündstoff für den alten Fredi Linden. Also berichtet der streitbare Chronist weiter, von Marxköpfen und Wendehälsen und ganz neuen Kämpfen im Schatten des wuchtigen Denkmals.
1984 erschien der große Roman »Völkerschlachtdenkmal«. Ihn hat Erich Loest in seine Neufassung einbezogen, um von nunmehr zwei Jahrhunderten deutscher Geschichte zu erzählen am Beispiel Lindens wie seiner eigenen Heimat, der Stadt mit dem Löwen im Wappen
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.05.2009Antihelden wie wir
Leipziger Wendemanöver: Erich Loests neuer Roman
Der Löwe ist das Wappentier von Leipzig. In den Büchern des Sachsen Loest hat Leipzig, die "Löwenstadt", immer eine bedeutende Rolle gespielt, war, wenngleich nicht seine Heimatstadt, stets die Stadt seines Herzens. Was nicht bedeutet, dass er sie angeschwärmt und hochgepriesen hätte. Bei ihm spielt sie die Rolle eines Schicksalsortes, einer historischen Bühne, auf der sich eigene Lebensdramen vollzogen und die unendlich vieler Menschen in verschiedenen Phasen deutscher und europäischer Geschichte. In Leipzig hat der Schriftsteller Loest seine ersten Erfolge erringen können. Hier hat er den Druck ertragen müssen, der nach politischer Verfolgung und sieben Zuchthausjahren auf ihm lastete. Nach Leipzig kehrte er heim, nachdem die Wende von 1989/90 seinen Emigrantenaufenthalt am Rhein überflüssig gemacht hatte. Und hier beobachtete er seitdem, wie Menschen mit den Chancen umgehen, die historische Entwicklungen ihnen bieten, wie sie ihre Möglichkeiten nutzen oder vertun.
Immer wieder hat er die geschichtlichen Abläufe untersucht, die das Dasein der Leipziger und ihrer Nachbarn bestimmten, es lebenswert oder unerträglich machten. Und immer ging es ihm darum, dass der Einzelne niemals bloß Objekt des Geschehens war, sondern bis zu einem gewissen Grade auch Subjekt, das heißt durch Tun oder Lassen mehr oder weniger verantwortlich für das, was ihm und anderen zustieß. Man kann Loest einen Protokollanten deutscher Geschichte nennen, aber was ihn zum Schriftsteller macht, ist sein tiefes Eintauchen in die Sphäre der ganz gewöhnlichen Menschen, seine Nähe zu dem Alltag, in dem wir alle leben oder gelebt haben könnten.
Loest präsentiert uns in seinem neuen Roman rund zweihundert Jahre Leipziger Historie, beginnend mit der Völkerschlacht von 1813, dem Höhepunkt der Befreiungskriege gegen Napoleon, und endend in unseren Tagen. Der Autor folgte auch hier seiner alten These, dass die Sachsen stets eine fatale Begabung dafür gezeigt hätten, auf der falschen, in diesem Fall auf der antipreußischen und damit pronapoleonischen Seite zu kämpfen. Er macht aber auch deutlich, dass die jeweiligen Machtspiele und die daraus resultierenden Zustände den normalen Bürgern wenig Chancen boten, politische Klugheit zu entwickeln und dementsprechend zu handeln. Wer dennoch danach strebte, musste wohl oder übel zum Helden werden, den Widerstand gegen die jeweiligen Regime nicht scheuen, notfalls nicht nur das eigene Leben, sondern auch das seiner Familie riskieren. Wer ist dazu schon bereit?
Dennoch heißt die Botschaft dieses Romans nicht etwa, dass Widerstand gegen politisches Unrecht, gegen staatliche Vergewaltigung mehr ist, als man von einem normalen Menschen verlangen kann. Das würde weder zu Loests persönlicher Geschichte passen noch zu den Aussagen all seiner Bücher. Doch in den letzten Jahren wurde Loest zunehmend von Misstrauen beseelt, von Zweifeln an den Fähigkeiten der Menschheit, erkannte Fehler auf Dauer zu beseitigen, dafür zu sorgen, dass alle Zukunft in dem Lichte glänzt, das anzuzünden sich als möglich herausgestellt hatte.
