Zadie Smiths tragikomischer Roman erzählt von vier Londoner:innen - Leah, Natalie, Felix und Nathan -, die zwar den sozialen Wohnungsbau ihrer Kindheit verlassen haben, doch bis zum heutigen Tag im Londoner Nordwesten leben, dem eigentlichen Zentrum der Stadt.
Leah, Natalie, Felix und Nathan wachsen in einer Hochhaussiedlung auf, wie es sie in jeder Großstadt gibt - immer das Ziel vor Augen, Caldwell eines Tages zu verlassen und etwas Größeres, Besseres aus ihrem Leben zu machen. Dreißig Jahre später sind sie zwar erwachsen, doch richtig weit gekommen sind sie nicht. Nur Natalie hat es scheinbar geschafft.
Als erfolgreiche Anwältin gibt sie mit ihrem Mann vornehme Dinnerpartys, auf denen sich ihre weit weniger zielstrebige Freundin Leah und deren Mann Michel alles andere als wohlfühlen. Überhaupt sind Natalie und Leah blind für die Probleme der jeweils anderen und neiden einander das vermeintlich perfekte Leben. Als eine Fremde an Leahs Tür klingelt und sie um Hilfe bittet, überschlagen sich die Ereignisse ...
Zadie Smiths Roman über North West London, das jenseits der Touristenströme liegt, ist ein sehr heutiger, schneller, eindringlicher Text über einen multikulturellen Stadtteil und die Schicksale seiner Bewohner:innen.
Leah, Natalie, Felix und Nathan wachsen in einer Hochhaussiedlung auf, wie es sie in jeder Großstadt gibt - immer das Ziel vor Augen, Caldwell eines Tages zu verlassen und etwas Größeres, Besseres aus ihrem Leben zu machen. Dreißig Jahre später sind sie zwar erwachsen, doch richtig weit gekommen sind sie nicht. Nur Natalie hat es scheinbar geschafft.
Als erfolgreiche Anwältin gibt sie mit ihrem Mann vornehme Dinnerpartys, auf denen sich ihre weit weniger zielstrebige Freundin Leah und deren Mann Michel alles andere als wohlfühlen. Überhaupt sind Natalie und Leah blind für die Probleme der jeweils anderen und neiden einander das vermeintlich perfekte Leben. Als eine Fremde an Leahs Tür klingelt und sie um Hilfe bittet, überschlagen sich die Ereignisse ...
Zadie Smiths Roman über North West London, das jenseits der Touristenströme liegt, ist ein sehr heutiger, schneller, eindringlicher Text über einen multikulturellen Stadtteil und die Schicksale seiner Bewohner:innen.
»Der Scharfsinn der Autorin [...] und ihr Versuch, das unverbundene Lebensgefühl literarisch zu spiegeln, machen das Werk aus.« Felicitas von Lovenberg FAZ 20130731
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.01.2014Deine Beichte ist die pure Selbstsucht, Natalie
Vier Schulfreunde und was aus ihnen wird: In ihrem neuen, an Joyce geschulten Roman "London NW" zeigt die englische Autorin Zadie Smith ihre ganze Klasse - und was eine Klassengesellschaft ist.
Die Party ist auf dem Höhepunkt, im Haus mit den vielen Gästen ebenso wie draußen auf der Straße, wo der jährliche London Carnival in der Augusthitze beginnt. Und weil es manchmal für intime Themen gar nicht laut und überfüllt genug sein kann, stellt Leah eben jetzt dem Mann ihrer besten Freundin eine indiskrete Frage: "Was ist das Geheimnis eures Glücks, Francesco?" Ob sie betrunken sei, fragt der zurück (was sie zweifellos ist), antwortet dann aber doch.
"Wir erzählen uns alles", sagt er, und Leah, die schon seit längerem glaubt, ihre liebste Freundin aus Schultagen an den reichen Banker Francesco und seinen Lebensstil verloren zu haben, muss diese Antwort als Bestätigung ihrer Befürchtung empfinden. Als dann jene Natalie, die zunächst mit den beiden Kindern auf einem der Karnevalswagen mitgefahren war, tatsächlich auch noch auf der Party erscheint, beobachtet Leah die Begegnung zwischen ihr und Francesco: "Sie sieht, wie der Mann seine Frau mustert und die Frau ihren Mann. Sie sieht kein Lächeln, kein Nicken, kein Winken, kein Erkennen, keine Verständigung, kein gar nichts." Ob das nun ein Zeichen ganz besonderer Vertrautheit ist, die Gesten eben nicht mehr nötig hat, oder etwas ganz anderes, bleibt zunächst unerklärt in Zadie Smith' Roman "London NW". Über Leah aber heißt es wenige Sätze später am Ende des Kapitels, sie habe nun überraschenderweise auf der Party "tatsächlich richtig Spaß".
Sieben Jahre ist es her, dass der letzte Roman von Smith erschien. Ihr Debüt "Zähne zeigen" hatte die damals fünfundzwanzigjährige Autorin im Jahr 2000 weltberühmt gemacht, es folgten die Romane "Der Autogrammhändler" und "Von der Schönheit" sowie eine Reihe von Kurzgeschichten und Essays zu literarischen und populärkulturellen Themen.
"London NW" greift weiter aus, und der Roman ist vor allem formal ambitionierter: In fünf Teilen erzählt Smith von vier Londonern zwischen dreißig und vierzig, die alle im selben ärmlichen Viertel zur Schule gegangen sind. Da ist Leah, die Sozialarbeiterin geworden ist und mit ihrem Mann, dem Friseur Michel, nicht weit entfernt der alten Heimat wohnt. Dann die Rechtsanwältin Natalie, die sich den Aufstieg in die Oberschicht hart und, wie es scheint, widerwillig erkämpft hat. Felix, der von einer Filmkarriere träumte und eine Drogensucht überstanden hat. Und schließlich Nathan, ehemals Schulschwarm und angehender Profifußballer, heute Junkie, Dealer und Zuhälter.
