Joseph Conrads berühmtester Roman "Lord Jim": eine mitreißende Abenteuererzählung, ein Klassiker
Jim zieht als Schiffsausrüster umher. Als Erster Offizier auf einem Pilgerschiff beging er einen schrecklichen Fehler, der ihn Ruf und Laufbahn kostete. Nach langen Reisen erreicht er die entlegene Insel Patusan im Indischen Ozean und erwirbt sich das Vertrauen der Einheimischen, die ihn als Friedensstifter hoch verehren. Aus Jim wird Lord Jim. Doch dann tauchen Piraten auf, und sie scheinen zu wissen, wer er wirklich ist. Joseph Conrads berühmtester Roman hat viele Facetten: eine psychologische Charakterstudie über einen, der vom Heldentum träumt und doch moralisch versagt; eine mitreißende Abenteuererzählung; und nicht zuletzt eine erschütternde Parabel auf die Zerstörungswut des Kolonialismus.
Jim zieht als Schiffsausrüster umher. Als Erster Offizier auf einem Pilgerschiff beging er einen schrecklichen Fehler, der ihn Ruf und Laufbahn kostete. Nach langen Reisen erreicht er die entlegene Insel Patusan im Indischen Ozean und erwirbt sich das Vertrauen der Einheimischen, die ihn als Friedensstifter hoch verehren. Aus Jim wird Lord Jim. Doch dann tauchen Piraten auf, und sie scheinen zu wissen, wer er wirklich ist. Joseph Conrads berühmtester Roman hat viele Facetten: eine psychologische Charakterstudie über einen, der vom Heldentum träumt und doch moralisch versagt; eine mitreißende Abenteuererzählung; und nicht zuletzt eine erschütternde Parabel auf die Zerstörungswut des Kolonialismus.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Zunächst einmal lobt Rezensent Andreas Platthaus das Verdienst des Hanser-Verlags, seit mehr als zwanzig Jahren Klassiker ins Deutsche zu übertragen. Nun ist also Joseph Conrads "Lord Jim" an der Reihe, übersetzt von niemand geringerem als Michael Walter, freut sich der Kritiker. Und dennoch schaut er genau hin, denn zwar sind die meisten Übersetzungen im Anhang genannt, aber ausgerechnet Klaus Hoffers, laut Kritiker exzellente Übersetzung aus dem Jahr 1998 fehlt. Gerade an dieser aber müsse sich Walter messen lassen, fährt der Rezensent fort, der zunächst durchaus ein paar Vorzüge bei Hoffer sieht. So zitiert Platthaus eine Passage, in der Hoffer vielleicht weniger frei, dafür im Gegensatz zu Walter exakt übersetzt. Vor allem aber Conrads "Author's Note" lässt den Kritiker den direkten Vergleich ziehen: Von Walter nicht dem Original entsprechend ans Ende des Textes gesetzt, legt Hoffer dem Autor hier Metaphern in den Mund, die dieser gar nicht beabsichtigte. Insgesamt kommt Platthaus zu dem Schluss: Beide Übersetzungen sind sehr gut lesbar, die jüngere scheint ihm aber doch ein wenig besser.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.11.2022Es war, als sollte ihn die Scham überholen
Ein Klassiker wie für unsere schuldbewusste Gegenwart: Michael Walters Neuübersetzung von Joseph Conrads Roman "Lord Jim"?