Die "Löwenstadt" ist ja der Ort gewesen, wo Tausende den Sturz des DDR-Regimes vorangetrieben haben. Der Roman zeigt diese mutigen Aufmüpfigkeiten sehr ausführlich. Aber dann werden wir auch Zeuge von Gesprächen, in denen frühere Leipziger Befehlshaber und vernunftferne Nachwuchsbürger Möglichkeiten erörtern, die einstigen Machtpositionen neu aufzubauen. Einer der Teilnehmer dieser Runden heißt Joachim Linden. Er ist der Sohn von Fredi Linden, dem Romanhelden, der, handelnd oder träumend, in all den zweihundert Jahren Leipziger Leben gegenwärtig ist. Wir kennen ihn schon aus dem "Völkerschlachtdenkmal" von 1984. Fredi Linden, gelernter Sprengmeister, zeitweilig Pförtner im Denkmal, hatte versucht, den Erinnerungsbau in die Luft zu sprengen. Er glaubte nämlich einer Flüsternachricht, der zufolge Honecker die unterirdischen Gewölbe des Völkerschlachtdenkmals an Betreiber westdeutscher Atomkraftwerke als Entsorgungsanlage verpachtet habe.
Die Geschichte taucht nun wieder auf, eingebettet in Leipziger Vergangenheitsbilder, die im alten Roman nur andeutungsweise vorkommen, im neuen aber weit ausgebreitet werden. Auch der Umstand, dass der Sünder nicht im Knast landete, sondern in der Psychiatrie, wird wiederum abgehandelt. Diesmal nicht nur wegen der Frage, was die DDR-Staatsmacht, die den sonst üblichen Politprozess scheute, denn zu verbergen hatte, sondern auch damit Fredi Linden, dessen weiteres Geschick der frühere Roman im Dunkeln lässt, im neuen Roman ans Tageslicht zurückkommen und uns seine Geschichte weitererzählen kann.
Nun erlebt er in einem Betreuungsheim ein vielleicht langweiliges, aber relativ freundliches Alter. Wie aber reagiert er, als er von den Verbindungen erfährt, die sein Sohn pflegt, und von den Plänen, die Joachim mit dem Klüngel einstiger SED-Funktionäre schmiedet? Eigentlich recht sanft. Der Autor Loest hat seine eigene Meinung über derlei Umtriebe sehr deutlich gemacht, und zwar in seinem Theaterstück "Ratzel speist im ,Falco'". Aber seinem Romanhelden traut er offenbar das genügende Maß an Einsicht, an politischer Klugheit nicht zu. Loest lässt offen, ob Fredis Vaterliebe einer Empörung im Wege steht oder sein Greisenalter.
Mit der gleichen Gelassenheit, mit der er die Umtriebe des Sohnes erwähnt, gedenkt Fredi der SA-Vergangenheit seines Vaters. Gewiss, dieser Vater war kein Verbrecher, nur ein Mitläufer. Und er hat, als im Zweiten Weltkrieg Bomben auf Leipzig fielen, die Paulinerkirche gerettet, die später unter Ulbricht gesprengt wurde. Der Großvater Linden verlor bei dem Rettungsakt sein Leben. Entschuldigt das nicht seine politischen Fehlleistungen? Der Mensch irrt eben, solang er strebt. Das muss wohl auch für den Enkel Linden gelten.
Denkt offensichtlich Vater Fredi. Absolut anders Erich Loest. Er verurteilt die Leute nicht, die er aus der Volksmasse herausgefiltert und geformt hat, aber kennzeichnet sie sehr gründlich, so dass wir die Warnzeichen nicht übersehen können, von denen sie umgeben sind. Wer die Geschichte des Romans zum Exempel nehmen will, so seine Botschaft, der orientiere sich an den Bedingungen, unter denen sie sich abspielt. Der mache sich klar, wie viele Möglichkeiten ein Menschenleben bietet, Fehler zu machen. Schreckliche Fehler, deren Folgen über Generationen weitervererbt werden.