Drei Teile des Romans sind jeweils aus der Perspektive von Leah, Felix und Natalie erzählt, ein vierter berichtet von einer langen Begegnung zwischen Natalie und Nathan, der fünfte schließlich führt die ausgelegten Fäden zusammen. Jeder dieser Teile ist unterschiedlich geschrieben, auch die erzählte Zeit umfasst mal einen einzigen Tag, mal ein ganzes Leben, und zwischen durchaus konventionelle narrative Passagen stellt die Autorin immer wieder die Abbildung eines Bewusstseinsstromes und durchsetzt die Gedankenkaskaden gern mit Fetzen aus dem Geschnatter der anderen - nicht nur dort erweist sie Joyce' "Ulysses" ihre Reverenz, und dass man Londons Stadtteil Kilburn ebenso wie Dublin anhand von aneinandergereihten Gerüchen und Geräuschen bestens evozieren kann, zeigt sie auch.
Kilburn also - Straßen, Geschäfte, Busfahrten, aber auch die Erinnerung an Orte oder die Sehnsucht danach, ein bestimmtes Zimmer wiederzusehen: Nichts, was sich hier im überwiegend von Migranten bewohnten Viertel abspielt, ist bloß dekorativ, alles kommt im Wesentlichen so auf uns, wie es der Perspektive der Hauptfiguren entspricht. Was Heimat mit Identität zu tun hat, loten sie hartnäckig aus, und besonders Natalie ist den Verhältnissen ihrer Kindheit mit einer Art Hassliebe verbunden.
Einerseits nimmt sie ihr Studium sehr ernst, um aus all dem herauszukommen, sie ändert irgendwann sogar ihren Namen (getauft wurde sie "Keisha"), lässt die laufbahngefährdende Rebellion ihrer Busenfreundin Leah an sich vorübergehen und weiß die Möglichkeiten durchaus zu schätzen, die der gewonnene Status ihr und vor allem ihrer Familie bietet. Andererseits besitzt die farbige Aufsteigerin ein profundes Klassenbewusstsein und arbeitet zunächst in einer Organisation, die sich für soziale Belange einsetzt - und als sie später dann doch auf die andere Seite wechselt, nicht zuletzt, um die Ihren zu unterstützen, sieht sie mit Leid und Bedauern, dass eine Kollegin sich für Benachteiligte einsetzen und trotzdem glänzend verdienen kann. All das gerät kurz ins Wanken, schließlich spielt der Roman in wesentlichen Teilen zwischen der Lehman-Pleite von 2008 und dem Ausbruch des isländischen Vulkans Eyjafjallajökull im Frühling 2010, und die latente Unsicherheit Natalies findet ihr Ventil nicht zuletzt in bohrenden Fragen an Francesco, der auf undurchsichtige Weise im Bankensektor arbeitet.
So liest sich der Teil des Buches, der Natalies Werdegang gewidmet ist, mit seinen 185 kurzen, klar strukturierten Kapiteln wie eine nachträgliche Rekapitulation der Erfolgsanwältin darüber, warum ihr Leben nun in Scherben liegt - wie es kam, dass sie sich selbst immer weiter abhandenkam, dass sie auf dubiose Sex-Anzeigen antwortete und nun ihrem Mann, der aus allen Wolken fällt, einen langen Brief schreibt. Allerdings weigert sich Francesco, den zu lesen. "Beichten ist Eigennutz", sagt er, wenige Stunden bevor er der nichtsahnenden Leah das Geheimnis seiner vermeintlichen glücklichen Ehe verrät. Und ihn die raffinierte Autorin damit post festum als Zyniker entlarvt. Denn wie es um Natalie und Francesco wirklich steht, kommt erst einige hundert Seiten nach der Karnevalsszene zur Sprache.
Die Frage aber, ob richtig ist, was man da Tag für Tag, Jahr für Jahr tut, prägt das Leben der Hauptfiguren in unterschiedlicher Weise. Und damit natürlich auch die Frage, was an unserem Leben Schicksal ist und was wir selbst herbeigeführt haben. Nathalies Antwort darauf ist eindeutig: Ihr selbst gehe es gut, sagt sie, weil sie "härter gearbeitet" habe, weil sie "klüger" sei, weil sie gewusst habe, dass sie "nicht irgendwann bei anderen Leuten an der Tür betteln" wollte. Und wer dabei auf der Strecke bleibt, habe sich das in gewisser Weise selbst zuzuschreiben. Der ebenfalls farbige Junkie Nathan schiebt dagegen alles auf eine Gesellschaft, die ihn schon früh ausgegrenzt hat, und auf seinen Körper, der den Anforderungen des Profifußballs nicht gewachsen war. Felix schließlich berauscht sich am Gedanken, die Dinge selbst in die Hand nehmen zu können, und wird - eine der vielen bitteren Pointen des Romans - auf der Straße erstochen, weil er sein Gespür für Gefahren verloren hat.
Natürlich wird das alles nicht zufällig am Beispiel von Menschen erzählt, die nach ersten beruflichen Erfolgen oder kurz nach der Geburt des ersten Kindes innehalten und eine Art Zwischenbilanz ziehen. "Alles, was passiert, dient auch nur dazu, die Möglichkeiten all dessen, was nicht passiert, grauenhaft einzuschränken", heißt es einmal. Dagegen könne man sich auflehnen, glauben die einen, jetzt, wo es immerhin noch Möglichkeiten gebe. "Vielleicht ist es ja nicht so schlimm, dass das Leben nie zu etwas Überlebensgroßem erblüht ist", sagen die anderen.
