Frankfurter Allgemeine ZeitungWenn die Schüsse näher kommen
Atemlos im Rhythmus des Atmens: In Jason Reynolds' Versroman "Long Way Down" greift ein Jugendlicher zur Waffe, um Rache zu nehmen.
Von Fridtjof Küchemann
Erschossene Freunde oder Familienangehörige finden sich in den meisten Jugendromanen afrikanisch-amerikanischer Schriftsteller wie Angie Thomas oder Jason Reynolds, die in den vergangenen Jahren auch in deutscher Übersetzung Furore gemacht haben. Weil sie ein Thema in der Lebenswirklichkeit junger Schwarzer in den Hoods Amerikas sind. Weil auch die Autoren, spricht man sie auf den persönlichen Bezug zum Thema an, erzählen können, wie der Tod in ihr eigenes Leben eingebrochen ist, durch eine Verwicklung, ein Missverständnis, einen Zufall.
So nah wie in Jason Reynolds' "Long Way Down" sind die jugendlichen Leser dem Tod dabei selten gekommen. Zwar sitzt Starr, die Heldin aus Angie Thomas' Debüt "The Hate U Give" auf dem Beifahrersitz, als der Junge neben ihr in einer Polizeikontrolle erschossen wird. Doch diesmal ist es der Erzähler selbst, der sechzehn Jahre alte Will, der eines Morgens mit der Waffe seines Bruders zu Hause in den Aufzug steigt, fest entschlossen, einen Mord zu begehen. Rache zu nehmen, würde er selbst sagen. Den Regeln zu folgen, die er vom älteren Bruder gelernt hat und der vom Vater: Nicht weinen, lautet die erste, nichts sagen, eine zweite, und die dritte: Nimm Rache.
Wills Bruder ist erschossen worden am Tag zuvor, es muss einer von den Dark Suns gewesen sein, bestimmt war es Riggs, denkt sich Will. Und wozu soll die Waffe denn gut sein in der Kommode im Zimmer, das sich Will mit Shawn geteilt hat, in der Schublade, die immer klemmt, wozu die vierzehn Schuss im Magazin und die eine im Lauf, wenn nicht, um Regel Nummer drei zu befolgen? Weil es wohl leichter ist, an einer Regel Halt zu finden, als in diesem jetzt so seltsam halbierten Zimmer zu bleiben. Oder noch schlimmer: das Zimmer zu verlassen und der Mutter zu begegnen, die über dem Küchentisch zusammengebrochen ist, nachdem sie dort geweint und getrunken und sich die Haut zerkratzt hatte, bis sie nicht mehr konnte.
Jason Reynolds lässt in "Long Way Down" einen Jungen am Ende seiner Kräfte erzählen, außer sich, neben sich, aber nicht mit seiner Sprache am Ende. Für Wills Hervorstoßen seiner Geschichte, zwischen den Zähnen, zwischen dem Luftholen, auch wenn es wieder nur für ein paar Wörter reicht, hat der 1983 in Washington geborene Autor die Form freier Verse gewählt. In ihnen findet er überzeugende Bilder für den Verlust und die Trauer, von denen sich der Junge doch losmachen will: Als habe ein Fremder mit einer Zange einen Backenzahn gezogen, und man spüre nun das Pochen im Kopf, den Druck auf den Ohren, das heraussickernde Blut. "Aber das Schlimmste / das Allerschlimmste / ist deine Zunge / die ständig in dem neuen Loch bohrt / von dem du weißt / dass da ein Zahn sein sollte / aber keiner mehr ist."
Es ist interessant zu sehen, welche Spielarten der Eindringlichkeit freie Verse ermöglichen. Fast zeitgleich mit Jason Reynolds' Buch ist in deutscher Übersetzung der Versroman "Poet X" von Elizabeth Acevedo erschienen (F.A.Z. vom 23. September), in dem eine junge New Yorkerin mit einer bis zur Grausamkeit streng religiösen Mutter in Gedichten eine Stimme und im Vortrag ihrer Gedichte ein Verhältnis zu ihrem Körper findet. Bei Jason Reynolds trägt die Form den Erzähler sicher weiter ins Gespenstische: Die kaum mehr als eine Minute, die der Fahrstuhl tatsächlich vom 8. Stock ins Erdgeschoss braucht, nimmt mit mehr als zweihundert Seiten den Großteil des Buchs ein. In der Wahrnehmung des traumatisierten Jugendlichen hält er bei jeder Gelegenheit, und immer steigt ein Toter zu: meist Leute, die Will nicht gleich wiedererkennt, einmal ein Unbekannter, aber alle haben etwas mit dem Tod im Leben des Jugendlichen zu tun, an allen muss er seinen Entschluss, seine Entschlossenheit und seine Gewissheit prüfen, alle fordern ihn heraus.
