Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 22.04.2023Mutmaßung
über Jim
Die Möwen kreischen, die Schiffshörner blöken:
Martin Heindel inszeniert ein
akustisch opulentes Abenteuer zur See
VON FLORIAN WELLE
wischen Fantasie und Wirklichkeit klafft mitunter eine gewaltige Lücke. Ein junger, hochempfindsamer Engländer ist zur Ausbildung auf einem Schulschiff der Handelsmarine. Angeregt durch die Lektüre von Unterhaltungsromanen durchlebt er dabei die tollkühnsten Seeabenteuer. Im Geiste, unter Deck. Als es Jahre später jedoch wirklich ernst wird, versagt er. Als Erster Offizier der Patna, eines alten Dampfers mit Hunderten Pilgern an Bord, flüchtet sich Jim nach einer nächtlichen Kollision als Letzter der Mannschaft in ein Rettungsboot und überlässt die Menschen ihrem Schicksal. Es ist reines Glück, dass sie überleben.
Warum bloß ist er gesprungen, obwohl er doch als Einziger zunächst seiner Pflicht nachkommen und helfen wollte? Diese Frage steht im Zentrum des von Joseph Conrad um die Wende zum 20. Jahrhundert geschriebenen Romans „Lord Jim“. Auf rund 500 Seiten umkreist der Autor die Problematik, ohne sie jedoch zu beantworten. Jims Satz ins Rettungsboot bleibt geheimnisvolle Leerstelle, aus der das meisterhafte Werk seine Spannung bezieht. Am ehesten zu verstehen als Übersprunghandlung aus dem Augenblick heraus, halb bewusst, halb unbewusst – zur gleichen Zeit mit „Lord Jim“ erschien Sigmund Freuds „Die Traumdeutung“. An einer Stelle gesteht der junge Offizier: „Mir war, als ob ich in einen Brunnen gesprungen sei, in einen unendlich tiefen Schlund.“
Martin Heindel hat die im Malaiischen Archipel angesiedelte Geschichte um Schuld und Scham, verletzten Stolz und verlorene Ehre als vierteiliges Hörspiel inszeniert. Von Conrad ursprünglich als Short Story geplant, weitet sie sich immer mehr zu einer Erzählung über die Conditio humana an und für sich aus. Die im vergangenen Jahr entstandene Gemeinschaftsproduktion des Hessischen Rundfunks mit dem Hörverlag unternimmt den mutigen Versuch, die Komplexität der Vorlage in nur etwas mehr als vier Stunden einzufangen.
Das ist schon deshalb nahezu aussichtslos, weil Conrad seinen Jim, diesen Seemann von der traurigen Gestalt, nach Gerichtsverhandlung und dem Verlust des Offizierspatents immer weiter aus dem Gesichtskreis der Menschen fliehen lässt, bis er in der „unberührten Wildnis“ Patusans eine zweite Chance erhält. Der Patusan-Strang ist nicht weniger als ein Roman im Roman mit völlig neuen Figuren und Erzählfäden.
Hier kämpfen die Insulaner untereinander ebenso um Macht und Einfluss, wie sie sich gegen äußere Feinde zur Wehr setzen müssen. Mittendrin Jim, der als Friedensstifter das Vertrauen der Einheimischen erlangt hat und fortan von ihnen respektvoll mit Tuan Jim, Lord Jim, angeredet wird. In der Gestalt der Eurasierin Jewel winkt sogar so etwas wie Liebesglück. Die verschattete Vergangenheit erscheint endgültig vergessen. Bloß um ihn schließlich doch wieder einzuholen, erbarmungsloser und gewalttätiger als je zuvor.