Nur dass unter den vielen Entscheidungen, die man trifft, diejenige, Kinder zu bekommen, tatsächlich unwiderruflich ist. Und dass der wirkliche oder auch nur vorgestellte Druck der Umwelt auf die noch kinderlosen Freundinnen Natalie und Leah in diesem Roman wiederum ganz unterschiedliche Konsequenzen hat - schließlich geht es auch in der Kinderfrage um Lebensentwürfe, um die Identität auch der möglichen Eltern: "Natalie Blake und Leah Hanwell waren der Überzeugung, dass man versuchte, sie zur Fortpflanzung zu zwingen. Verwandte, Wildfremde auf der Straße, Leute aus dem Fernsehen, alle. Die Verschwörung ging allerdings noch weiter, als Hanwell vermutete. Blake spielte ein doppeltes Spiel. Sie hatte nicht vor, sich zu blamieren, indem sie nicht tat, was von ihr erwartet wurde. Für sie war es nur eine Frage des Zeitpunkts."
Die Freundschaft zwischen Natalie und Leah scheint auch dies zu überstehen, allerdings mit der Folge, dass Leah nun mit niemandem mehr ihre Einstellung zum Kinderkriegen diskutieren kann. Und die Autorin setzt diskret Hinweise, wie tief Leahs Haltung verwurzelt ist, etwa bei einem Besuch einer aus dem Mittelalter überkommenen Kirche mit einer schwarzen Madonna, die Leah Angst einjagt. Später wird sie sich ihrem Mann gegenüber bereit erklären, die Pille abzusetzen (und sie trotzdem heimlich nehmen), sie wird sogar eine Abtreibung vornehmen lassen und dann, als ihr Mann alles herausfindet, die zum Trost herbeigeeilte Natalie beschimpfen. Mit ihren zwei Kindern sehe Natalie aus wie die "Mutter Gottes", sagt Leah. Freundlich meint sie das nicht.
Eindeutigkeit ist in diesem Geflecht aus Erzählungen nicht zu haben, auch nicht Urteile der Autorin in den Fragen, die ihre Protagonisten bewegen. Stattdessen stellt sie Lebensentwürfe dar, intelligent und witzig, poetisch und voller Sinnlichkeit, und weil ihre Verweise zwischen den Protagonisten und zwischen den einzelnen Teilen des Buchs so stilsicher wie diskret sind, ist die erste Lektüre des Romans aufregend, die zweite erhellend und die dritte voller staunenswerter Details, die man zuvor übersehen hatte.
Und schließlich wird man auch der tristen Siedlung Caldwell etwas abgewinnen können, dem Ort, aus dem die Figuren dieses Buchs mit wechselndem Geschick zu flüchten versuchen und den sie doch nicht loswerden. Denn als die aufstrebende Natalie mit ihrem reichen Mann nach der Geburt des ersten Kindes im Krankenhaus liegt, kommen die Besucher aus dem alten wie aus dem neuen Leben. Beide Gruppen haben Ratschläge an die junge Mutter im Gepäck: "Wer aus Caldwell kam, fand, alles sei bestens, solange man das Kind nicht gerade die Treppe runterwarf. Wer nicht aus Caldwell kam, fand, nichts sei bestens, wenn nicht alles absolut perfekt gemacht wurde, und selbst dann gab es noch keine Garantie." Und Natalie? "Sie war selten so froh gewesen, Leute aus Caldwell zu sehen."
TILMAN SPRECKELSEN.
Zadie Smith: "London NW". Roman.
Aus dem Englischen von Tanja Handels. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2014. 429 S., geb., 19,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Vier Schulfreunde und was aus ihnen wird: In ihrem neuen, an Joyce geschulten Roman "London NW" zeigt die englische Autorin Zadie Smith ihre ganze Klasse - und was eine Klassengesellschaft ist.
Die Party ist auf dem Höhepunkt, im Haus mit den vielen Gästen ebenso wie draußen auf der Straße, wo der jährliche London Carnival in der Augusthitze beginnt. Und weil es manchmal für intime Themen gar nicht laut und überfüllt genug sein kann, stellt Leah eben jetzt dem Mann ihrer besten Freundin eine indiskrete Frage: "Was ist das Geheimnis eures Glücks, Francesco?" Ob sie betrunken sei, fragt der zurück (was sie zweifellos ist), antwortet dann aber doch.
"Wir erzählen uns alles", sagt er, und Leah, die schon seit längerem glaubt, ihre liebste Freundin aus Schultagen an den reichen Banker Francesco und seinen Lebensstil verloren zu haben, muss diese Antwort als Bestätigung ihrer Befürchtung empfinden. Als dann jene Natalie, die zunächst mit den beiden Kindern auf einem der Karnevalswagen mitgefahren war, tatsächlich auch noch auf der Party erscheint, beobachtet Leah die Begegnung zwischen ihr und Francesco: "Sie sieht, wie der Mann seine Frau mustert und die Frau ihren Mann. Sie sieht kein Lächeln, kein Nicken, kein Winken, kein Erkennen, keine Verständigung, kein gar nichts." Ob das nun ein Zeichen ganz besonderer Vertrautheit ist, die Gesten eben nicht mehr nötig hat, oder etwas ganz anderes, bleibt zunächst unerklärt in Zadie Smith' Roman "London NW". Über Leah aber heißt es wenige Sätze später am Ende des Kapitels, sie habe nun überraschenderweise auf der Party "tatsächlich richtig Spaß".
Sieben Jahre ist es her, dass der letzte Roman von Smith erschien. Ihr Debüt "Zähne zeigen" hatte die damals fünfundzwanzigjährige Autorin im Jahr 2000 weltberühmt gemacht, es folgten die Romane "Der Autogrammhändler" und "Von der Schönheit" sowie eine Reihe von Kurzgeschichten und Essays zu literarischen und populärkulturellen Themen.