Von Andreas Platthaus
Joseph Conrad hatte nichts übrig für Dostojewski: "Ich weiß nicht, wofür D. steht, aber ich weiß, er ist zu russisch für mich. Hört sich für mich an wie wildes Geschrei aus prähistorischen Zeiten." Diese Mitteilung aus dem Jahr 1912 klingt gerade verblüffend aktuell, zumal wenn man bedenkt, dass Conrad zwar russischer Staatsbürger von Geburt war, aber einer polnischen Familie entstammte, die auf dem Gebiet der heutigen Ukraine lebte. Andererseits überrascht die Ablehnung angesichts der thematischen Nähe beider Schriftsteller: Wer sonst in der Weltliteratur hat derart prominent die Frage nach Schuld und Sühne in den Mittelpunkt jeweils eines großen Romans gestellt - auch wenn Dostojewskis berühmtes Buch ja nur in Deutschland lange diesen Titel trug (bis Svetlana Geiers Neuübersetzung die originalgetreue Benennung als "Verbrechen und Strafe" durchsetzte)? Conrads einschlägiges Werk ist "Lord Jim". Keine andere literarische Figur außer eben Raskolnikow gibt beredter Auskunft über die Qual der Moral als jener Mann, der einfach Jim genannt wird - "er hatte natürlich noch einen Namen, aber er hütete sich, ihn auszusprechen", heißt es bei Conrad: "Sein Inkognito, löchrig wie ein Sieb, sollte keine Person verschleiern, sondern ein Faktum." Dieses Faktum, das im Gegensatz zu Dostojewskis Protagonisten kein mörderisches ist, bezeichnet die große Schuld des Seemanns.
"Lord Jim" erschien im Jahr 1900, als Conrad dreiundvierzig Jahre alt war, längst in London lebte und auf Englisch schrieb. Im Jahr zuvor erst war mit großem Erfolg "Herz der Finsternis" publiziert worden, das heute berühmteste Buch des Schriftstellers, in dem eine andere, allerdings überindividuelle Frage von Schuld verhandelt wurde: der Sündenfall des Kolonialismus. Erzählt wird davon paradoxerweise im Rahmen einer gemütlichen britischen Abendgesellschaft von einem Seefahrer namens Marlow - und dasselbe Ambiente und denselben Erzähler wird dann auch "Lord Jim" aufweisen. Aber in diesem Roman berichtet Marlow von einem Versagen, das ganz individueller Natur ist, weil Jim im Moment höchster Seenot die ihm anvertrauten Passagiere im Stich gelassen hat. Obwohl das Schiff dann doch nicht gesunken ist, ging er vor Gericht seiner Patente verlustig, doch noch weitaus schwerer wiegt für ihn das persönliche Schuldgefühl. Für den weitaus größten Teil des in deutscher Übersetzung mehr als fünfhundertseitigen Romans ist Jim auf der Flucht vor seinem Ruf, doch es war, als sollte ihn die Scham immer wieder überholen.
Wer "Lord Jim" heute liest, zumal als Deutscher, kann auf die Konsequenz, mit der Conrad diesen an sich selbst verzweifelnden, aber sich nach außen auch ständig gegen den Schuldvorwurf verteidigenden Menschen porträtiert, kaum anders als mit Beklemmung reagieren - zu genau nimmt der Roman schon die Frage der Verantwortung für Unterlassung vorweg, die angesichts der zunehmenden Scheußlichkeiten in der Zeit seit seinem Erscheinen immer drückender geworden ist: vom feigen Wegsehen in der Diktatur bis hin zur verfehlten deutschen Russlandpolitik. Es ist somit genau der richtige Moment für eine Lektüre von "Lord Jim". Doch nichts taugt im Buchhandel besser dazu, Klassiker aus fremden Sprachen aktuell erscheinen zu lassen, als eine Neuübertragung. Zumal dann, wenn dafür ein Übersetzer wie Michael Walter verantwortlich zeichnet, dessen Reputation und Erfolg ihm mittlerweile erlauben, sich seine Projekte auszusuchen. Die dankenswerterweise seit mehr als zwanzig Jahren unbeirrt fortgesetzte Reihe des Hanser-Verlags mit Klassiker-Neuübersetzungen hat Walter schon 2015 mit Henry James' "Gesandten" bereichert; nun folgt also "Lord Jim".