Der von Conrad dicht gewebten Handlung gerecht zu werden, bedeutet also eine große Herausforderung für eine Hörspielumsetzung. Dementsprechend hat sich der Regisseur Heindel in seiner Bearbeitung auf den Inhalt konzentriert, der hier, gekürzt und gerafft, mit großer Stringenz wiedergegeben wird. Auf diese Weise ist ein durchaus packendes Abenteuerhörspiel mit viel maritimem Flair und einer ausgezeichnet besetzten Schauspielerriege entstanden. Neben den 30 männlichen Figuren ist Jewel, die von Linda Blümchen mit Verve zwischen Liebe, Eifersucht und enttäuschtem Vertrauen gesprochen wird, die einzig nennenswerte Frauengestalt.
„Lord Jim“ ist ein Männerhörspiel, in dem allen voran Sebastian Urzendowsky als Jim und Felix von Manteuffel als Erzähler Charles Marlow glänzen. Conrad wurde nicht müde, immer wieder Jims Jugend hervorzuheben. Alle, die mit ihm zu tun bekommen, verweisen auf sein „jugendliches Alter“, schimpfen ihn „ein kleines Kind“, Marlow nennt ihn gar „das jüngste menschliche Wesen, das es gibt“. Urzendowsky macht dieses Jungenhafte überzeugend hörbar, vor allem wenn Jim glaubt, sich stets aufs Neue verteidigen zu müssen, und sich dabei in emotionale Widersprüche verstrickt.
Felix von Manteuffel als Marlow ist eine Idealbesetzung. Schon in Klaus Buhlerts imposantem Hörspiel „Moby Dick oder Der Wal“ bewies er als einer der Erzähler, wie gut er es versteht, raues Seemannsgarn überaus glaubwürdig zu Gehör zu bringen. Sein Kapitän Marlow strahlt zunächst die Würde dessen aus, der meint, auf See bereits alles erlebt zu haben. Das Schicksal des unglücklichen Jim jedoch bringt ihn an seine Grenzen. Letztlich bleibt der ihm ein Rätsel: „Im Ganzen wurde man aus ihm nicht klug.“
All das zeigt, was für ein unzuverlässiger Erzähler Marlow ist, der im Grunde nur Mutmaßungen über Jim anstellt. Als er von den Geschehnissen auf Patusan berichtet, schickt er voraus, er erzähle sie nun so, als sei er Augenzeuge gewesen. Joseph Conrad hat noch viele solche Fallstricke in seinen akribisch gearbeiteten, seiner angeschlagenen Gesundheit abgerungenen Text eingebaut, um beim Leser ein Gefühl jener Verwirrung zu erzeugen, das auch die Figuren gefangen hält.
So gibt es neben Marlow noch einen anderen, allwissenden Erzähler. Zudem weitere Stimmen, die das Geschehen aus ihrer Sicht kommentieren. Dazu kommt eine ausgiebige Bildsprache des Nebulösen und Opaken. „Lord Jim“ ist auch eine Auseinandersetzung mit der Möglichkeit wie Unmöglichkeit des Erzählens selbst.
All die stilistischen und psychologischen Nuancen werden im Hörspiel zwar berücksichtigt, nehmen aber bei Weitem nicht den Raum der Vorlage ein. Conrads ausführlich entwickelter Gegensatz von romantischer versus realistischer Haltung gegenüber dem Leben bleibt etwa eine Randnotiz. Wolfgang Koeppen nannte Joseph Conrad „einen Meister des inneren Abenteuers“. Dieses steht hier zurück zugunsten der akustisch aufwendig untermalten äußeren Handlung. Da schlagen die Wellen, kreischen die Möwen und ertönen die Schiffshörner. Da schwelgt die Komposition von Felix Rösch, vom HR-Sinfonieorchester mit Aplomb eingespielt, in musikalischer Opulenz, dramatische Höhepunkte inklusive. Martin Heindels Adaption ist gut gemachtes Hörkino, nicht mehr und nicht weniger.
Z
Es geht um die Möglichkeit
wie die Unmöglichkeit
des Erzählens selbst
Joseph Conrad: Lord Jim.