"London NW" greift weiter aus, und der Roman ist vor allem formal ambitionierter: In fünf Teilen erzählt Smith von vier Londonern zwischen dreißig und vierzig, die alle im selben ärmlichen Viertel zur Schule gegangen sind. Da ist Leah, die Sozialarbeiterin geworden ist und mit ihrem Mann, dem Friseur Michel, nicht weit entfernt der alten Heimat wohnt. Dann die Rechtsanwältin Natalie, die sich den Aufstieg in die Oberschicht hart und, wie es scheint, widerwillig erkämpft hat. Felix, der von einer Filmkarriere träumte und eine Drogensucht überstanden hat. Und schließlich Nathan, ehemals Schulschwarm und angehender Profifußballer, heute Junkie, Dealer und Zuhälter.
Drei Teile des Romans sind jeweils aus der Perspektive von Leah, Felix und Natalie erzählt, ein vierter berichtet von einer langen Begegnung zwischen Natalie und Nathan, der fünfte schließlich führt die ausgelegten Fäden zusammen. Jeder dieser Teile ist unterschiedlich geschrieben, auch die erzählte Zeit umfasst mal einen einzigen Tag, mal ein ganzes Leben, und zwischen durchaus konventionelle narrative Passagen stellt die Autorin immer wieder die Abbildung eines Bewusstseinsstromes und durchsetzt die Gedankenkaskaden gern mit Fetzen aus dem Geschnatter der anderen - nicht nur dort erweist sie Joyce' "Ulysses" ihre Reverenz, und dass man Londons Stadtteil Kilburn ebenso wie Dublin anhand von aneinandergereihten Gerüchen und Geräuschen bestens evozieren kann, zeigt sie auch.
Kilburn also - Straßen, Geschäfte, Busfahrten, aber auch die Erinnerung an Orte oder die Sehnsucht danach, ein bestimmtes Zimmer wiederzusehen: Nichts, was sich hier im überwiegend von Migranten bewohnten Viertel abspielt, ist bloß dekorativ, alles kommt im Wesentlichen so auf uns, wie es der Perspektive der Hauptfiguren entspricht. Was Heimat mit Identität zu tun hat, loten sie hartnäckig aus, und besonders Natalie ist den Verhältnissen ihrer Kindheit mit einer Art Hassliebe verbunden.
Einerseits nimmt sie ihr Studium sehr ernst, um aus all dem herauszukommen, sie ändert irgendwann sogar ihren Namen (getauft wurde sie "Keisha"), lässt die laufbahngefährdende Rebellion ihrer Busenfreundin Leah an sich vorübergehen und weiß die Möglichkeiten durchaus zu schätzen, die der gewonnene Status ihr und vor allem ihrer Familie bietet. Andererseits besitzt die farbige Aufsteigerin ein profundes Klassenbewusstsein und arbeitet zunächst in einer Organisation, die sich für soziale Belange einsetzt - und als sie später dann doch auf die andere Seite wechselt, nicht zuletzt, um die Ihren zu unterstützen, sieht sie mit Leid und Bedauern, dass eine Kollegin sich für Benachteiligte einsetzen und trotzdem glänzend verdienen kann. All das gerät kurz ins Wanken, schließlich spielt der Roman in wesentlichen Teilen zwischen der Lehman-Pleite von 2008 und dem Ausbruch des isländischen Vulkans Eyjafjallajökull im Frühling 2010, und die latente Unsicherheit Natalies findet ihr Ventil nicht zuletzt in bohrenden Fragen an Francesco, der auf undurchsichtige Weise im Bankensektor arbeitet.
So liest sich der Teil des Buches, der Natalies Werdegang gewidmet ist, mit seinen 185 kurzen, klar strukturierten Kapiteln wie eine nachträgliche Rekapitulation der Erfolgsanwältin darüber, warum ihr Leben nun in Scherben liegt - wie es kam, dass sie sich selbst immer weiter abhandenkam, dass sie auf dubiose Sex-Anzeigen antwortete und nun ihrem Mann, der aus allen Wolken fällt, einen langen Brief schreibt. Allerdings weigert sich Francesco, den zu lesen. "Beichten ist Eigennutz", sagt er, wenige Stunden bevor er der nichtsahnenden Leah das Geheimnis seiner vermeintlichen glücklichen Ehe verrät. Und ihn die raffinierte Autorin damit post festum als Zyniker entlarvt. Denn wie es um Natalie und Francesco wirklich steht, kommt erst einige hundert Seiten nach der Karnevalsszene zur Sprache.
Die Frage aber, ob richtig ist, was man da Tag für Tag, Jahr für Jahr tut, prägt das Leben der Hauptfiguren in unterschiedlicher Weise. Und damit natürlich auch die Frage, was an unserem Leben Schicksal ist und was wir selbst herbeigeführt haben. Nathalies Antwort darauf ist eindeutig: Ihr selbst gehe es gut, sagt sie, weil sie "härter gearbeitet" habe, weil sie "klüger" sei, weil sie gewusst habe, dass sie "nicht irgendwann bei anderen Leuten an der Tür betteln" wollte. Und wer dabei auf der Strecke bleibt, habe sich das in gewisser Weise selbst zuzuschreiben. Der ebenfalls farbige Junkie Nathan schiebt dagegen alles auf eine Gesellschaft, die ihn schon früh ausgegrenzt hat, und auf seinen Körper, der den Anforderungen des Profifußballs nicht gewachsen war. Felix schließlich berauscht sich am Gedanken, die Dinge selbst in die Hand nehmen zu können, und wird - eine der vielen bitteren Pointen des Romans - auf der Straße erstochen, weil er sein Gespür für Gefahren verloren hat.