Wobei es im letzten Vierteljahrhundert bereits zwei Neuübersetzungen des erstmals 1927 und dann noch einmal 1962 ins Deutsche gebrachten Buchs gegeben hatte: 2013 durch Manfred Allié für S. Fischer und 1998 durch Klaus Hoffer für Haffmans. Letztere wird im ausgiebigen Nachwort der Hanser-Ausgabe rätselhafterweise verschwiegen, während die anderen drei Übertragungen dort nicht nur aufgelistet, sondern auch gelegentlich Walters Arbeit gegenübergestellt werden - als jeweils missglücktere Versionen, versteht sich. Wie verhält es sich aber diesbezüglich mit Hoffers Fassung, die ich seinerzeit als hervorragend empfand? Der von der Hanser-Ausgabe unterlassene Vergleich sei hier nachgeholt, weil er aussagekräftig ist für die Beurteilung der Qualität von Walters Übersetzung.
Herangezogen sei dazu etwa das letzte der 45 Kapitel des Buchs. Darin gibt es eine Stelle, die im Textkommentar der Hanser-Übersetzung als Beispiel für deren Überlegenheit gegenüber den dort erwähnten älteren angeführt wird, und zwar mit Blick auf die Übersetzung der Marlow'schen Charakterisierung Jims als "obscure conqueror of fame". Der Begriff "obscure", so heißt es da, sei zweideutig gemeint: "neben 'unbekannt' auch 'fragwürdig'. Muss man es übersetzen und eindeutig machen? Ist nicht Jim für Marlow mehr als nur ein 'unbekannter Eroberer' (1927) oder 'unbekannter Ruhmesheld' (1962)? Ist er wirklich 'unbedeutend' in all seinem Streben nach Ruhm?" So wird Walters Entscheidung für "einen obskuren Eroberer des Ruhms" gepriesen. Beim unerwähnten Hoffer dagegen liest man von einem "rätselhaften Helden, der nach den Sternen griff". Das ist sicher freier, aber ähnlich zweideutig, und hat den Vorzug, auf das im Deutschen eher eindeutig - nämlich nur als fragwürdig - konnotierte Wort "obskur" zu verzichten. Das schon in Kapitel 44 auftauchte, wo es Hoffer allerdings mit "dunkel" übersetzte. Damit geht in seiner deutschen Version die Begriffseinheitlichkeit verloren - Walter ist dagegen gerade diesbezüglich sehr aufmerksam.
Dafür verfranzt Walter sich im zehnten Kapitel in Conrads verschachteltem Erzählverfahren, als der Ausruf "He, was sagt ihr dazu?" durch zusätzliche Anführungszeichen innerhalb von Marlows wörtlicher Rede Jim zugeschrieben wird, obwohl er tatsächlich vom Erzähler selbst stammt. Durch Hoffers im Deutschen zwar unvertraute, aber im Englischen übliche Kennzeichnung jedes neuen Absatzes als wörtliche Rede, selbst wenn diese gar nicht unterbrochen worden ist, behält man bei der Lektüre seiner Fassung immer den Überblick über die jeweilige Stimme.
Doch die entscheidende Probe auf Sinn- und Wortgenauigkeit der Übersetzungen wird in einem separierten, gerade einmal vierseitigen Teil des Buchs möglich: Hoffer stellt diese 1917 für eine englische Neuausgabe des Romans verfasste "Author's Note" der Handlung voran, während sie in Walters Fassung den Abschluss bildet, obwohl Conrad sie auch an den Anfang hatte setzen lassen. In deren letztem Absatz beschreibt Conrad, der selbst als Seefahrer ein Kommando innegehabt hatte, seine Begegnung mit dem realen Vorbild für die Figur des Jim: "Eines sonnigen Morgens sah ich seine Gestalt in der alltäglichen Umgebung einer Reede im fernen Osten an mir vorübergehen - anziehend - bedeutsam - unter einer Wolke - absolut stumm." So lautet Walters Übersetzung.
