Gerhard beschreibt die mentalitäts-, ästhetik- und kompositionsgeschichtlichen Ansätze, die wirtschaftlichen Voraussetzungen des Musikmarkts und die klassizistische Kunsttheorie in London. Der Autor eröffnet einen neuen Blick auf das enge Wechselverhältnis von Musikmarkt, Musikästhetik und Kompositionspraxis der Klassik, deren Geschichte um 1780 in London beginnt.
London, die musikalische Hauptstadt des 18. Jahrhunderts. Von der Metropole gingen damals viele Impulse sowohl für den Musikmarkt als auch für die klassizistische Kunsttheorie aus. Musiker wie Haydn hat dies entscheidend geprägt. Der Autor eröffnet einen neuen Blick auf das enge Wechselverhältnis von Musikmarkt, Musikästhetik und Kompositionspraxis der Klassik, deren Geschichte um 1780 in London begann.
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London, die musikalische Hauptstadt des 18. Jahrhunderts. Von der Metropole gingen damals viele Impulse sowohl für den Musikmarkt als auch für die klassizistische Kunsttheorie aus. Musiker wie Haydn hat dies entscheidend geprägt. Der Autor eröffnet einen neuen Blick auf das enge Wechselverhältnis von Musikmarkt, Musikästhetik und Kompositionspraxis der Klassik, deren Geschichte um 1780 in London begann.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.03.2003Verstehen Sie die Melodie?
Anselm Gerhard sucht in London nach der absoluten Musik
Jeder unvoreingenommene Hörer nimmt Musik als Ausdruck von Stimmungen, Gefühlen, Affekten, die er meist unmittelbar zu verstehen glaubt. Nur Musikwissenschaftler reden äußerst ungern von Ausdruck. Das hat neben vielen schlechten Gründen auch einen guten. Denn woher wissen wir, ob unser Verstehen nicht reine Projektion bleibt? Es könnte doch sein, daß vergangene Epochen ganz anders fühlten oder zumindest andere Gefühle für kunstwürdig hielten. Es könnte sein, daß auch das Herz seine Geschichte hat. Um einen solchen hermeneutischen Abstand auszumessen, müssen wir prüfen, wie in vergangenen Epochen von Musik und wie von Gefühlen gedacht wurde. Die Schwierigkeit liegt dabei weniger in der Interpretation der Quellen. Vorab ist vielmehr fraglich, was überhaupt als Quelle fungieren kann.
Anselm Gerhard macht in seiner mit elfjähriger Verspätung erschienenen Habilitation die Musikwissenschaft darauf aufmerksam, daß London die Hauptstadt des achtzehnten Jahrhunderts war und daß die englischsprachige ästhetische Reflexion in Europa führte. Gemeinhin wird die Herausbildung autonomer Instrumentalmusik in der Wiener Klassik mit der Idee der absoluten Musik in Verbindung gebracht, die in den Rahmen der frühromantischen Kunsttheorie gehört. Darin liege teils ein Anachronismus, teils ein inhaltlicher Widerspruch. Die Romantiker knüpfen an die musikalische Darstellung des Absoluten transzendierende Absichten, die weder mit dem Klassizismus noch mit der Autonomie zusammengehen. Ästhetische Autonomie wie Klassizismus finde man dagegen seit 1750 im Vereinigten Königreich klar begründet.
Damit entsteht zwar umgekehrt ein Vorlauf der Philosophie vor der Kunst. Doch das wäre zu vermeiden gewesen, wenn Gerhard sich, wie es bei London eigentlich naheliegt, näher mit dem "Londoner" Bachsohn, Mozarts großem Vorbild, beschäftigt hätte. Ausführlich rekonstruiert Gerhard, wie von Shaftesbury zu Adam Smith, den beiden wohl wichtigsten Ästhetikern des achtzehnten Jahrhunderts, in der Übertragung malerei- und vor allem architekturtheoretischer Überlegungen, ein eigenes Verständnis musikalischer Form entsteht. Leider bringt er den Formbegriff dann in eine plakative Dichotomie zur Nachahmungs- beziehungsweise Ausdrucksästhetik. Einerseits macht sich etwa Adam Smith viele Gedanken, welche Gefühle sich zur Nachahmung eignen und welche nicht. Andererseits ist die architektonische oder organisch-gegliederte Form gewiß kein Glasperlenspiel. Sie bringt vielmehr in ihrer Schönheit ein grundlegendes Vertrauen - in die Möglichkeit von harmonischer Ordnung eben - zum Ausdruck. Wenn Gerhard den Ästhetiker Smith auf den Moralphilosophen Smith bezogen hätte, hätte er sehen können, wie die Ästhetik des Schönen in einer Ethik des rechten Maßes fundiert ist.