Natürlich wird das alles nicht zufällig am Beispiel von Menschen erzählt, die nach ersten beruflichen Erfolgen oder kurz nach der Geburt des ersten Kindes innehalten und eine Art Zwischenbilanz ziehen. "Alles, was passiert, dient auch nur dazu, die Möglichkeiten all dessen, was nicht passiert, grauenhaft einzuschränken", heißt es einmal. Dagegen könne man sich auflehnen, glauben die einen, jetzt, wo es immerhin noch Möglichkeiten gebe. "Vielleicht ist es ja nicht so schlimm, dass das Leben nie zu etwas Überlebensgroßem erblüht ist", sagen die anderen.
Nur dass unter den vielen Entscheidungen, die man trifft, diejenige, Kinder zu bekommen, tatsächlich unwiderruflich ist. Und dass der wirkliche oder auch nur vorgestellte Druck der Umwelt auf die noch kinderlosen Freundinnen Natalie und Leah in diesem Roman wiederum ganz unterschiedliche Konsequenzen hat - schließlich geht es auch in der Kinderfrage um Lebensentwürfe, um die Identität auch der möglichen Eltern: "Natalie Blake und Leah Hanwell waren der Überzeugung, dass man versuchte, sie zur Fortpflanzung zu zwingen. Verwandte, Wildfremde auf der Straße, Leute aus dem Fernsehen, alle. Die Verschwörung ging allerdings noch weiter, als Hanwell vermutete. Blake spielte ein doppeltes Spiel. Sie hatte nicht vor, sich zu blamieren, indem sie nicht tat, was von ihr erwartet wurde. Für sie war es nur eine Frage des Zeitpunkts."
Die Freundschaft zwischen Natalie und Leah scheint auch dies zu überstehen, allerdings mit der Folge, dass Leah nun mit niemandem mehr ihre Einstellung zum Kinderkriegen diskutieren kann. Und die Autorin setzt diskret Hinweise, wie tief Leahs Haltung verwurzelt ist, etwa bei einem Besuch einer aus dem Mittelalter überkommenen Kirche mit einer schwarzen Madonna, die Leah Angst einjagt. Später wird sie sich ihrem Mann gegenüber bereit erklären, die Pille abzusetzen (und sie trotzdem heimlich nehmen), sie wird sogar eine Abtreibung vornehmen lassen und dann, als ihr Mann alles herausfindet, die zum Trost herbeigeeilte Natalie beschimpfen. Mit ihren zwei Kindern sehe Natalie aus wie die "Mutter Gottes", sagt Leah. Freundlich meint sie das nicht.
Eindeutigkeit ist in diesem Geflecht aus Erzählungen nicht zu haben, auch nicht Urteile der Autorin in den Fragen, die ihre Protagonisten bewegen. Stattdessen stellt sie Lebensentwürfe dar, intelligent und witzig, poetisch und voller Sinnlichkeit, und weil ihre Verweise zwischen den Protagonisten und zwischen den einzelnen Teilen des Buchs so stilsicher wie diskret sind, ist die erste Lektüre des Romans aufregend, die zweite erhellend und die dritte voller staunenswerter Details, die man zuvor übersehen hatte.
Und schließlich wird man auch der tristen Siedlung Caldwell etwas abgewinnen können, dem Ort, aus dem die Figuren dieses Buchs mit wechselndem Geschick zu flüchten versuchen und den sie doch nicht loswerden. Denn als die aufstrebende Natalie mit ihrem reichen Mann nach der Geburt des ersten Kindes im Krankenhaus liegt, kommen die Besucher aus dem alten wie aus dem neuen Leben. Beide Gruppen haben Ratschläge an die junge Mutter im Gepäck: "Wer aus Caldwell kam, fand, alles sei bestens, solange man das Kind nicht gerade die Treppe runterwarf. Wer nicht aus Caldwell kam, fand, nichts sei bestens, wenn nicht alles absolut perfekt gemacht wurde, und selbst dann gab es noch keine Garantie." Und Natalie? "Sie war selten so froh gewesen, Leute aus Caldwell zu sehen."
TILMAN SPRECKELSEN.
Zadie Smith: "London NW". Roman.
Aus dem Englischen von Tanja Handels. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2014. 429 S., geb., 19,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Gleich drei mal hat Rezensent Tilman Spreckelsen Zadie Smith' neuen Roman "London NW" gelesen und scheint nach wie vor gleichermaßen fasziniert von diesem Buch über vier dreißig bis vierzig Jahre alte Londoner, die sich alle aus der Schulzeit in einem Armenviertel kennen und ganz unterschiedlich entwickelt haben. Er beobachtet etwa, wie Nathalie, die als Anwältin Karriere gemacht hat, ihr Leben und ihre Ehe schrittweise zugrunde richtet, wie Felix gegen seine Drogensucht und für seine Schauspielkarriere kämpft, Nathan vom aufstrebenden Profifußballer zum Junkie, Dealer und Zuhälter abrutscht oder die Sozialarbeiterin Leah sich mit heimlicher Einnahme der Pille und einer Abtreibung vor dem Kinderwunsch ihres Mannes schützt. Ganz gebannt liest der Kritiker die unterschiedlich scheiternden Lebensentwürfe, von denen Smith nicht nur humorvoll und klug, sondern auch sinnlich und voller Poesie erzählt. Schließlich scheut der Rezensent auch den Vergleich mit Joyces "Ulysses" nicht.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 09.01.2014IDer Frust der
mittleren Jahre
In „London NW“ schildert
Zadie Smith wieder das multiethnische Leben
der Großstadt. Aber der Ton ist härter,
ja herzloser geworden
VON JOHAN SCHLOEMANN
Kilburn High Road. Das ist eine dieser nicht so feinen Durchgangsstraßen, in denen London am meisten London ist. Zu ebener Erde die bunte Kette von schnell wechselnden Läden: Maniküre und künstliche Wimpern, frittierte Hähnchenteile, Kaffee und Sandwiches, Zeitschriften, Klamotten, Mobiltelefone, Drogeriewaren. A nation of shopkeepers . Und eine Nation der Einwanderer. Darüber dann, auf der Höhe des Oberdecks der Doppeldeckerbusse, zwei, drei Stockwerke, die nicht zu den attraktivsten Immobilien der Stadt zählen, weil der ewige Verkehr an ihnen vorbeidonnert. Obendrauf ein Wald von Antennen, Funkmasten und alten Schornsteinen. Und drumherum ein Nebeneinander von trostlosen Wohnblöcken und fiesen Ecken einerseits und den gleichförmigen Nebenstraßen mit den viktorianischen Reihenhäusern andererseits, die auch hier immer teurer werden.