Hoffer benutzt fast dieselben Worte, aber statt "unter einer Wolke" setzt er "schattenhaft", obwohl es da im Original mit einer Leitmetapher von Conrad "under a cloud" heißt. Hoffer empfindet das offenbar fürs Deutsche als zu wenig kolloquial, denn auch im Schlusskapitel wählt er für "under a cloud" die Formulierung "wie ein Schatten", und so wird der Schatten für ihn zur Leitmetapher, die Walter gar nicht kennt. Aber Conrad eben auch nicht. So wunderbar flüssig bei allen Herausforderungen (vor allem durch nautische Terminologie) sich sowohl Hoffers als auch Walters deutsche Versionen lesen, die jüngere ist dann doch die bessere geworden.
Joseph Conrad: "Lord Jim". Roman.
Aus dem Englischen von Michael Walter. Hrsg. und Nachwort von Daniel Göske. Hanser Verlag, München 2022. 640 S., geb., 36,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ein Klassiker wie für unsere schuldbewusste Gegenwart: Michael Walters Neuübersetzung von Joseph Conrads Roman "Lord Jim"?
Von Andreas Platthaus
Joseph Conrad hatte nichts übrig für Dostojewski: "Ich weiß nicht, wofür D. steht, aber ich weiß, er ist zu russisch für mich. Hört sich für mich an wie wildes Geschrei aus prähistorischen Zeiten." Diese Mitteilung aus dem Jahr 1912 klingt gerade verblüffend aktuell, zumal wenn man bedenkt, dass Conrad zwar russischer Staatsbürger von Geburt war, aber einer polnischen Familie entstammte, die auf dem Gebiet der heutigen Ukraine lebte. Andererseits überrascht die Ablehnung angesichts der thematischen Nähe beider Schriftsteller: Wer sonst in der Weltliteratur hat derart prominent die Frage nach Schuld und Sühne in den Mittelpunkt jeweils eines großen Romans gestellt - auch wenn Dostojewskis berühmtes Buch ja nur in Deutschland lange diesen Titel trug (bis Svetlana Geiers Neuübersetzung die originalgetreue Benennung als "Verbrechen und Strafe" durchsetzte)? Conrads einschlägiges Werk ist "Lord Jim". Keine andere literarische Figur außer eben Raskolnikow gibt beredter Auskunft über die Qual der Moral als jener Mann, der einfach Jim genannt wird - "er hatte natürlich noch einen Namen, aber er hütete sich, ihn auszusprechen", heißt es bei Conrad: "Sein Inkognito, löchrig wie ein Sieb, sollte keine Person verschleiern, sondern ein Faktum." Dieses Faktum, das im Gegensatz zu Dostojewskis Protagonisten kein mörderisches ist, bezeichnet die große Schuld des Seemanns.
"Lord Jim" erschien im Jahr 1900, als Conrad dreiundvierzig Jahre alt war, längst in London lebte und auf Englisch schrieb. Im Jahr zuvor erst war mit großem Erfolg "Herz der Finsternis" publiziert worden, das heute berühmteste Buch des Schriftstellers, in dem eine andere, allerdings überindividuelle Frage von Schuld verhandelt wurde: der Sündenfall des Kolonialismus. Erzählt wird davon paradoxerweise im Rahmen einer gemütlichen britischen Abendgesellschaft von einem Seefahrer namens Marlow - und dasselbe Ambiente und denselben Erzähler wird dann auch "Lord Jim" aufweisen. Aber in diesem Roman berichtet Marlow von einem Versagen, das ganz individueller Natur ist, weil Jim im Moment höchster Seenot die ihm anvertrauten Passagiere im Stich gelassen hat. Obwohl das Schiff dann doch nicht gesunken ist, ging er vor Gericht seiner Patente verlustig, doch noch weitaus schwerer wiegt für ihn das persönliche Schuldgefühl. Für den weitaus größten Teil des in deutscher Übersetzung mehr als fünfhundertseitigen Romans ist Jim auf der Flucht vor seinem Ruf, doch es war, als sollte ihn die Scham immer wieder überholen.