SABINE BRANDT
Erich Loest: "Löwenstadt". Roman. Steidl Verlag, Göttingen 2009. 336 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Leipziger Wendemanöver: Erich Loests neuer Roman
Der Löwe ist das Wappentier von Leipzig. In den Büchern des Sachsen Loest hat Leipzig, die "Löwenstadt", immer eine bedeutende Rolle gespielt, war, wenngleich nicht seine Heimatstadt, stets die Stadt seines Herzens. Was nicht bedeutet, dass er sie angeschwärmt und hochgepriesen hätte. Bei ihm spielt sie die Rolle eines Schicksalsortes, einer historischen Bühne, auf der sich eigene Lebensdramen vollzogen und die unendlich vieler Menschen in verschiedenen Phasen deutscher und europäischer Geschichte. In Leipzig hat der Schriftsteller Loest seine ersten Erfolge erringen können. Hier hat er den Druck ertragen müssen, der nach politischer Verfolgung und sieben Zuchthausjahren auf ihm lastete. Nach Leipzig kehrte er heim, nachdem die Wende von 1989/90 seinen Emigrantenaufenthalt am Rhein überflüssig gemacht hatte. Und hier beobachtete er seitdem, wie Menschen mit den Chancen umgehen, die historische Entwicklungen ihnen bieten, wie sie ihre Möglichkeiten nutzen oder vertun.
Immer wieder hat er die geschichtlichen Abläufe untersucht, die das Dasein der Leipziger und ihrer Nachbarn bestimmten, es lebenswert oder unerträglich machten. Und immer ging es ihm darum, dass der Einzelne niemals bloß Objekt des Geschehens war, sondern bis zu einem gewissen Grade auch Subjekt, das heißt durch Tun oder Lassen mehr oder weniger verantwortlich für das, was ihm und anderen zustieß. Man kann Loest einen Protokollanten deutscher Geschichte nennen, aber was ihn zum Schriftsteller macht, ist sein tiefes Eintauchen in die Sphäre der ganz gewöhnlichen Menschen, seine Nähe zu dem Alltag, in dem wir alle leben oder gelebt haben könnten.
Loest präsentiert uns in seinem neuen Roman rund zweihundert Jahre Leipziger Historie, beginnend mit der Völkerschlacht von 1813, dem Höhepunkt der Befreiungskriege gegen Napoleon, und endend in unseren Tagen. Der Autor folgte auch hier seiner alten These, dass die Sachsen stets eine fatale Begabung dafür gezeigt hätten, auf der falschen, in diesem Fall auf der antipreußischen und damit pronapoleonischen Seite zu kämpfen. Er macht aber auch deutlich, dass die jeweiligen Machtspiele und die daraus resultierenden Zustände den normalen Bürgern wenig Chancen boten, politische Klugheit zu entwickeln und dementsprechend zu handeln. Wer dennoch danach strebte, musste wohl oder übel zum Helden werden, den Widerstand gegen die jeweiligen Regime nicht scheuen, notfalls nicht nur das eigene Leben, sondern auch das seiner Familie riskieren. Wer ist dazu schon bereit?
Dennoch heißt die Botschaft dieses Romans nicht etwa, dass Widerstand gegen politisches Unrecht, gegen staatliche Vergewaltigung mehr ist, als man von einem normalen Menschen verlangen kann. Das würde weder zu Loests persönlicher Geschichte passen noch zu den Aussagen all seiner Bücher. Doch in den letzten Jahren wurde Loest zunehmend von Misstrauen beseelt, von Zweifeln an den Fähigkeiten der Menschheit, erkannte Fehler auf Dauer zu beseitigen, dafür zu sorgen, dass alle Zukunft in dem Lichte glänzt, das anzuzünden sich als möglich herausgestellt hatte.
Die "Löwenstadt" ist ja der Ort gewesen, wo Tausende den Sturz des DDR-Regimes vorangetrieben haben. Der Roman zeigt diese mutigen Aufmüpfigkeiten sehr ausführlich. Aber dann werden wir auch Zeuge von Gesprächen, in denen frühere Leipziger Befehlshaber und vernunftferne Nachwuchsbürger Möglichkeiten erörtern, die einstigen Machtpositionen neu aufzubauen. Einer der Teilnehmer dieser Runden heißt Joachim Linden. Er ist der Sohn von Fredi Linden, dem Romanhelden, der, handelnd oder träumend, in all den zweihundert Jahren Leipziger Leben gegenwärtig ist. Wir kennen ihn schon aus dem "Völkerschlachtdenkmal" von 1984. Fredi Linden, gelernter Sprengmeister, zeitweilig Pförtner im Denkmal, hatte versucht, den Erinnerungsbau in die Luft zu sprengen. Er glaubte nämlich einer Flüsternachricht, der zufolge Honecker die unterirdischen Gewölbe des Völkerschlachtdenkmals an Betreiber westdeutscher Atomkraftwerke als Entsorgungsanlage verpachtet habe.