Hörspiel. Mit Felix von
Manteuffel, Sebastian
Urzendowsky, Andreas Fröhlich u.a. 4 CDs, 4h 18 Minuten. Der Hörverlag,
München 2023, 24 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
über Jim
Die Möwen kreischen, die Schiffshörner blöken:
Martin Heindel inszeniert ein
akustisch opulentes Abenteuer zur See
VON FLORIAN WELLE
wischen Fantasie und Wirklichkeit klafft mitunter eine gewaltige Lücke. Ein junger, hochempfindsamer Engländer ist zur Ausbildung auf einem Schulschiff der Handelsmarine. Angeregt durch die Lektüre von Unterhaltungsromanen durchlebt er dabei die tollkühnsten Seeabenteuer. Im Geiste, unter Deck. Als es Jahre später jedoch wirklich ernst wird, versagt er. Als Erster Offizier der Patna, eines alten Dampfers mit Hunderten Pilgern an Bord, flüchtet sich Jim nach einer nächtlichen Kollision als Letzter der Mannschaft in ein Rettungsboot und überlässt die Menschen ihrem Schicksal. Es ist reines Glück, dass sie überleben.
Warum bloß ist er gesprungen, obwohl er doch als Einziger zunächst seiner Pflicht nachkommen und helfen wollte? Diese Frage steht im Zentrum des von Joseph Conrad um die Wende zum 20. Jahrhundert geschriebenen Romans „Lord Jim“. Auf rund 500 Seiten umkreist der Autor die Problematik, ohne sie jedoch zu beantworten. Jims Satz ins Rettungsboot bleibt geheimnisvolle Leerstelle, aus der das meisterhafte Werk seine Spannung bezieht. Am ehesten zu verstehen als Übersprunghandlung aus dem Augenblick heraus, halb bewusst, halb unbewusst – zur gleichen Zeit mit „Lord Jim“ erschien Sigmund Freuds „Die Traumdeutung“. An einer Stelle gesteht der junge Offizier: „Mir war, als ob ich in einen Brunnen gesprungen sei, in einen unendlich tiefen Schlund.“
Martin Heindel hat die im Malaiischen Archipel angesiedelte Geschichte um Schuld und Scham, verletzten Stolz und verlorene Ehre als vierteiliges Hörspiel inszeniert. Von Conrad ursprünglich als Short Story geplant, weitet sie sich immer mehr zu einer Erzählung über die Conditio humana an und für sich aus. Die im vergangenen Jahr entstandene Gemeinschaftsproduktion des Hessischen Rundfunks mit dem Hörverlag unternimmt den mutigen Versuch, die Komplexität der Vorlage in nur etwas mehr als vier Stunden einzufangen.
Das ist schon deshalb nahezu aussichtslos, weil Conrad seinen Jim, diesen Seemann von der traurigen Gestalt, nach Gerichtsverhandlung und dem Verlust des Offizierspatents immer weiter aus dem Gesichtskreis der Menschen fliehen lässt, bis er in der „unberührten Wildnis“ Patusans eine zweite Chance erhält. Der Patusan-Strang ist nicht weniger als ein Roman im Roman mit völlig neuen Figuren und Erzählfäden.
Hier kämpfen die Insulaner untereinander ebenso um Macht und Einfluss, wie sie sich gegen äußere Feinde zur Wehr setzen müssen. Mittendrin Jim, der als Friedensstifter das Vertrauen der Einheimischen erlangt hat und fortan von ihnen respektvoll mit Tuan Jim, Lord Jim, angeredet wird. In der Gestalt der Eurasierin Jewel winkt sogar so etwas wie Liebesglück. Die verschattete Vergangenheit erscheint endgültig vergessen. Bloß um ihn schließlich doch wieder einzuholen, erbarmungsloser und gewalttätiger als je zuvor.
Der von Conrad dicht gewebten Handlung gerecht zu werden, bedeutet also eine große Herausforderung für eine Hörspielumsetzung. Dementsprechend hat sich der Regisseur Heindel in seiner Bearbeitung auf den Inhalt konzentriert, der hier, gekürzt und gerafft, mit großer Stringenz wiedergegeben wird. Auf diese Weise ist ein durchaus packendes Abenteuerhörspiel mit viel maritimem Flair und einer ausgezeichnet besetzten Schauspielerriege entstanden. Neben den 30 männlichen Figuren ist Jewel, die von Linda Blümchen mit Verve zwischen Liebe, Eifersucht und enttäuschtem Vertrauen gesprochen wird, die einzig nennenswerte Frauengestalt.