Den Ersten, den großen Bruder seines großen Bruders, erkennt Will nicht wieder. Buck will nur mal nach seiner Waffe schauen, die er Shawn einst anvertraut hatte. Will fühlt sie hinten in der Hose wie einen zusätzlichen Wirbel, "etwas mehr Rückgrat". Dem Spott des Älteren ist er ebenso wenig gewachsen wie dessen Urteil: "Du hast es nicht in dir." In der gleichaltrigen Schönen, die als Zweite zusteigt, erkennt er nur mit Mühe die Spielplatzfreundin, die vor acht Jahren neben ihm erschossen wurde. Wofür brauchst du die Waffe, fragt sie, und selbst ein Zufallsopfer: Was, wenn du danebenschießt?
Der Onkel, der Vater, der Mörder des Onkels: Stockwerk für Stockwerk steigen Gestalten ein, Gespenster, die denselben Regeln gefolgt sind, an die sich Will gerade halten möchte. Wohin es sie geführt hat, sieht der Junge nur zu klar. Wohin sie ihn führen werden, falls er ihnen am Ende des Buches folgt, auch. Was er nicht sieht, geht Jason Reynolds' jugendlichen Lesern mit der Zeit auf: dass Will der Einzige ist, der seiner Mutter noch bleibt. Dass er noch eine andere Aufgabe haben könnte, als Rache zu nehmen, eine, die mit dem Leben zu tun hat, nicht mit dem Tod.
Den Insassen der Jugendgefängnisse Amerikas hat der Autor "Long Way Down" gewidmet, allen, die er getroffen, und all jenen, die er nicht getroffen hat. Treffen wird er sie mit diesem eindringlichen Buch alle. Dabei redet Jason Reynolds vor allem denjenigen ins Gewissen, deren Erfahrungen denen von Will ähneln, die sich vielleicht gerade erst auf ihren langen Weg abwärts gemacht haben. Und wie werden hiesige Jugendliche, in deren Leben Waffengewalt große Ausnahme statt grausamer Alltag ist, den Versroman lesen? Als Predigt, die nicht an sie direkt gerichtet ist, deren Nachdruck ihnen aber eine Lebenswirklichkeit Gleichaltriger vor Augen führt, die sie ansonsten nur durch popkulturelle Zerrspiegel kennen können.
Jason Reynolds: "Long Way Down". Roman.
Aus dem Englischen von Petra Bös. dtv/Reihe Hanser, München 2019. 320 S., br., 14,95 [Euro]. Ab 14 J.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Atemlos im Rhythmus des Atmens: In Jason Reynolds' Versroman "Long Way Down" greift ein Jugendlicher zur Waffe, um Rache zu nehmen.
Von Fridtjof Küchemann
Erschossene Freunde oder Familienangehörige finden sich in den meisten Jugendromanen afrikanisch-amerikanischer Schriftsteller wie Angie Thomas oder Jason Reynolds, die in den vergangenen Jahren auch in deutscher Übersetzung Furore gemacht haben. Weil sie ein Thema in der Lebenswirklichkeit junger Schwarzer in den Hoods Amerikas sind. Weil auch die Autoren, spricht man sie auf den persönlichen Bezug zum Thema an, erzählen können, wie der Tod in ihr eigenes Leben eingebrochen ist, durch eine Verwicklung, ein Missverständnis, einen Zufall.
So nah wie in Jason Reynolds' "Long Way Down" sind die jugendlichen Leser dem Tod dabei selten gekommen. Zwar sitzt Starr, die Heldin aus Angie Thomas' Debüt "The Hate U Give" auf dem Beifahrersitz, als der Junge neben ihr in einer Polizeikontrolle erschossen wird. Doch diesmal ist es der Erzähler selbst, der sechzehn Jahre alte Will, der eines Morgens mit der Waffe seines Bruders zu Hause in den Aufzug steigt, fest entschlossen, einen Mord zu begehen. Rache zu nehmen, würde er selbst sagen. Den Regeln zu folgen, die er vom älteren Bruder gelernt hat und der vom Vater: Nicht weinen, lautet die erste, nichts sagen, eine zweite, und die dritte: Nimm Rache.
Wills Bruder ist erschossen worden am Tag zuvor, es muss einer von den Dark Suns gewesen sein, bestimmt war es Riggs, denkt sich Will. Und wozu soll die Waffe denn gut sein in der Kommode im Zimmer, das sich Will mit Shawn geteilt hat, in der Schublade, die immer klemmt, wozu die vierzehn Schuss im Magazin und die eine im Lauf, wenn nicht, um Regel Nummer drei zu befolgen? Weil es wohl leichter ist, an einer Regel Halt zu finden, als in diesem jetzt so seltsam halbierten Zimmer zu bleiben. Oder noch schlimmer: das Zimmer zu verlassen und der Mutter zu begegnen, die über dem Küchentisch zusammengebrochen ist, nachdem sie dort geweint und getrunken und sich die Haut zerkratzt hatte, bis sie nicht mehr konnte.