Wer "Lord Jim" heute liest, zumal als Deutscher, kann auf die Konsequenz, mit der Conrad diesen an sich selbst verzweifelnden, aber sich nach außen auch ständig gegen den Schuldvorwurf verteidigenden Menschen porträtiert, kaum anders als mit Beklemmung reagieren - zu genau nimmt der Roman schon die Frage der Verantwortung für Unterlassung vorweg, die angesichts der zunehmenden Scheußlichkeiten in der Zeit seit seinem Erscheinen immer drückender geworden ist: vom feigen Wegsehen in der Diktatur bis hin zur verfehlten deutschen Russlandpolitik. Es ist somit genau der richtige Moment für eine Lektüre von "Lord Jim". Doch nichts taugt im Buchhandel besser dazu, Klassiker aus fremden Sprachen aktuell erscheinen zu lassen, als eine Neuübertragung. Zumal dann, wenn dafür ein Übersetzer wie Michael Walter verantwortlich zeichnet, dessen Reputation und Erfolg ihm mittlerweile erlauben, sich seine Projekte auszusuchen. Die dankenswerterweise seit mehr als zwanzig Jahren unbeirrt fortgesetzte Reihe des Hanser-Verlags mit Klassiker-Neuübersetzungen hat Walter schon 2015 mit Henry James' "Gesandten" bereichert; nun folgt also "Lord Jim".
Wobei es im letzten Vierteljahrhundert bereits zwei Neuübersetzungen des erstmals 1927 und dann noch einmal 1962 ins Deutsche gebrachten Buchs gegeben hatte: 2013 durch Manfred Allié für S. Fischer und 1998 durch Klaus Hoffer für Haffmans. Letztere wird im ausgiebigen Nachwort der Hanser-Ausgabe rätselhafterweise verschwiegen, während die anderen drei Übertragungen dort nicht nur aufgelistet, sondern auch gelegentlich Walters Arbeit gegenübergestellt werden - als jeweils missglücktere Versionen, versteht sich. Wie verhält es sich aber diesbezüglich mit Hoffers Fassung, die ich seinerzeit als hervorragend empfand? Der von der Hanser-Ausgabe unterlassene Vergleich sei hier nachgeholt, weil er aussagekräftig ist für die Beurteilung der Qualität von Walters Übersetzung.
Herangezogen sei dazu etwa das letzte der 45 Kapitel des Buchs. Darin gibt es eine Stelle, die im Textkommentar der Hanser-Übersetzung als Beispiel für deren Überlegenheit gegenüber den dort erwähnten älteren angeführt wird, und zwar mit Blick auf die Übersetzung der Marlow'schen Charakterisierung Jims als "obscure conqueror of fame". Der Begriff "obscure", so heißt es da, sei zweideutig gemeint: "neben 'unbekannt' auch 'fragwürdig'. Muss man es übersetzen und eindeutig machen? Ist nicht Jim für Marlow mehr als nur ein 'unbekannter Eroberer' (1927) oder 'unbekannter Ruhmesheld' (1962)? Ist er wirklich 'unbedeutend' in all seinem Streben nach Ruhm?" So wird Walters Entscheidung für "einen obskuren Eroberer des Ruhms" gepriesen. Beim unerwähnten Hoffer dagegen liest man von einem "rätselhaften Helden, der nach den Sternen griff". Das ist sicher freier, aber ähnlich zweideutig, und hat den Vorzug, auf das im Deutschen eher eindeutig - nämlich nur als fragwürdig - konnotierte Wort "obskur" zu verzichten. Das schon in Kapitel 44 auftauchte, wo es Hoffer allerdings mit "dunkel" übersetzte. Damit geht in seiner deutschen Version die Begriffseinheitlichkeit verloren - Walter ist dagegen gerade diesbezüglich sehr aufmerksam.