Während sich allerorten Überdruß am Paradigma der motivisch-thematischen Analyse breitmacht, möchte Gerhard Muzio Clementi als deren Meister, wo nicht gar Erfinder ausweisen. Es mag verschiedene Gründe geben, Clementi, den immerhin Beethoven als Vorbild für seine Klaviersonaten nennt, mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Daß auch er die motivisch-thematische Arbeit beherrschte, dürfte kaum dazugehören. Vor allem wird hier eine ganz erstaunliche kategoriale Verwirrung offenbar. Gerhard übersetzt den Begriff der architektonischen Form in die Abstraktion "Einheit in der Mannigfaltigkeit", als deren technisches Korrelat dann die motivisch-thematische Arbeit fungiert. In Wahrheit sind Architektur - die Gliederung in formale Blöcke - und motivische Entwicklung - das Hervorgehen des einen aus dem anderen - komplementäre und für Wagner oder Schönberg sogar konträre Bestimmungen.
Indem Gerhard deren Unterscheidung ignoriert, kommt er auf die absurde Konsequenz, daß Mozart kein Klassizist, sondern ein Nachfahr des Barock gewesen sei, da Form in seinem kompositorischen Denken keine vorherrschende Rolle gespielt habe. Bei Mozart kommt man mit motivischer Analyse nicht weit, das ist richtig. Aber wer angesichts dieses Inbegriffs von Schönheit in der Musik meint, das sei nicht klassisch und formal unbedeutend, dem muß über seinen Deduktionen die Fähigkeit zum Hören vollkommen abhanden gekommen sein. Die Idee, Mozarts klassische Schönheit mit Smith als Ausdruck der Freude am rechten Maß zu verstehen, ist ihm entsprechend fern.
GUSTAV FALKE
Anselm Gerhard: "London und der Klassizismus in der Musik". Die Idee der "absoluten Musik" und Muzio Clementis Klavierwerke. J. B. Metzler Verlag, Stuttgart 2002. 379 S., Notenbeispiele, br., 49,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Anselm Gerhard sucht in London nach der absoluten Musik
Jeder unvoreingenommene Hörer nimmt Musik als Ausdruck von Stimmungen, Gefühlen, Affekten, die er meist unmittelbar zu verstehen glaubt. Nur Musikwissenschaftler reden äußerst ungern von Ausdruck. Das hat neben vielen schlechten Gründen auch einen guten. Denn woher wissen wir, ob unser Verstehen nicht reine Projektion bleibt? Es könnte doch sein, daß vergangene Epochen ganz anders fühlten oder zumindest andere Gefühle für kunstwürdig hielten. Es könnte sein, daß auch das Herz seine Geschichte hat. Um einen solchen hermeneutischen Abstand auszumessen, müssen wir prüfen, wie in vergangenen Epochen von Musik und wie von Gefühlen gedacht wurde. Die Schwierigkeit liegt dabei weniger in der Interpretation der Quellen. Vorab ist vielmehr fraglich, was überhaupt als Quelle fungieren kann.
Anselm Gerhard macht in seiner mit elfjähriger Verspätung erschienenen Habilitation die Musikwissenschaft darauf aufmerksam, daß London die Hauptstadt des achtzehnten Jahrhunderts war und daß die englischsprachige ästhetische Reflexion in Europa führte. Gemeinhin wird die Herausbildung autonomer Instrumentalmusik in der Wiener Klassik mit der Idee der absoluten Musik in Verbindung gebracht, die in den Rahmen der frühromantischen Kunsttheorie gehört. Darin liege teils ein Anachronismus, teils ein inhaltlicher Widerspruch. Die Romantiker knüpfen an die musikalische Darstellung des Absoluten transzendierende Absichten, die weder mit dem Klassizismus noch mit der Autonomie zusammengehen. Ästhetische Autonomie wie Klassizismus finde man dagegen seit 1750 im Vereinigten Königreich klar begründet.
Damit entsteht zwar umgekehrt ein Vorlauf der Philosophie vor der Kunst. Doch das wäre zu vermeiden gewesen, wenn Gerhard sich, wie es bei London eigentlich naheliegt, näher mit dem "Londoner" Bachsohn, Mozarts großem Vorbild, beschäftigt hätte. Ausführlich rekonstruiert Gerhard, wie von Shaftesbury zu Adam Smith, den beiden wohl wichtigsten Ästhetikern des achtzehnten Jahrhunderts, in der Übertragung malerei- und vor allem architekturtheoretischer Überlegungen, ein eigenes Verständnis musikalischer Form entsteht. Leider bringt er den Formbegriff dann in eine plakative Dichotomie zur Nachahmungs- beziehungsweise Ausdrucksästhetik. Einerseits macht sich etwa Adam Smith viele Gedanken, welche Gefühle sich zur Nachahmung eignen und welche nicht. Andererseits ist die architektonische oder organisch-gegliederte Form gewiß kein Glasperlenspiel. Sie bringt vielmehr in ihrer Schönheit ein grundlegendes Vertrauen - in die Möglichkeit von harmonischer Ordnung eben - zum Ausdruck. Wenn Gerhard den Ästhetiker Smith auf den Moralphilosophen Smith bezogen hätte, hätte er sehen können, wie die Ästhetik des Schönen in einer Ethik des rechten Maßes fundiert ist.