Kaum länger, so fühlt es sich an, als ein Doppeldeckerbus braucht, die Kilburn High Road zu durchmessen, dauert es, den neuen Roman von Zadie Smith durchzulesen. Das Buch, das in dieser Gegend spielt, in der die Autorin aufgewachsen ist, und das nach dem postalischen Kürzel des Nordwestens der Stadt „NW“ benannt ist, dieses Buch ist sehr kurzweilig. Das liegt nicht bloß an der Haltlosigkeit seines Personals und an dessen immer wieder wechselnder Scharfstellung, die dem Tempo und der Vielstimmigkeit der Großstadt folgt. Es liegt auch am narrativen Stil im Einzelnen: weniger sanft fortlaufende Erzählprosa wie in Smiths früheren Büchern, schnelle Assoziationen und Schnitte, ein Stakkato der Eindrücke, der kurzen Sätze, Dialoge und Einzelszenen, eine wilde Mischung aus Literatur- und Straßensprache. Daraus wird beim Lesen aber kein Holpern und Stolpern, sondern ein Flow.
Milde, einfühlsame, humor- und liebevolle Töne sind jetzt allerdings eher rar bei Zadie Smith, die seit ihrem Welterfolg „White Teeth“ („Zähne zeigen“) im Jahr 2000 das Leben in der multiethnischen Gegenwart beschreibt. Nein, hier ist alles ein Kampf um wirtschaftlichen Aufstieg und Lebensglück, was, wie sich bald erweist, nur scheinbar dasselbe ist. Die Klassengegensätze, die ehelichen Frustrationen und die sonstigen Spannungen spielen sich längst nicht mehr nur zwischen den ethnischen Gruppen ab – den Jamaikanern, den Nigerianern, den Irischstämmigen, den weißen Engländern – sondern innerhalb derselben Herkünfte. Weil die gnadenlose Dynamik der Ökonomie, der Lebensentscheidungen und Netzwerke den einen nach oben, den anderen nach unten bringt, wird die Ressource der Solidarität auch in den kulturellen Minderheiten knapp.
Zwar spielt das Herkunftsmilieu in den meisten Fällen immer noch die entscheidende Rolle, wie folgender Dialog zeigt: „,Wie kommt es eigentlich, dass alle von eurer Schule cracksüchtige Kriminelle geworden sind?’ – ,Und wie kommt’s, dass alle von deiner im Tory-Kabinett sitzen?‘“ – Aber da ist auch der Fall von Natalie, die sich in der Kindheit Keisha nannte – Tochter einer Jamaikanerin wie Zadie Smith –, die es aus eigenem Antrieb zur Universität und zu einem Job als Anwältin schafft. Natalie heiratet den reichen Francesco de Angelis, der ohne übermäßigen Durchblick als Investmentbanker arbeitet, sie zieht in eine bessere Gegend, und bald schon hat sie ein brasilianisches Kindermädchen, das überrascht ist, dass ihre Arbeitgeberin schwärzere Haut hat als sie selber.
Natalie strengt sich ungemein an mit ihrer Selbstdarstellung: „Tochter-Rolle. Schwester-Rolle. Mutter-Rolle. Ehefrau-Rolle. Anwältinnen-Rolle. Reichen-Rolle. Armen-Rolle. Briten-Rolle. Jamaika-Rolle. Jede Rolle verlangte eine andere Kostümierung.“ Doch Natalie, die es doch „geschafft“ hat, wird nicht glücklich. In einem Ausbruchsversuch verabredet sie sich auf Sex-Seiten im Internet zu privaten Swingertreffen. Bevor klar ist, wohin das führt, erfährt ihr Mann davon und wird sehr zornig. Natalies Abdriften wird dann in einer ziellosen nächtlichen Wanderung vorgeführt, zusammen mit einem drogenabhängigen früheren Schulfreund und Jugendschwarm, der in der Gosse gelandet ist.
Die zweite weibliche Hauptperson ist Natalies alte Freundin Leah. Zu den virtuosesten, musikalischsten Partien dieses Romans gehört die Schilderung der parallelen (Auseinander-)Entwicklung der aufwachsenden Teenagerfreundinnen. In einem atemlosen Hin und Her malt Zadie Smith wunderbare kleine Charakterbilder und fängt Zeitstimmungen ein. Leah, die weiß ist, stammt von Einwanderern aus Irland ab. Sie ist im Viertel geblieben und hat einen bescheidenen Job in der Kommunalverwaltung. Das ist im Vergleich zu den herumstreunenden Drogendealern und Tagelöhnern, die auf dieselbe Schule gegangen sind wie Natalie und Leah, nicht nichts. Aber auch Leah ist frustriert, sie hat mehrere Abtreibungen hinter sich, weil sie mit ihrem französischen Mann und überhaupt irgendwie keine Kinder haben will. Sie hängt an ihrer Verpflichtungs- und Ehrgeizlosigkeit und leidet doch am Vergleich mit Natalies wohlhabender Familie. Darüber, wie Leah nach oben auf die „besseren“ Kreise und zur Seite auf ihren Mann Michel blickt, heißt es einmal, im Stillen zum Mann gesprochen: „Insgeheim denkt sie: Du willst so reich sein wie die, aber ihre Moral ist dir zu viel Aufwand, während ich mich eher für ihre Moral interessiere als für ihr Geld, und dieser Gedanke, dieser Gegensatz, gibt ihr ein gutes Gefühl.“ Es ist kein nachhaltiges Gefühl.