Jason Reynolds lässt in "Long Way Down" einen Jungen am Ende seiner Kräfte erzählen, außer sich, neben sich, aber nicht mit seiner Sprache am Ende. Für Wills Hervorstoßen seiner Geschichte, zwischen den Zähnen, zwischen dem Luftholen, auch wenn es wieder nur für ein paar Wörter reicht, hat der 1983 in Washington geborene Autor die Form freier Verse gewählt. In ihnen findet er überzeugende Bilder für den Verlust und die Trauer, von denen sich der Junge doch losmachen will: Als habe ein Fremder mit einer Zange einen Backenzahn gezogen, und man spüre nun das Pochen im Kopf, den Druck auf den Ohren, das heraussickernde Blut. "Aber das Schlimmste / das Allerschlimmste / ist deine Zunge / die ständig in dem neuen Loch bohrt / von dem du weißt / dass da ein Zahn sein sollte / aber keiner mehr ist."
Es ist interessant zu sehen, welche Spielarten der Eindringlichkeit freie Verse ermöglichen. Fast zeitgleich mit Jason Reynolds' Buch ist in deutscher Übersetzung der Versroman "Poet X" von Elizabeth Acevedo erschienen (F.A.Z. vom 23. September), in dem eine junge New Yorkerin mit einer bis zur Grausamkeit streng religiösen Mutter in Gedichten eine Stimme und im Vortrag ihrer Gedichte ein Verhältnis zu ihrem Körper findet. Bei Jason Reynolds trägt die Form den Erzähler sicher weiter ins Gespenstische: Die kaum mehr als eine Minute, die der Fahrstuhl tatsächlich vom 8. Stock ins Erdgeschoss braucht, nimmt mit mehr als zweihundert Seiten den Großteil des Buchs ein. In der Wahrnehmung des traumatisierten Jugendlichen hält er bei jeder Gelegenheit, und immer steigt ein Toter zu: meist Leute, die Will nicht gleich wiedererkennt, einmal ein Unbekannter, aber alle haben etwas mit dem Tod im Leben des Jugendlichen zu tun, an allen muss er seinen Entschluss, seine Entschlossenheit und seine Gewissheit prüfen, alle fordern ihn heraus.
Den Ersten, den großen Bruder seines großen Bruders, erkennt Will nicht wieder. Buck will nur mal nach seiner Waffe schauen, die er Shawn einst anvertraut hatte. Will fühlt sie hinten in der Hose wie einen zusätzlichen Wirbel, "etwas mehr Rückgrat". Dem Spott des Älteren ist er ebenso wenig gewachsen wie dessen Urteil: "Du hast es nicht in dir." In der gleichaltrigen Schönen, die als Zweite zusteigt, erkennt er nur mit Mühe die Spielplatzfreundin, die vor acht Jahren neben ihm erschossen wurde. Wofür brauchst du die Waffe, fragt sie, und selbst ein Zufallsopfer: Was, wenn du danebenschießt?
Der Onkel, der Vater, der Mörder des Onkels: Stockwerk für Stockwerk steigen Gestalten ein, Gespenster, die denselben Regeln gefolgt sind, an die sich Will gerade halten möchte. Wohin es sie geführt hat, sieht der Junge nur zu klar. Wohin sie ihn führen werden, falls er ihnen am Ende des Buches folgt, auch. Was er nicht sieht, geht Jason Reynolds' jugendlichen Lesern mit der Zeit auf: dass Will der Einzige ist, der seiner Mutter noch bleibt. Dass er noch eine andere Aufgabe haben könnte, als Rache zu nehmen, eine, die mit dem Leben zu tun hat, nicht mit dem Tod.
Den Insassen der Jugendgefängnisse Amerikas hat der Autor "Long Way Down" gewidmet, allen, die er getroffen, und all jenen, die er nicht getroffen hat. Treffen wird er sie mit diesem eindringlichen Buch alle. Dabei redet Jason Reynolds vor allem denjenigen ins Gewissen, deren Erfahrungen denen von Will ähneln, die sich vielleicht gerade erst auf ihren langen Weg abwärts gemacht haben. Und wie werden hiesige Jugendliche, in deren Leben Waffengewalt große Ausnahme statt grausamer Alltag ist, den Versroman lesen? Als Predigt, die nicht an sie direkt gerichtet ist, deren Nachdruck ihnen aber eine Lebenswirklichkeit Gleichaltriger vor Augen führt, die sie ansonsten nur durch popkulturelle Zerrspiegel kennen können.
Jason Reynolds: "Long Way Down". Roman.
Aus dem Englischen von Petra Bös. dtv/Reihe Hanser, München 2019. 320 S., br., 14,95 [Euro]. Ab 14 J.
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