Während sich allerorten Überdruß am Paradigma der motivisch-thematischen Analyse breitmacht, möchte Gerhard Muzio Clementi als deren Meister, wo nicht gar Erfinder ausweisen. Es mag verschiedene Gründe geben, Clementi, den immerhin Beethoven als Vorbild für seine Klaviersonaten nennt, mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Daß auch er die motivisch-thematische Arbeit beherrschte, dürfte kaum dazugehören. Vor allem wird hier eine ganz erstaunliche kategoriale Verwirrung offenbar. Gerhard übersetzt den Begriff der architektonischen Form in die Abstraktion "Einheit in der Mannigfaltigkeit", als deren technisches Korrelat dann die motivisch-thematische Arbeit fungiert. In Wahrheit sind Architektur - die Gliederung in formale Blöcke - und motivische Entwicklung - das Hervorgehen des einen aus dem anderen - komplementäre und für Wagner oder Schönberg sogar konträre Bestimmungen.
Indem Gerhard deren Unterscheidung ignoriert, kommt er auf die absurde Konsequenz, daß Mozart kein Klassizist, sondern ein Nachfahr des Barock gewesen sei, da Form in seinem kompositorischen Denken keine vorherrschende Rolle gespielt habe. Bei Mozart kommt man mit motivischer Analyse nicht weit, das ist richtig. Aber wer angesichts dieses Inbegriffs von Schönheit in der Musik meint, das sei nicht klassisch und formal unbedeutend, dem muß über seinen Deduktionen die Fähigkeit zum Hören vollkommen abhanden gekommen sein. Die Idee, Mozarts klassische Schönheit mit Smith als Ausdruck der Freude am rechten Maß zu verstehen, ist ihm entsprechend fern.
GUSTAV FALKE
Anselm Gerhard: "London und der Klassizismus in der Musik". Die Idee der "absoluten Musik" und Muzio Clementis Klavierwerke. J. B. Metzler Verlag, Stuttgart 2002. 379 S., Notenbeispiele, br., 49,90 [Euro].
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"Gerhard jedenfalls, der sich bereits mit der Herausgabe des Bandes 'Musikwissenschaft - eine verspätete Disziplin' aber auch durch zahlreiche Aufsätze als rigoroser Kritiker einer nationalchauvinistisch betriebenen Musikwissenschaft erwies, setzt mit diesem Buch seinem anregenden kritischen Bewerten und Neudenken der Musikgeschichtsschreibung ein virtuos durchgeführtes Kapitel hinzu." - Die Tonkunst
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Als ebenso fundiert wie anregend lobt Christian Wildhagen diese Studie des Musikwissenschaftlers Anselm Gerhard, die eine neue Sicht von Persönlichkeit, Werk und Ästhetik Muzio Clementis bietet - eine Sicht, die dem Komponisten weit mehr gerecht wird, als das negative Urteil, das Mozart und die Nachwelt über ihn fällten. Einig ist sich Wildhagen mit Gerhard darin, dass eine sinnvolle Würdigung Clementis, der als 14-Jähriger in die Musikstadt London kam, grundlegend anderer ästhetischer und mentalitätsgeschichtlicher Maßstäbe bedarf, als sie etwa eine Studie zur Wiener Klassik erfordert. Entsprechend umfassend und teilweise interdisziplinär gehe Gerhard sein Thema an und komme so zu Ergebnissen, die für die europäische Musik insgesamt von Belang sind. Gerhard zeige, dass Clementis Klaviersonaten als exemplarische Verkörperungen des daraus erwachsenen Klassizismus gelten können, was er anhand eingehender Untersuchungen zu Formkonzepten, Satzfaktur und Stilistik der Musik belege. "Am Ende steht die frappierende Erkenntnis, dass Clementi, geprägt vom klassizistischen Leitgedanken der 'Einheit in der Mannigfaltigkeit', eine motivische Durchdringung und Verdichtung aller kompositorischen Parameter erreicht, die derjenigen bei Beethoven nicht nachsteht."
© Perlentaucher Medien GmbH
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