Als der „NW“-Roman im letzten Jahr im Original erschien, wurde er in der englischsprachigen Presse groß gefeiert. Das mag auch daran gelegen haben, dass es der erste Roman von Zadie Smith seit sieben Jahren war, seit dem in Amerika spielenden Buch „On Beauty“ („Von der Schönheit“, deutsch 2006 erschienen). Aber ein ganz großes Meisterwerk ist „London NW“ nicht. Gewiss muss man die Autorin dafür bewundern, wie sie den Rhythmus, die Polyphonie, die Zumutungen und kleinen Freuden des Lebens rund um die Kilburn High Road in souveräner, illusionsloser und niemals behäbiger Prosa abbildet; allein deshalb schon lohnt sich die Lektüre.
Doch bei aller Uptempo-Milieu-Authentizität wirkt das Ganze doch ein wenig steif und konstruiert, um nicht zu sagen: herzlos. Fast hat man den Eindruck, Zadie Smith wolle nach ihren amerikanischen Gastprofessuren und dem Verfassen literaturgeschichtlicher Essays unbedingt demonstrieren, dass sie die ganz harte multikulturelle Großstadt-Tour immer noch drauf hat. Natürlich wird jeder London-Roman seit Charles Dickens immer auch von den irren Gegensätzen dieser Stadt handeln, von Wohlstand, Chancenlosigkeit und der Mobilität dazwischen. Aber hier drohen die Lebensgeschichten und Charaktere – ähnlich wie in John Lanchesters großem London-Roman „Kapital“ (2012) – zur bloßen Illustration sozioökonomischer Fakten zu werden. Die Vielfalt der Sichtweisen ist groß, doch am Ende ist alles nur noch Perspektivlosigkeit. Wenn die rasante Lektüre vorbei ist, ist man sehr unsicher, ob das ein Problem des Lebens in der Stadt oder ein Problem der Erzählung ist.
Zadie Smith: London NW. Roman. Aus dem Englischen von Tanja Handels. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2014. 429 Seiten, 22,99 Euro, E-Book 19,99 Euro.
Natalie hat es „geschafft“,
glücklich wird sie nicht
Dies ist der erste Roman von
Zadie Smith seit sieben Jahren
Foto: Alex Macnaughton/REX
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mittleren Jahre
In „London NW“ schildert
Zadie Smith wieder das multiethnische Leben
der Großstadt. Aber der Ton ist härter,
ja herzloser geworden
VON JOHAN SCHLOEMANN
Kilburn High Road. Das ist eine dieser nicht so feinen Durchgangsstraßen, in denen London am meisten London ist. Zu ebener Erde die bunte Kette von schnell wechselnden Läden: Maniküre und künstliche Wimpern, frittierte Hähnchenteile, Kaffee und Sandwiches, Zeitschriften, Klamotten, Mobiltelefone, Drogeriewaren. A nation of shopkeepers . Und eine Nation der Einwanderer. Darüber dann, auf der Höhe des Oberdecks der Doppeldeckerbusse, zwei, drei Stockwerke, die nicht zu den attraktivsten Immobilien der Stadt zählen, weil der ewige Verkehr an ihnen vorbeidonnert. Obendrauf ein Wald von Antennen, Funkmasten und alten Schornsteinen. Und drumherum ein Nebeneinander von trostlosen Wohnblöcken und fiesen Ecken einerseits und den gleichförmigen Nebenstraßen mit den viktorianischen Reihenhäusern andererseits, die auch hier immer teurer werden.
Kaum länger, so fühlt es sich an, als ein Doppeldeckerbus braucht, die Kilburn High Road zu durchmessen, dauert es, den neuen Roman von Zadie Smith durchzulesen. Das Buch, das in dieser Gegend spielt, in der die Autorin aufgewachsen ist, und das nach dem postalischen Kürzel des Nordwestens der Stadt „NW“ benannt ist, dieses Buch ist sehr kurzweilig. Das liegt nicht bloß an der Haltlosigkeit seines Personals und an dessen immer wieder wechselnder Scharfstellung, die dem Tempo und der Vielstimmigkeit der Großstadt folgt. Es liegt auch am narrativen Stil im Einzelnen: weniger sanft fortlaufende Erzählprosa wie in Smiths früheren Büchern, schnelle Assoziationen und Schnitte, ein Stakkato der Eindrücke, der kurzen Sätze, Dialoge und Einzelszenen, eine wilde Mischung aus Literatur- und Straßensprache. Daraus wird beim Lesen aber kein Holpern und Stolpern, sondern ein Flow.
Milde, einfühlsame, humor- und liebevolle Töne sind jetzt allerdings eher rar bei Zadie Smith, die seit ihrem Welterfolg „White Teeth“ („Zähne zeigen“) im Jahr 2000 das Leben in der multiethnischen Gegenwart beschreibt. Nein, hier ist alles ein Kampf um wirtschaftlichen Aufstieg und Lebensglück, was, wie sich bald erweist, nur scheinbar dasselbe ist. Die Klassengegensätze, die ehelichen Frustrationen und die sonstigen Spannungen spielen sich längst nicht mehr nur zwischen den ethnischen Gruppen ab – den Jamaikanern, den Nigerianern, den Irischstämmigen, den weißen Engländern – sondern innerhalb derselben Herkünfte. Weil die gnadenlose Dynamik der Ökonomie, der Lebensentscheidungen und Netzwerke den einen nach oben, den anderen nach unten bringt, wird die Ressource der Solidarität auch in den kulturellen Minderheiten knapp.