Die Geschichte taucht nun wieder auf, eingebettet in Leipziger Vergangenheitsbilder, die im alten Roman nur andeutungsweise vorkommen, im neuen aber weit ausgebreitet werden. Auch der Umstand, dass der Sünder nicht im Knast landete, sondern in der Psychiatrie, wird wiederum abgehandelt. Diesmal nicht nur wegen der Frage, was die DDR-Staatsmacht, die den sonst üblichen Politprozess scheute, denn zu verbergen hatte, sondern auch damit Fredi Linden, dessen weiteres Geschick der frühere Roman im Dunkeln lässt, im neuen Roman ans Tageslicht zurückkommen und uns seine Geschichte weitererzählen kann.
Nun erlebt er in einem Betreuungsheim ein vielleicht langweiliges, aber relativ freundliches Alter. Wie aber reagiert er, als er von den Verbindungen erfährt, die sein Sohn pflegt, und von den Plänen, die Joachim mit dem Klüngel einstiger SED-Funktionäre schmiedet? Eigentlich recht sanft. Der Autor Loest hat seine eigene Meinung über derlei Umtriebe sehr deutlich gemacht, und zwar in seinem Theaterstück "Ratzel speist im ,Falco'". Aber seinem Romanhelden traut er offenbar das genügende Maß an Einsicht, an politischer Klugheit nicht zu. Loest lässt offen, ob Fredis Vaterliebe einer Empörung im Wege steht oder sein Greisenalter.
Mit der gleichen Gelassenheit, mit der er die Umtriebe des Sohnes erwähnt, gedenkt Fredi der SA-Vergangenheit seines Vaters. Gewiss, dieser Vater war kein Verbrecher, nur ein Mitläufer. Und er hat, als im Zweiten Weltkrieg Bomben auf Leipzig fielen, die Paulinerkirche gerettet, die später unter Ulbricht gesprengt wurde. Der Großvater Linden verlor bei dem Rettungsakt sein Leben. Entschuldigt das nicht seine politischen Fehlleistungen? Der Mensch irrt eben, solang er strebt. Das muss wohl auch für den Enkel Linden gelten.
Denkt offensichtlich Vater Fredi. Absolut anders Erich Loest. Er verurteilt die Leute nicht, die er aus der Volksmasse herausgefiltert und geformt hat, aber kennzeichnet sie sehr gründlich, so dass wir die Warnzeichen nicht übersehen können, von denen sie umgeben sind. Wer die Geschichte des Romans zum Exempel nehmen will, so seine Botschaft, der orientiere sich an den Bedingungen, unter denen sie sich abspielt. Der mache sich klar, wie viele Möglichkeiten ein Menschenleben bietet, Fehler zu machen. Schreckliche Fehler, deren Folgen über Generationen weitervererbt werden.
SABINE BRANDT
Erich Loest: "Löwenstadt". Roman. Steidl Verlag, Göttingen 2009. 336 S., geb., 20,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Für Sabine Brandt schreibt Erich Loest mit diesem Roman sein Projekt einer Protokollierung historischer Abläufe um den "Schicksalsort" Leipzig fort. Einen Zeitraum von rund 200 Jahren, von der Völkerschlacht 1813 bis heute, umfasst der Roman und ist laut Brandt getragen sowohl von der alten Loestschen These von der politischen Unbedarftheit der Leipziger, als auch von der Überzeugung, dass die Geschichte daran Mitschuld trägt. Die Botschaft des Textes ist für Brandt eine von Zweifeln an der Kraft des Widerstands getragene, wenngleich nicht völlig pessimistische. Exemplarisch an der aus früheren Texten des Autors bekannten Figur des Fredi Linden sieht sie Loest die Spannung zwischen Hoffnung (auf Einsicht und politische Klugheit) und Bedrohung durch die Verhältnisse weit ausbreiten, gründlich, doch ohne zu verurteilen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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