„Lord Jim“ ist ein Männerhörspiel, in dem allen voran Sebastian Urzendowsky als Jim und Felix von Manteuffel als Erzähler Charles Marlow glänzen. Conrad wurde nicht müde, immer wieder Jims Jugend hervorzuheben. Alle, die mit ihm zu tun bekommen, verweisen auf sein „jugendliches Alter“, schimpfen ihn „ein kleines Kind“, Marlow nennt ihn gar „das jüngste menschliche Wesen, das es gibt“. Urzendowsky macht dieses Jungenhafte überzeugend hörbar, vor allem wenn Jim glaubt, sich stets aufs Neue verteidigen zu müssen, und sich dabei in emotionale Widersprüche verstrickt.
Felix von Manteuffel als Marlow ist eine Idealbesetzung. Schon in Klaus Buhlerts imposantem Hörspiel „Moby Dick oder Der Wal“ bewies er als einer der Erzähler, wie gut er es versteht, raues Seemannsgarn überaus glaubwürdig zu Gehör zu bringen. Sein Kapitän Marlow strahlt zunächst die Würde dessen aus, der meint, auf See bereits alles erlebt zu haben. Das Schicksal des unglücklichen Jim jedoch bringt ihn an seine Grenzen. Letztlich bleibt der ihm ein Rätsel: „Im Ganzen wurde man aus ihm nicht klug.“
All das zeigt, was für ein unzuverlässiger Erzähler Marlow ist, der im Grunde nur Mutmaßungen über Jim anstellt. Als er von den Geschehnissen auf Patusan berichtet, schickt er voraus, er erzähle sie nun so, als sei er Augenzeuge gewesen. Joseph Conrad hat noch viele solche Fallstricke in seinen akribisch gearbeiteten, seiner angeschlagenen Gesundheit abgerungenen Text eingebaut, um beim Leser ein Gefühl jener Verwirrung zu erzeugen, das auch die Figuren gefangen hält.
So gibt es neben Marlow noch einen anderen, allwissenden Erzähler. Zudem weitere Stimmen, die das Geschehen aus ihrer Sicht kommentieren. Dazu kommt eine ausgiebige Bildsprache des Nebulösen und Opaken. „Lord Jim“ ist auch eine Auseinandersetzung mit der Möglichkeit wie Unmöglichkeit des Erzählens selbst.
All die stilistischen und psychologischen Nuancen werden im Hörspiel zwar berücksichtigt, nehmen aber bei Weitem nicht den Raum der Vorlage ein. Conrads ausführlich entwickelter Gegensatz von romantischer versus realistischer Haltung gegenüber dem Leben bleibt etwa eine Randnotiz. Wolfgang Koeppen nannte Joseph Conrad „einen Meister des inneren Abenteuers“. Dieses steht hier zurück zugunsten der akustisch aufwendig untermalten äußeren Handlung. Da schlagen die Wellen, kreischen die Möwen und ertönen die Schiffshörner. Da schwelgt die Komposition von Felix Rösch, vom HR-Sinfonieorchester mit Aplomb eingespielt, in musikalischer Opulenz, dramatische Höhepunkte inklusive. Martin Heindels Adaption ist gut gemachtes Hörkino, nicht mehr und nicht weniger.
Z
Es geht um die Möglichkeit
wie die Unmöglichkeit
des Erzählens selbst
Joseph Conrad: Lord Jim.
Hörspiel. Mit Felix von
Manteuffel, Sebastian
Urzendowsky, Andreas Fröhlich u.a. 4 CDs, 4h 18 Minuten. Der Hörverlag,
München 2023, 24 Euro.
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