Zwar spielt das Herkunftsmilieu in den meisten Fällen immer noch die entscheidende Rolle, wie folgender Dialog zeigt: „,Wie kommt es eigentlich, dass alle von eurer Schule cracksüchtige Kriminelle geworden sind?’ – ,Und wie kommt’s, dass alle von deiner im Tory-Kabinett sitzen?‘“ – Aber da ist auch der Fall von Natalie, die sich in der Kindheit Keisha nannte – Tochter einer Jamaikanerin wie Zadie Smith –, die es aus eigenem Antrieb zur Universität und zu einem Job als Anwältin schafft. Natalie heiratet den reichen Francesco de Angelis, der ohne übermäßigen Durchblick als Investmentbanker arbeitet, sie zieht in eine bessere Gegend, und bald schon hat sie ein brasilianisches Kindermädchen, das überrascht ist, dass ihre Arbeitgeberin schwärzere Haut hat als sie selber.
Natalie strengt sich ungemein an mit ihrer Selbstdarstellung: „Tochter-Rolle. Schwester-Rolle. Mutter-Rolle. Ehefrau-Rolle. Anwältinnen-Rolle. Reichen-Rolle. Armen-Rolle. Briten-Rolle. Jamaika-Rolle. Jede Rolle verlangte eine andere Kostümierung.“ Doch Natalie, die es doch „geschafft“ hat, wird nicht glücklich. In einem Ausbruchsversuch verabredet sie sich auf Sex-Seiten im Internet zu privaten Swingertreffen. Bevor klar ist, wohin das führt, erfährt ihr Mann davon und wird sehr zornig. Natalies Abdriften wird dann in einer ziellosen nächtlichen Wanderung vorgeführt, zusammen mit einem drogenabhängigen früheren Schulfreund und Jugendschwarm, der in der Gosse gelandet ist.
Die zweite weibliche Hauptperson ist Natalies alte Freundin Leah. Zu den virtuosesten, musikalischsten Partien dieses Romans gehört die Schilderung der parallelen (Auseinander-)Entwicklung der aufwachsenden Teenagerfreundinnen. In einem atemlosen Hin und Her malt Zadie Smith wunderbare kleine Charakterbilder und fängt Zeitstimmungen ein. Leah, die weiß ist, stammt von Einwanderern aus Irland ab. Sie ist im Viertel geblieben und hat einen bescheidenen Job in der Kommunalverwaltung. Das ist im Vergleich zu den herumstreunenden Drogendealern und Tagelöhnern, die auf dieselbe Schule gegangen sind wie Natalie und Leah, nicht nichts. Aber auch Leah ist frustriert, sie hat mehrere Abtreibungen hinter sich, weil sie mit ihrem französischen Mann und überhaupt irgendwie keine Kinder haben will. Sie hängt an ihrer Verpflichtungs- und Ehrgeizlosigkeit und leidet doch am Vergleich mit Natalies wohlhabender Familie. Darüber, wie Leah nach oben auf die „besseren“ Kreise und zur Seite auf ihren Mann Michel blickt, heißt es einmal, im Stillen zum Mann gesprochen: „Insgeheim denkt sie: Du willst so reich sein wie die, aber ihre Moral ist dir zu viel Aufwand, während ich mich eher für ihre Moral interessiere als für ihr Geld, und dieser Gedanke, dieser Gegensatz, gibt ihr ein gutes Gefühl.“ Es ist kein nachhaltiges Gefühl.
Als der „NW“-Roman im letzten Jahr im Original erschien, wurde er in der englischsprachigen Presse groß gefeiert. Das mag auch daran gelegen haben, dass es der erste Roman von Zadie Smith seit sieben Jahren war, seit dem in Amerika spielenden Buch „On Beauty“ („Von der Schönheit“, deutsch 2006 erschienen). Aber ein ganz großes Meisterwerk ist „London NW“ nicht. Gewiss muss man die Autorin dafür bewundern, wie sie den Rhythmus, die Polyphonie, die Zumutungen und kleinen Freuden des Lebens rund um die Kilburn High Road in souveräner, illusionsloser und niemals behäbiger Prosa abbildet; allein deshalb schon lohnt sich die Lektüre.
Doch bei aller Uptempo-Milieu-Authentizität wirkt das Ganze doch ein wenig steif und konstruiert, um nicht zu sagen: herzlos. Fast hat man den Eindruck, Zadie Smith wolle nach ihren amerikanischen Gastprofessuren und dem Verfassen literaturgeschichtlicher Essays unbedingt demonstrieren, dass sie die ganz harte multikulturelle Großstadt-Tour immer noch drauf hat. Natürlich wird jeder London-Roman seit Charles Dickens immer auch von den irren Gegensätzen dieser Stadt handeln, von Wohlstand, Chancenlosigkeit und der Mobilität dazwischen. Aber hier drohen die Lebensgeschichten und Charaktere – ähnlich wie in John Lanchesters großem London-Roman „Kapital“ (2012) – zur bloßen Illustration sozioökonomischer Fakten zu werden. Die Vielfalt der Sichtweisen ist groß, doch am Ende ist alles nur noch Perspektivlosigkeit. Wenn die rasante Lektüre vorbei ist, ist man sehr unsicher, ob das ein Problem des Lebens in der Stadt oder ein Problem der Erzählung ist.
Zadie Smith: London NW. Roman. Aus dem Englischen von Tanja Handels. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2014. 429 Seiten, 22,99 Euro, E-Book 19,99 Euro.
Natalie hat es „geschafft“,
glücklich wird sie nicht
Dies ist der erste Roman von
Zadie Smith seit sieben Jahren
Foto: Alex Macnaughton/REX
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