Dafür verfranzt Walter sich im zehnten Kapitel in Conrads verschachteltem Erzählverfahren, als der Ausruf "He, was sagt ihr dazu?" durch zusätzliche Anführungszeichen innerhalb von Marlows wörtlicher Rede Jim zugeschrieben wird, obwohl er tatsächlich vom Erzähler selbst stammt. Durch Hoffers im Deutschen zwar unvertraute, aber im Englischen übliche Kennzeichnung jedes neuen Absatzes als wörtliche Rede, selbst wenn diese gar nicht unterbrochen worden ist, behält man bei der Lektüre seiner Fassung immer den Überblick über die jeweilige Stimme.
Doch die entscheidende Probe auf Sinn- und Wortgenauigkeit der Übersetzungen wird in einem separierten, gerade einmal vierseitigen Teil des Buchs möglich: Hoffer stellt diese 1917 für eine englische Neuausgabe des Romans verfasste "Author's Note" der Handlung voran, während sie in Walters Fassung den Abschluss bildet, obwohl Conrad sie auch an den Anfang hatte setzen lassen. In deren letztem Absatz beschreibt Conrad, der selbst als Seefahrer ein Kommando innegehabt hatte, seine Begegnung mit dem realen Vorbild für die Figur des Jim: "Eines sonnigen Morgens sah ich seine Gestalt in der alltäglichen Umgebung einer Reede im fernen Osten an mir vorübergehen - anziehend - bedeutsam - unter einer Wolke - absolut stumm." So lautet Walters Übersetzung.
Hoffer benutzt fast dieselben Worte, aber statt "unter einer Wolke" setzt er "schattenhaft", obwohl es da im Original mit einer Leitmetapher von Conrad "under a cloud" heißt. Hoffer empfindet das offenbar fürs Deutsche als zu wenig kolloquial, denn auch im Schlusskapitel wählt er für "under a cloud" die Formulierung "wie ein Schatten", und so wird der Schatten für ihn zur Leitmetapher, die Walter gar nicht kennt. Aber Conrad eben auch nicht. So wunderbar flüssig bei allen Herausforderungen (vor allem durch nautische Terminologie) sich sowohl Hoffers als auch Walters deutsche Versionen lesen, die jüngere ist dann doch die bessere geworden.
Joseph Conrad: "Lord Jim". Roman.
Aus dem Englischen von Michael Walter. Hrsg. und Nachwort von Daniel Göske. Hanser Verlag, München 2022. 640 S., geb., 36,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"523 Seiten Abenteuer und überall Sätze, die glänzen wie das Meer im Sonnenschein." Stern, 14.07.22
"Conrad erzählt nicht nur mit großer psychologischer Genauigkeit von den dramatischen Konsequenzen einer moralischen Verfehlung, er betont vor allem immer wieder, dass der Mensch ein undurchschaubares Wesen ist." Holger Heimann, WDR3 Lesestoff, 06.07.22
"Conrad ist wirklich ein ungemein raffinierter Erzähler ... Wenn man heute eine literarische Folie sucht, um das Erbe des Kolonialismus zu verstehen und die Zerstörungswut des Kapitalismus, dann muss man diese zeitlos aktuelle Parabel gelesen haben." Frank Dietschreit, rbb Kultur, 24.06.22
"Eines der schönsten, spannendsten und, vor allen Dingen, psychologisch interessantesten Bücher." Raoul Schrott, SRF1 Literaturclub, 31.05.22
"Conrad erzählt nicht nur mit großer psychologischer Genauigkeit von den dramatischen Konsequenzen einer moralischen Verfehlung, er betont vor allem immer wieder, dass der Mensch ein undurchschaubares Wesen ist." Holger Heimann, WDR3 Lesestoff, 06.07.22
"Conrad ist wirklich ein ungemein raffinierter Erzähler ... Wenn man heute eine literarische Folie sucht, um das Erbe des Kolonialismus zu verstehen und die Zerstörungswut des Kapitalismus, dann muss man diese zeitlos aktuelle Parabel gelesen haben." Frank Dietschreit, rbb Kultur, 24.06.22
"Eines der schönsten, spannendsten und, vor allen Dingen, psychologisch interessantesten Bücher." Raoul Schrott, SRF1 Literaturclub, 31.05.22